Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

4. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1922

Bücherschau · Messiaserwartung

Die Betrachtung des Judentums lenkt meine Aufmerksamkeit nicht unnatürlicherweise auf die Tatsache, wie viele Bücher neuerdings über die Persönlichkeit Jesu erscheinen. Unzweifelhaft hängt dies zu einem nicht geringen Teil mit der Messiaserwartung zusammen, die sich heute überall auf Erden, wo Erlöserglaube Wurzel fassen kann, unaufhaltsam ausbreitet. Zuerst begegnete ich ihrer Gesinnung in Adyar (vgl. den betreffenden Abschnitt meines Reisetagebuchs). Der Messias designatus von dort, J. Krishnamurti, ist heute Präsident des Order of the Star of the East — eines Ordens, dessen Aufgabe darin besteht, dem Kommenden den Weg zu bereiten, dessen Mitglieder nach Tausenden zählen und eine bedeutende Propagandatätigkeit entfalten. Auch eine besondere Zeitschrift, The Herald of the Star (Redaktion 6, Tavistock Square, London WC. 1), gibt der Orden heraus. Rudolf Steiner prophezeit die Wiederkunft Christi im Ätherleib, und unzählige Einzelne hegen aus rein persönlicher Eingebung eine ähnliche Erwartung, unter diesen kein geringerer als Sabatier, der Verfasser des wunderbaren Buchs über den heiligen Franz.

Eigentümlicherweise erwarten auch die meisten das Erscheinen des neuen Messias um die gleiche Zeit — im Laufe der nächsten zehn Jahre — gleichviel, ob es sich um Christus oder einen neuen Erlöser handeln soll. Ein Hellseher erklärte mir neulich diesen Tatbestand, der auch ihm Glaubensinhalt war, durch das Dasein eines Spannungszustandes zwischen unserer und der Sonnenwelt, wie ein gleicher seit Christi Auftreten nicht vorkam: ein Funke müsse bald von dort auf die Erde herüber springen; der, welchen er träfe, werde eben zum Träger des neuen göttlichen Impulses… Ich enthalte mich jedes Urteils, freue mich bloß dessen, dass ich menschlicher Voraussicht nach Gelegenheit haben werde, festzustellen, ob die Erwartung irgendwie begründet ist. — Also die erneute Messiaserwartung ist zweifelsohne eine Ursache der vielen Bücher, die neuerdings über Jesus Christus geschrieben werden. Aber sie ist nicht die einzige: die wichtigste ist wohl die (auf dem Hintergrunde des mechanisierten Sterbens der Weltkriegszeit) neu erwachte Sehnsucht nach aus der Tiefe beseeltem Menschentum; es ist also der Mensch Jesus, welcher obengenanntes Interesse bannt. Der erste in Deutschland wohl, der den Akzent dem neuen Zeitgeist entsprechend umverlegte, war H. S. Chamberlain; in seinen verschiedenen Schriften steht sehr Schönes über den perfectus homo zu lesen. Aber die beste mir bekannte Arbeit dieser Art ist zweifelsohne Karl Weidels Charakterstudie Jesu Persönlichkeit (3. Aufl., Halle a. S. 1921, Carl Marhold). Ich empfehle sie besonders, weil sie den Willensmenschen Jesus ins rechte Licht setzt und sein Bild von der sentimentalischen Übermalung, an der Jahrhunderte nur allzu erfolgreich gearbeitet haben, mit ebensoviel Mut wie Verständnis gereinigt hat. Große Erneuerer müssen herb und hart sein: sonst können sie nicht wirken; wahre Menschenfreunde empirisch menschenverächterisch: sonst können sie nicht helfen. — Sehr merkwürdig ist Giovanni Papinis Storia di Christo (Florenz 1921, Valcchi editore), von welchem Buch schon siebzigtausend Exemplare in Italien zirkulieren; diese Geschichte ist deshalb sehr merkwürdig, weil sie unverkennbar eine Entdeckung Jesu sein will und wohl auch ist. Italien ist heute zweifelsohne das heidnischste Land Europas; wie in dieser Wendezeit allenthalben das Urtümliche und Ursprüngliche seine Geltung wiedererlangt (man denke an die Auferstehung der Iren, Slawen, Finnen, Esten, Letten, der unaufhaltsamen Verdrängung, in Frankreich, der keltisch-römisch-germanischen Oberschicht durch den Typus der alpinen und mediterranen Urbewohner), so erwacht in Italien heute der extrem irreligiöse Geist der Römerzeit. Dementsprechend ist eine Bekehrungstat, wie das Buch Papinis unzweifelhaft eine sein will, nicht bloß ein Bekehrtheitsbekenntnis, in Italien zeitgemäß. — Aber das merkwürdigste aller Christusbücher ist wohl Hans Blühers Aristie des Jesus von Nazareth (Verlag Kampmann & Schnabel, Prien, Obb.). Über seinen besonderen Inhalt will ich hier nichts sagen, weil er mit der wirklichen Persönlichkeit des Nazareners fast nichts zu tun hat; ich nenne es in diesem Zusammenhang nur, weil auch Blüher Jesus auf seine Art zum Sinnbild menschlicher Vollendung erhoben hat, was beweist, wie sehr der Sinn dessen, was dieser zu seiner Zeit anstrebte und verwirklichte, unser aller äußerlich ganz anders geartetem Streben entspricht. Wenn ich das Buch empfehle, so tue ich’s nicht um seines Themas, sondern seines Autors willen. Ich halte die meisten Theorien Blühers für unzutreffend, und sei es auch nur deshalb, weil er alle so radikal und in so extremer Form vertritt, dass sie eben dadurch, sofern sie richtig waren, falsch werden. Er vertritt ferner in besonders übertriebener Ausprägung die Reaktion gegen die wissenschaftliche Ära, insofern er beinahe absichtlich — so scheint es — sinngemäß Richtiges in sachlich unrichtiger Begriffsverkörperung vertritt. Endlich gehört er jener Gattung der Exzentriker an, welche eine zunächst rechtmäßige Opposition gegen das Konventionelle so weit übertreiben, dass sie sich dadurch nicht nur unnötig isolieren — was niemandem frommt —, sondern auch in positives Unrecht setzen. Hier meine ich zumal seine Verherrlichung der Homosexualität, welche freilich unbefangener beurteilt werden muss, als meist geschieht, aber unter allen Umständen etwas Abnormes bedeutet, das als normal nicht hingestellt werden kann, ohne dass dies viele schädigte. Denn das Normale dessen, was Blüher als mann-männlichen Eros beschreibt, ist eben nicht Homosexualität, und die Akzentverschiebung, welche er vornimmt, kann deshalb die Wirklichkeit nur verbilden. Ich gerate überhaupt oft in Verzweiflung über unsere Aufklärer: es gibt Dinge, die nicht ausgesprochen werden dürfen — nicht weil dies indiskret oder schamlos wäre, sondern weil sie, einmal ausgesprochen, das zu sein aufhören, was sie waren. Das Verhüllen und Verschweigen des rein Sexuellen bedeutet insofern anderes und mehr als cant

Aber darüber kann kein Zweifel bestehen, dass Blüher eine der stärksten Persönlichkeiten dieser Tage ist; sein Seelisch-Geistiges hat ein ganz ungewöhnliches spezifisches Gewicht. Wenn er sich harmonischer zur Menschheit eingestellt hätte, so würde er wahrscheinlich Großes bedeuten. So bedeutet er jedenfalls ein Ferment, deren es in Deutschland nur wenige stärkere gibt. Es ist schwer zu sagen, wie viele Bewegungen schon indirekt von Blüher befruchtet worden sind. Von seinen Ideen werden nicht viele in ihrer ursprünglichen Verkörperung fortleben; dazu sind sie meist sachlich zu falsch, auch zu extrem pointiert. Aber sie haben sich schon heute als zeugende Mächte ersten Ranges erwiesen1. Dies gilt zumal von Blühers Erosidee: seit Plato hat vielleicht niemand des Eros Wesen so tief erfasst wie er, des Eros nämlich nicht als der Liebe im menschlichen Verstand, sondern des universellen, dem Logos die Waage haltenden blinden Schöpferprinzips, das sich im menschlichen Fühlen, in Blühers Sprache, als schlechthinnige Verfallenheit und als Bejahung abgesehen vom Wert äußert. Deshalb lese man Blühers Schriften. Man verweile möglichst wenig bei der Frage ihrer Richtigkeit, bekehre sich ja nicht zu ihrer ausgesprochenen Lehre. Doch wer sich unbefangen ihrem Einfluss hingibt — so lesend, wie ich zu lesen lehre2 — bei dem werden neue Geisteskräfte zu keimen beginnen.

1 Ihnen z. B. verdankt Werner Achelis höchstinteressantes Buch Die Deutung Augustins (Prien 1921, Kampmann & Schnabel) den Impuls zur Entstehung.
2 Vgl. die Ausführungen gegen Schluss des Vortrags Indische und chinesische Weisheit meiner Schöpferischen Erkenntnis.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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