Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

Neuentstehende Welt

Einführung · III. Etappe

Der kürzeste Weg zu sich selbst führt um die Welt herum: dieses Motto des Apostel Paulus wurde zum Ansatz seiner Selbstsuche. Wenn das erlebende und wirkende Subjekt des Menschen die innere Leere, die Intensität des Seins bedeutet, dann müssen alle Wege zur Vollendung gleich sinnvoll und berechtigt sein. Systematische Philosophie im Verstand eines begrifflichen Spinnennetzes wird zum Unsinn, keine Weltauffassung ist tiefer als die andere, aber in jeder gibt es Menschen, die zum Sinn durchgestoßen sind und andere, die an der Wortebene haften.

In Indien wurde meinem Vater die subjektive Wahrheit zugänglich, die ebenso Kriterien unterliegt wie die objektive der Wissenschaft, verdeutlicht im Begriff des viveka. Wenn das Durchstoßen nicht zum Ziel der Bemühung wird, bleibt der Mensch ewig an der Oberfläche; erreicht er aber seinen Wesenskern und damit auch den Weltenursprung, dann werden alle Aussagen zu Wegweisern zur subjektiven, inneren Wahrheit.

Diesen gemeinsamen Urgrund bestimmte er unter dem Eindruck der Begegnung mit China als SINN. Wie der Inder sich persönlich dem All einzugliedern versucht, strebt der Chinese nach Einklang der Gesellschaft mit der Natur; der Begriff des Tao wurde von seinem Freunde Richard Wilhelm mit Sinn übersetzt, als dessen Gegenpol dieser für Te nicht Tugend, sondern LEBEN setzte; ein Leben, für das Tod und Dasein Wechselzustände bedeuten.

Indien verkörpert den subjektiven Weg zum Weltenursprung, China den Einklang der Kultur mit der Evolution, wie dies fünfzig Jahre später Teilhard de Chardin mit seiner Noosphäre deutlich machte.

Aber Sinn und Leben lassen sich nicht statisch vereinigen; es gilt sie dynamisch im Dasein zusammenzufügen. Diese Richtung auf Selbstaktualisierung des Lebens als Kunst erlebte er ästhetisch in Japan, und willensmäßig in der Begegnung mit den USA.

Nur jener, der sich dem Leben wie im Kampfe stellt, kann letztlich zu seinem Wesen durchstoßen. Intellektuelle Philosophie führt zu klarerer begrifflicher Bestimmung, doch die Urausdrücke des Geistes — so wird er später formulieren — sind Mut und Glaube. Diese sind in primitiver Formulierung wie bei den amerikanischen Erweckungsbewegungen oft leichter zu verstehen als bei den Hochreligionen, bei denen die metaphysische Substanz meistens hinter den kulturell-politischen Formulierungen verschwindet.

Die Rückkehr nach Rayküll in Estland, der Weltkrieg mit der Zerstörung seiner bisherigen wirtschaftlichen Lebensgrundlage als Großgrundbesitzer — seit seinem 28. Lebensjahr hatte er sich neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit hauptsächlich der Landwirtschaft gewidmet, — zwang ihn, daran zu denken, die Erkenntnisse des Reisetagebuchs praktisch nutzbar zu machen. Der Großherzog von Hessen lud ihn in Zusammenhang mit dem Verleger Otto Reichl nach Darmstadt ein, um eine Philosophenkolonie als Nachfolge der dortigen Künstlerkolonie ins Leben zu rufen. Dass dies ein Unsinn sei, war Hermann Keyserling sofort klar.

Aber wie könnte man die Erkenntnisse des Reisetagebuchs, der Sinnesphilosophie zum Ansatz eines Lebensstils erheben? Damit beginnt die IV. und entscheidende Periode seines Wirkens, die Gründung der Schule der Weisheit in Darmstadt im Jahre 1920.

Arnold Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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