Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
5. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1923
Zur Überwindung des Bösen durch Gutes · 1. Bücher
Das Problem der Überwindung des Bösen durch Gutes gilt für unpraktisch, weil es metaphysisch sei. Letzteres ist es freilich. Vielleicht öffnen die folgenden drei Nutzanwendungen seiner richtigen Erfasstheit einigen die Augen dafür, dass metaphysische Sinneserfassung die beste Voraussetzung dazu ist, sich gerade den Aufgaben dieses Lebens gewachsen zu erweisen.
Die Bücher sind fraglos teuer geworden. Da sie trotzdem erheblich billigergeblieben sind als die meisten Waren, und zwar über das Verhältnis der Vorkriegszeit hinaus, so ist grundsätzlich nichts dagegen zu sagen. Die Verleger und Buchhändler, von den Autoren zu schweigen, müssen leben. Andererseits verdient ein größerer Teil des Volks, als früher, so viel Geld, dass er sich Bücher kaufen kann. Dementsprechend werden auch tatsächlich mehr gekauft. Wer da Bücher nicht bezahlen zu können behauptet, dafür aber weiter Zigarren und Zigaretten raucht, Wein trinkt und seiner Frau die Mode stetig mitzumachen ermöglicht, beweist damit nur, dass ihm Rauch, Alkohol und luxuriöse Wäsche wichtiger sind als Geist. Insofern verdienen die Meisten derer, die über Bücherpreise klagen, kein Gehör. Im Gegensatz zu den Meisten meine ich sogar, dass ein gutes Buch im privaten Gebrauch nicht billig sein darf. Der Durchschnittsmensch achtet nur das, was er sich entsprechend hat kosten lassen müssen. Insofern ist Verteuerung der Geistesnahrung, so paradox dies klinge, der beste Weg zu deren Verbreitung, weil sie die Schätzung steigert. Dieser Satz gilt gerade heute in besonders großem Umfang, weil ein unverhältnismäßig großer Prozentsatz des Volks auf die Verausgabung großer Summen psychologisch eingestellt ist. Zu welcher Erwägung die andere tritt, dass geistiger Wert unbedingt entsprechend honoriert werden muss. Es ist unanständig, dass Schöpfer und Träger des geistig Höchsten hungern; es ist grotesk, dass einem Kinostern ohne weiteres höhere Ansprüche zugestanden werden, als einem echten Bereicherer der Menschheit. Gewiss besteht kein natürliches und notwendiges Verhältnis zwischen geistigem Wert und dem materiellen Entgelt, in dem seine Schätzung ihren äußeren Ausdruck findet, weil jener als solcher keinen Marktpreis hat; gewiss gehört es zu seinem Wesen, dass er sich gibt, ohne wiedernehmen zu wollen; allerdings ist der Geistesarbeiter selten weltlich-materiell gesinnt. Aber hieraus zu folgern, dass das Geistige billig sein und sein Schöpfer gar darben muss, ist grundverkehrt. In Indien gilt es als Ehrenpflicht, dem Geber von Geistigem freiwillig zu spenden; dort herrscht die wohl glücklichste Gleichung zwischen geistiger Gabe und dem dafür erstatteten Dank. In Europa dominiert die barbarische Gesinnung, dass die geistig Großen auszunutzen seien. Diese muss ausgerottet werden. Und bei der westlichen Geistesart gibt es dazu keinen anderen Weg, als das Geistige, entsprechend seinem Werte, zu verteuern. Der Staatsmann, der Spezialarzt leistet grundsätzlich genau das gleiche, wie der Schriftsteller und Denker, und niemand missgönnt ihm ein seiner Bedeutung entsprechendes Einkommen; dem Virtuosen werden selbstverständlich die höchsten Forderungen zugestanden. Nur gerade das reinst Geistige, materialisiert als Buch, darf nichts kosten.
Die Verteuerung des Buches ist also grundsätzlich zu begrüßen, und zwar gerade aus Gründen der Geistesverbreitung und der Ethik: Höchstes zu nehmen, ohne im Bewusstsein annähernd Entsprechendes wiedergeben zu wollen, ist gemein. Freilich darf dieser Prozess nicht bis zur Grenze der Unzugänglichkeit hinausgeführt werden. Aber es besteht auch keinerlei Gefahr, dass es je so komme, denn Verleger und Buchhändler könnten davon nur Schaden leiden, während den Geistigen in erster Linie an der Verbreitung ihrer Einsichten liegt, sofern sie nur irgend zu leben haben, weshalb solche typischerweise für Verbilligung und nicht Verteuerung des Buches eintreten. Die Geistesschätze müssen fortan als anerkannte Wertgegenstände private Verbreitung finden, nicht anders wie Silber und Gold: dies ist der springende Punkt. In Analogie mit den Edelmetallen und -steinen kann man nun ruhig behaupten, dass sie im Falle höherer Einschätzung, noch einmal, keine geringere, sondern eine größere Verbreitung finden werden als bisher. Der Aufstieg der Unterschichten durch die Weltrevolution hat übrigens ohnehin, im Widerspruch zu aller sozialistischen Doktrin, zur offensichtlichen Folge, dass geistige Arbeit einer Periode höherer Vergütung entgegengeht. Dem einfachen Mann imponiert Kultur und Wissen weit mehr, als dem traditionellen Bildungsträger. Arbeitet er sich herauf, so will er seine höhere Leistung auch entsprechend ausgezeichnet wissen. Die Ausbeutung des Geists entstammt der Gesinnung einer Zeit, in welcher einerseits nur der materiell Unabhängige galt, weshalb Bezahlung als solche erniedrigte, das Geistige als solches andererseits niedrig im Kurse stand.
Die hohen Bücherpreise bedeuten also, solange sie der allgemeinen Verdienstmöglichkeit entsprechen, kein kulturelles Unglück; am wenigsten heute, wo eine Überzahl tatsächlich genug verdient, um, falls sie geistige Genüsse den materiellen vorzöge, in wenigen Jahren eine ausgesuchte Bücherei zusammenzukaufen. Nun besteht aber andererseits kein Zweifel, dass gerade die geistig Hungrigsten und Wertvollsten, zum großen Teil ins Elend geraten, keine Bücher mehr erstehen können. Denen muss geholfen werden. Aber wie kann es geschehen? — Zunächst mache man sich klar, dass zwischen der Möglichkeit, ein Buch zu besitzen und dasselbe zu lesen, wohl unterschieden werden muss. Erstere kann nie soziales Postulat sein; Sozialisierung in diesem Verstande ist nur dann nicht unmoralisch, wenn sie erstens den Schöpfer nicht zum Vorteil anderer benachteiligt, zweitens niemandem ohne entsprechende Gegenleistung Materielles schenkt. Unverdiente materielle Gaben schaden, wo sie nicht Werdenden oder Leistungsunfähigen gelten und kein persönliches Liebesverhältnis durch sie zum Ausdruck kommt, weil auf deren Ebene das Naturgesetz des notwendigen Ausgleichs herrscht. Deshalb ist es freilich richtig, Schöpfer von Geistigem, nach indischer oder europäischer Mäzenatenart, durch Geschenke zu erhalten, weil diese selbst nichts anderes tun, als dauernd schenken, niemals jedoch die Masse. (Vgl. hierzu Schöpferische Erkenntnis, S. 490.)
Die zweite Möglichkeit hingegen ist soziales Erfordernis; es muss das Lesen von Büchern allen denen ermöglicht werden, welche sie selbst nicht kaufen können. Dazu waren von jeher die öffentlichen Bibliotheken da, wie für Kunstwerke die Museen. Also kann vernünftigerweise nur gefordert werden, dass deren Zahl und Bestand zunimmt. — Hier nun mache man sich weiter klar, wie gering an Zahl die Klasse ist, die nicht Bücher kaufen kann und doch derselben bedarf. Man kann sie ungefähr an der Zahl der Exemplare abschätzen, die vor dem Kriege von einem neuen ernsten Buche, das Erfolg hatte, normalerweise abgesetzt wurde: es handelt sich um höchstens zweitausend im Zeitraum von fünf Jahren. Diese zweitausend gerieten dabei zu mindestens siebzig Prozent in exklusiven Privatbesitz. Deshalb kann man fest behaupten: ständen fünfhundert Exemplare der meistverlangten und bedeutendsten neuen und deshalb teueren Bücher zur allgemeinen Verfügung, so könnte bei entsprechender Organisation buchstäblich jeder einzelne geistig Hungrige innerhalb eines Volkes von sechzig Millionen, welcher selbst nicht kaufen kann, gesättigt werden. So ist denn das durch die Teuerung aufgegebene Bücherproblem ein vom materiellen Standpunkt beinahe geringfügiges, auf so wenige Exemplare kommt es an. — Diese müssen nun allerdings beschafft werden — wie kann dies gelingen? — Die Meisten antworten aus alter Routine, Verfasser und Verleger sollen die entsprechenden Opfer bringen; oder aber die wenigen als opferfreudig bekannten Idealisten sollen herhalten; oder endlich der Staat. Dass die Not aus diesen Quellen nicht getilgt werden kann, bedarf keines Nachweises.
Es ist unmoralisch, die, denen Bücher ihr materielles Dasein danken, zu schädigen; Idealisten sind selten reich und, wenn sie es sind, längst über und über in Anspruch genommen; der Staat endlich ist bankrott. Hier setzt denn das Problem der Überwindung des Bösen durch Gutes ein: die als Idealisten bisher nicht bekannten unter den Großverdienenden, deren Zahl Legion ist, sollen das Nötige stiften. Diese hierzu zu bewegen, hält nun gar nicht schwer. Dank ihrer Arbeit Reiche, im Gegensatz zu den Rentnern, sind selten geizig; sie können es gar nicht sein, weil nur Großzügigkeit zu großen Gewinnen führt. Dementsprechend sind sie physiologisch schenkungsfreudig; die Freigebigkeit der Rockefeller, Carnegie und Rothschild bedeutet keine Ausnahme, sondern vielmehr ein Typisches, und gerade in Deutschland ist der gute Wille besonders groß, nicht allein bei den Reichen, sondern besonders gerade bei den zahllosen Gutverdienenden. Nur wissen wenige, was sie eigentlich tun sollen. Wer da gibt, wünscht berechtigterweise, dass seine Gabe auch etwas bedeute; auch auf dem Gebiet der Wohltätigkeit will keiner bloß Nummer
sein, und da jeder nicht gerade Darbende heutzutage ohnehin viel, unter moralischem Zwang, für solche gemeinnützige Unternehmungen hergeben muss, in deren Rahmen er nur Nummer sein kann, so soll das Wenige, was er darüber hinaus gern opferte, möglichst viel bedeuten. Da ist denn Bücherstiftung das gegebene Scherflein, das grundsätzlich jeder Gutverdienende, auch wenn er sonst schon engagiert ist, gerne darbringen wird, denn in jedem Einzelfälle kommt es auf verhältnismäßig geringfügige Summen an. Man mache dem Betreffenden nur klar, wieviel es bedeutete, wenn er ein Bruchteil dessen, was er an einem Abend oft genug gedankenlos vertut, in Form von ausgewählten Büchern hie und da einem bedürftigen Kreise spendete — wofür ihm jede Ehrung gern als Dank gewährt würde — und er wird selten zögern. Sollte er vorher persönlich nie ein Buch gelesen und für geistige Dinge wenig übriggehabt haben: nachher, durch den gestifteten Segen nachdenklich gestimmt, wird er in vielen Fällen selber tiefer werden… Jede Stadt beherbergt heute Hunderte solcher Persönlichkeiten; jede Landgemeinde jedenfalls mehr als eine. Für keine von ihnen würde die erforderliche Stiftung ein merkliches Opfer bedeuten. Man mobilisiere sie im angeführten Sinn im ganzen Reich, man schaffe die entsprechenden Leserorganisationen, und der geistige Hunger aller, die nicht kaufen können, wäre schnellstens gestillt.
Die Betreffenden, auf die es ankommt, sind tatsächlich unschwer zu erreichen. Gewiss durch keinerlei Zwang, keine staatliche Kulturabgabe
, keine Steuer überhaupt. Desto leichter durch das sanfte überzeugende Wort eines persönlich Bekannten. Unter diesen ist der Buchhändler der wichtigste Mann. Das Publikum kauft erfahrungsgemäß in den meisten Fällen das, was jener empfiehlt; je nach dessen persönlicher Geschicklichkeit kauft es überhaupt. Deshalb ist der Buchhändler, als Geistesverbreiter, vom sozialen Standpunkt viel wichtiger als der Schöpfer und Kritiker. Leider ist sich der Buchhändler seiner Würde noch kaum bewusst; leider ist er meist nichts als Geschäftsmann, und ein schlechter dazu. Aber das muss nicht nur, es wird bald anders werden. Es wird sich allein der Buchhändler auf die Dauer halten, der sein Geschäft versteht, und dazu gehört eben doch ein inneres Verhältnis zu seiner Ware; wer keinerlei besitzt, der kann nicht für sie werben. Es wird ferner nur der auf die Dauer die nötige werbende Kraft entfalten, der sich im sozialen Organismus richtig einstellte. Die Buchhändler sollen sich geradezu als Volksbeauftragte für Geistverbreitung fühlen: sie sollen diese Würde vorwegnehmen, des gewiss, dass die öffentliche Meinung sie ihnen bestätigen wird, sobald sie sich am Erfolge legitimiert hat. Sie sollen feststellen, welche Bücher den Verarmten besonders nottun, und wie viele für jede Stadt oder jeden Kreis, und dann daran gehen, in ihrem begüterten Kundenkreis persönlich dafür zu werben, dass die betreffenden Werke gestiftet werden. Ich kann aus Erfahrung sagen, dass, wo immer diese Anregung mit dem nötigen Geschick und Takt — denn selbstverständlich darf jedem jedesmal nur so viel zugemutet werden, als er verträgt — befolgt wurde, der Erfolg nie ausblieb. Und ich bin fest überzeugt, dass auf diese Weise aller geistige Schaden, den die Teuerung der Bücher bedingt, ohne Schwierigkeit, ja unmerklich abzustellen ist. So allein kann dies überdies ohne Schaden für irgend jemand, vielmehr zu aller Nutzen geschehen. Der Buchhändler wird mehr verkaufen als sonst, Verleger und Autoren erleiden keine Einbuße. Überdies werden sonst vielleicht eingefleischte Materialisten zu einer guten Tat veranlasst, deren schnell erwiesene Bedeutung eine Wendung in ihrem Leben einleiten kann. Selbstverständlich hängt der Erfolg dieses Vorgehens einzig und allein von der persönlichen Initiative des jeweiligen Buchhändlers ab; aber ohne solche geht nichts auf dieser Welt; ohne sie soll auch nichts gehen, denn was dank bloßer äußerlicher Organisation an Gutem gelingt, bleibt ohne Rückwirkung auf die Seelen. Selbstverständlich müssen alle, die dazu irgendwie in der Lage sind, persönlich mitarbeiten — aber dies ist überhaupt das einzige Rezept, das zur Gesundung eines Volkes gegeben werden kann; solange jeder vom anderen erwartet, dass er das Nötige tue, solange solche Gesinnung noch für anständig gilt, ist nirgends Besserung zu erhoffen. Was aber die Skeptiker betrifft, die von vornherein behaupten, es sei nichts zu machen, so sollten solche als ipso facto verächtlich gelten. Wer etwas für unmöglich hält, wird es selbstverständlich nie vollbringen, Aber nicht, weil es tatsächlich unmöglich wäre — das meiste Unmögliche kann vollbracht werden — sondern weil Skepsis als solche den Schaffensimpuls zerstört.
Dies wäre ein Schulbeispiel der möglichen Überwindung von Bösem durch Gutes. Arbeitsteilung im gleichen Sinn, im Großen betrieben, könnte sogar jetzt, nach Weltkrieg und Weltrevolution, in kurzer Zeit die Welt besser machen, als sie es je früher war. Ein Südamerikaner klagte mir einmal vor, in seiner Heimat gelänge geistige Produktion noch schlecht, dort gälte allein der Peso. Ich erwiderte ihm: So geben Sie uns den Peso! Den Geist werden wir Europäer noch auf Jahrhunderte hinaus zu liefern wissen. Der kann von jungen Kulturen in gleicher Qualität nicht verlangt werden. Andererseits sind diese schon in der Lage, die Bedeutung von Geistigem zu verstehen. Tritt dazu der Umstand, dass mit vom Überseestandpunkt minimalen Mitteln das mitteleuropäische Geistesleben, heute weitaus das stärkste der gesamten Welt, zu nie gekannter Blüte gebracht werden kann (mit einer gesicherten Rente von nur tausend Dollar im Jahr, die keinem Schwarzarbeiter drüben genügte, könnte die Schule der Weisheit z. B. ihren Einfluss und ihre Hilfe zu einem Europa umspannenden Kraftfelde steigern) — dann besteht die unmittelbare Möglichkeit, den Unsegen unserer Geldentwertung in wichtigster Hinsicht zu reinem Segen umzuwandeln. Es ist ein barbarischer Standpunkt, zu verlangen, dass jeder Gleiches geben und mit gleichen Mitteln zahlen soll. Jeder soll das geben, was seinem Besten entspricht. Der Geistige soll Geist geben, der materiell Gesinnte Materielles. Wenn beide nur geben, so haben beide im gleichen Sinne recht vor Gott. Der Materialismus des einen, an sich nicht zu überwinden, würde durch die Blüte des Geistes, die er ermöglichte, geheiligt.