Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

3. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1922

Bücherschau · Lothrop Stoddard, H. G. Wells

Zum Schluss möchte ich die Aufmerksamkeit auf zwei Bücher lenken, die, beide in englischer Sprache erschienen, einer Übertragung ins Deutsche wohl wert sind: es sind dies The rising tide of colour against white world supremacy von Lothrop Stoddard (London 1920, Chapmann & Hall) und The salvaging of civilization von H. G. Wells (London 1921, Cassel & Co.). In diesen beiden Büchern kommt jener praktische Weltüberblick, der den Angelsachsen in seinen besten Exemplaren kennzeichnet, besonders schön zur Geltung. Stoddard zeigt an der Hand erschöpfenden Materials, wie der moderne peloponnesische Krieg, als welchen er den Weltkrieg bezeichnet, die Suprematie der weißen Rasse endgültig erschüttert hat. Trotz allen scheinbaren Gewinns, den jener Europa auf kolonialem Gebiete eintrug, sei dieses in Wahrheit in die Defensivstellung gegenüber dem erwachenden Osten geraten. Nun gelte es zu retten, was noch zu retten ist. Asien müsse den Asiaten unter allen Umständen ganz überlassen bleiben: wir müssten versuchen Europa und Nord-Amerika und womöglich Afrika und Süd-Amerika für uns zu erhalten. Schon dieses werde nicht leicht sein. Es werde nur dann gelingen, wenn die weiße Rasse ihr verlorengegangenes Solidaritätsgefühl wiedergewinnt. Bleibt es beim Nationalitätenhass innerhalb ihrer, dann werde unsere Kultur so sicher untergehen, wie das Edle dem Minderwertigeren überall unterliegt, wo es nicht durch Privilegien geschützt wird. Denn dass der Kampf ums Dasein den Besten zum Sieg verhelfe, sei eine Umkehrung der Wahrheit; den Angepasstesten verhelfe es zum Sieg, und dies sind unter ungünstigen Verhältnissen nicht die Besten, sondern die Schlechten: Parasiten, Eingeweidewürmer, Maden. — Die Lektüre dieses Buches stimmt sehr ernst. Zweifelsohne beginnt jetzt eine Ebbeperiode für die weiße Rasse. Und zwar nicht allein gegenüber den Farbigen, sondern auch in dem Sinn, dass sie unaufhaltsam an Qualität verliert. Der Krieg hat die Besten überall dahingerafft. Dem Nachkriegselend widerstehen die Besten am schlechtesten. Hier gedeiht der Schieber besser als der Edelmann. Wir, mitsamt unseren höchsten Werten, sind nur so zu retten, dass die weiße Welt endlich ihre Solidarität erkennt und innerhalb ihrer das Qualitätsbewusstsein neu erwacht. — Was predige ich anderes? —

Stoddard beschränkt sein Gesichtsfeld auf das des Rassenproblems und kommt doch zum gleichen Ergebnis. Zwar bin ich nicht seiner Meinung von der ausschließlichen Bedeutung der Rasse als Basis der Kultur und der Eugenik als ausschließlichen Rettungsmittels, aber sehr viel Wahres enthält doch auch dieser theoretische und anfechtbare Teil seines Buchs. — Von ungleich höherer Warte aus, obschon im Geist eines niedrigen Niveaus, welcher Widerstreit für diesen merkwürdigen Autor überhaupt charakteristisch ist — er wirkt als Wesen beurteilt, trivial und middle class —, behandelt Wells das gleiche Problem der Rettung unserer Kultur und kommt bezeichnenderweise zum gleichen Ergebnis, dass wir Westländer entweder untergehen oder aber uns zu einer höheren Einheit zusammenschließen müssen. Er geht von der These aus, dass die Grundursache des heutigen Chaos darin besteht, dass unser politischer Organismus den neuen Lebensbedingungen in keiner Weise mehr angepasst sei. Bei der Schnelligkeit der modernen Verkehrsmittel, der wechselseitigen ökonomischen Abhängigkeit, der bald alles Leben gefährdenden Vernichtungskraft der modernen Kriegsmittel seien die bisherigen Staatsgrenzen unhaltbar; entweder sie würden aufgehoben, oder aber wir müssen alle miteinander zugrundegehen. Und die einzig zweckmäßige politische Zusammenfassung sieht Wells schon heute — alle Zwischenglieder überspringend — im Weltstaat. Der Schwierigkeiten, die seiner Konstituierung entgegenstehen, ist Wells sich wohl bewusst. Er glaubt weder an den Völkerbund noch an irgendein ähnliches Palliativ. Belehrt durch die Kriegserfahrungen, will er die Schwierigkeiten nicht von außen, sondern von innen her überwinden: durch Erziehung zu einem Weltbürgertum, dem gegenüber der bisherige Patriotismus ebenso selbstverständlich verschwände, wie der regionale Patriotismus im Nationalstaat aufgegangen ist. — Auf die vorgeschlagenen Mittel, z. B. das einer neuen Bibel, will ich hier nicht näher eingehen; dieses wichtigste aller Wells’schen Bücher muss bald auch in deutscher Sprache vorliegen. Ich persönlich glaube weniger als Wells an die Allmacht der Beeinflussung durch die Schulerziehung, weil letztere im Ganzen doch nur Wissen einflößt und Verstehen allein innerlich verwandelt; deshalb glaube ich mehr an die Wenigen, als an die Vielen, an lange und nicht an kurze Zeiträume und hielte es für wichtiger dass an allen möglichen Orten der Schule der Weisheit ähnliche Institutionen aufsprössen, als dass der noch so richtig erfasste neue Geist durch die Mittel der modernen Propaganda, speziell das Kino, der ganzen Menschheit auf einmal suggeriert würde.

Aber sicher kommen für eine fernere Zukunft auch Wells Heilmittel in Frage; es gibt keines, das alles zu leisten vermöchte, jedwedes muss angewandt werden, und es schadet auch nichts, wenn das Äußere dem Inneren zeitweilig vorauseilt. Eins steht jedenfalls fest: Wells Grundgedanke, dass unser politischer Organismus den neuen Verhältnissen nicht mehr angepasst sei, und dass, solange solche Anpassung nicht einträte, Katastrophe auf Katastrophe erfolgen müsse, ist wahr. Der Nationalstaat als letzte Synthese ist unhaltbar geworden. Und hier wende ich mich denn dem deutschen Sonderschicksal zu. Viele, sehr viele verstehen es nicht, wie ich zugleich nationale und universalistische Ziele verfolgen kann. Die Sache liegt so, dass das Nationalbewusstsein selbstverständlich sein muss, so wie Selbstachtung bei jedem Einzelnen; da es an jenem in Deutschland noch sehr fehlt, so muss es an erster Stelle gepflegt werden, was — zu Deutschlands Beschämung sei es gesagt — bei keinem anderen Volk Europas mehr nötig wäre. Aber die letzte Synthese darf es nicht mehr sein: deshalb wirkt der deutsche Nationalismus reaktionären Geists, wie er leider wieder stark im Erwachen ist, europafeindlich und wird, sollte er wieder zur Macht gelangen, ohne Zweifel die gleiche Feindschaft in der ganzen Welt hervorrufen, wie dies dem Deutschland Wilhelms II. gelang. Freilich soll man national sein, aber auf der Grundlage des tieferen Europäer-Bewusstseins. Gewiss fehlt es den anderen Völkern seit Versailles an jenem höheren Bewusstsein auch: aber sie haben insofern auch keine Zukunft; der französische Nationalismus wird auf die Dauer nur Frankreich schaden. Ferner haben sie gesiegt; deshalb können sie sich zeitweiligen Rückschritt leisten. Deutschland nun hat Zukunft genau nur insoweit, als es den anderen voranschreitet. Nationalistische Politik à la Wilhelm II. oder Frankreich und Polen wird nie mehr zu gutem Ende führen, weil Europa als solches das politische Atom der Zukunft ist; es wird dies entweder anerkennen oder zugrunde gehen. Wie sollte da der, welcher Deutschland wohlwill, nicht gegen dessen verjährten Nationalismus sein? Der Geist Ludendorffs wird es nie wieder hochbringen. Seine materielle Macht ist fort; sie wird nur wiederkehren, wenn zuerst die moralisch-werbende entsteht. Die aber kann dann allein erwachen, wenn in Deutschland das europäische Bewusstsein zur Grundlage des nationalen wird. — Leider begreifen dies die wenigsten. Den Europäern fehlt es meist an Nationalgefühl, den Patrioten an Weitblick. Solche Arbeitsteilung ist verhängnisvoll. Aber gerade weil Deutschland, dank der Niederlage, an seinem Fehler dauernd leiden wird, was den anderen nicht widerfährt, hat es die größte Zukunftsmöglichkeit. Ein Wiedererstehen des alten Sinn Fein Deutschlands ist ausgeschlossen. Aber entsteht einmal Europa, was durch den Zwang der äußeren Verhältnisse sehr bald geschehen kann, dann wird Deutschland dazu innerlich vorbereiteter als die anderen erscheinen und damit einen ungeheuren Vorsprung gewonnen haben.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME