Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
3. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1922
Bücherschau · Otto Flake, Paul Feldkeller
Überhaupt erkenne ich immer deutlicher, wie wenig die sogenannte Originalität (nicht im Sinn von Ursprünglichkeit, sondern von Neuheit oder Einzigartigkeit) zu bedeuten hat. Nicht nur die tiefsten Wahrheiten sind zu aller Zeit dieselben — das zeitliche Gewand, das sie jeweilig tragen, findet sich bei allen tieferen Zeitgenossen in nur geringer Abweichung wieder, weil eben die in-Gleichung-Setzung von Sinn und Ausdruck zu bestimmter Zeit unabwendbar bei allen Ursprünglichen zu ähnlicher Problemstellung führt. Wer ganz Neues, Unvergleichbares vorbringt, beweist damit meist nur, dass er sich verstiegen hat oder überflüssiges will. Was bedeutet es nun unter diesen Umständen, dass jede Epoche nur einen (oder wenige) unsterbliche Vertreter hat? — Dass einer oder wenige die stärkste Wirkung erzielten, und dies hängt zu aller Zeit von zwei Momenten ab: der Ausdrucksfähigkeit und der Magie der Persönlichkeit. Bergson allein wird, wegen seiner unvergleichlichen Ausdruckskraft, unter den vielen, die gestern und heute auf ähnliches hinzielten, seine Zeit überleben; der größte Mensch dieser Zeit und er allein wird schon nach kurzen Jahrhunderten als Symbol des Neuaufstiegs Europas fortwirken; und von den vielen Sinnes-Philosophen dieser Tage winkt dem nur Unsterblichkeit, der die vollkommenste Kongruenz zwischen Sinn und Ausdruck herstellt. Wer dieses sein wird, vermag kein Zeitgenosse mit Sicherheit vorauszusehen. Heute will ich die Aufmerksamkeit auf zwei solche lenken. Otto Flake und Paul Feldkeller. Flakes Pandaemonium
(München 1921, Drei-Masken-Verlag) stellt seiner Intention nach einen sehr interessanten Versuch dar, die Welt nicht nach naturwissenschaftlichen und logischen, sondern nach metaphysischen Kategorien zu verstehen.
Aufgabe der Philosophie ist, die Beziehung oder Abhängigkeit der einzelnen Erscheinung vom Totalen zu untersuchen, ihr zum Recht zu verhelfen(S. 15).
Flakes besondere These ist nun, dass das jenseits der Dinge nicht (im dualistischen Sinne) außerhalb dieser liege, sondern nichts anderes als die Totalität der Erscheinungen sei: die Welt sei ein konzentrisches Phänomen. — Hier handelt es sich nicht allein um einen tiefen Gedanken, sondern tatsächlich um eine grundlegende und zugleich richtige Intuition. Die ersten 30 Seiten des Buches lassen Höchstes erwarten. Leider vermag Flake es nicht, die Spannung des Anfangs bis zum Ende durchzuhalten, und dieser Fehler wiegt in seinem Fall besonders schwer, weil es, rein ästhetisch beurteilt, der höchsten Intensität bedarf, um die Welt als ein Intensives überzeugend darzustellen. Flakes Ideen werden in dieser Verkörperung nicht fortleben; entweder er bringt es selbst später zu größerer innerer Dichtigkeit, oder aber jene werden durch andere und in anderen das gewinnen, was ihnen heute noch fehlt. Immerhin empfehle ich sehr, Flake zu lesen, und zwar gerade aus Weisheitsgründen. Flake ist, wenn nicht seinem Wesen, so doch seiner heutigen Erscheinung nach, mehr Literat als Weiser. Bevor er jenen in sich nicht überwindet — und dies ist keine theoretische, sondern eine praktische Frage —, wird seine Begabung nicht die Früchte tragen, deren Möglichkeit sie ahnen lässt. —
Ist Flake durch Literatentum belastet, so leidet Feldkeller an anerzogener Gelehrtenhaftigkeit, und dieses wirkt in seinem Fall besonders tragisch einerseits, und andererseits wiederum besonders lehrreich, weil Feldkellers Philosophie richtige Sinnes-Philosophie ist, also ihrem Wesen nach einer anderen geistigen Etage angehört, als alle bisherigen. Ich glaube nicht, dass Feldkeller von mir abhängig ist, obgleich er sein wahres Selbst erst seit Fühlungnahme mit meinem Schaffen zu finden begonnen und mein Philosophisches
wie kein anderer bisher verstanden hat; seine Schrift Keyserlings Weg zum übersinnlichen, zugleich eine Einführung in sein Reisetagebuch
(Otto Reichl Verlag) erkenne ich nicht allein als Richtigstes und Verständnisvollstes an, was bis heute über die intellektuelle Seite meines Wesens und Werks geschrieben ward — ich habe selbst durch dieselbe manches zugelernt, denn vieles, was in meiner Sprache Symbol und Bild ist, hat sich in Feldkeller zu abgeklärtem Begriff kristallisiert. Aber wie dem auch sei: Feldkellers Philosophie geht von eben der Einstellung aus, die ich als notwendig fordere, und seine Methode ist so gut, dass ich ihm keine intellektuellen Fehler nachzuweisen wüßte. Nun kommt aber das Tragische: er treibt Sinnes-Philosophie in der Sprache des deutschen philosophischen Epigonentums; so neu seine Intention sei und auch sein Ziel — sein Weg ist der alteingefahrene. Daraus folgt nun unabwendbar die unerhörte Trockenheit gerade seiner Schriften: was vom Leben ausgeht und Leben will, jedoch die Sprache des Anorganischen redet, muss besonders tot wirken. Dies tritt weniger in seiner Arbeit über mich zutage, als in seinen systematischen Schriften — der Idee der richtigen Religion
und der Ethik für Deutsche
(Verlag F. A. Perthes in Gotha). Beide Schriften sind sehr lesenswert; besonders die letztere enthält, trotz der leider etwas geschmacklosen Einkleidung, eine Fülle wichtiger Gedanken. Aber in dieser Fassung können und werden sie nicht fortleben. Feldkeller ist in seinen Gedanken über die bisherige Schulphilosophie hinausgelangt; nun muss er es auch als Sein, als Wesen tun. Früher wird er den seinen Erkenntnissen gemäßen Stil nicht finden, und der Stil allein ist es, der das Abstrakte lebendig und dadurch wirksam macht. — Auch in der Philosophie sind Tatsachen, also in diesem Fall die abstrakten Erkenntnisse, nicht die letzte Instanz: es kommt darauf an, was sie bedeuten, welchen lebendigen Hintergrund sie haben. Volle geistige Überlegenheit setzt persönliche voraus.