Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
5. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1923
Zur Überwindung des Bösen durch Gutes · 2. Die Rolle der Presse
Daß es mit der deutschen Presse, in Anbetracht des hohen geistigen Niveaus ihres Leserkreises, noch schlecht bestellt ist, kann niemand leugnen. Die politische ermangelt in beispiellosem Grad des politischen Verantwortungsbewusstseins. Was aber die geistige Berichterstattung oder die Beurteilung von Geistigem betrifft, so kommt es hier allzu häufig vor, dass ein Journalist keine Verpflichtung fühlt, die Bedeutung dessen, woran er teilnimmt, innerlichst zu erleben und unpersönlich weiterzugeben, als Vermittelungsorgan des Volkes; unverhältnismäßig vielen bleibt ihr eigenes kleines Ich, mitsamt dessen Vorurteilen, die letzte Instanz. Zwar werden die Meisten, die sich durch diese Bemerkung getroffen fühlen, aufrichtig entrüstet erwidern: sie geben eben ihre Überzeugung wieder. Aber das ist es ja eben: sie kommen mit persönlicher Überzeugung dort, wo eine mediale Einstellung die einzig sinngemäße ist; sie kommen mit Ansichten, wo Einsichten allein erlaubt sein dürften, denn was ein Pressemann sagt, wirkt notwendig auf Tausende als Suggestion. Wohl referieren sie Tatbestände meistens glänzend — aber wie oft deren Sinn? Niemand gelangt je zu richtigem Urteil, der während des Aufnehmens nicht alle vorgefasste Meinung aufgibt1. Deshalb ist gerade die überzeugungstreue der meisten Korrespondenten, so paradox dies klinge, ihr schwerstes moralisches Gebrechen, denn sie macht sie unfähig zu lernen und insofern gegenüber dem Gegenstande, dessen Sinn sie erfassen sollen, unverantwortlich. Dies erweist unzweideutig die verantwortungslose Politik, welche die meisten Zeitungen betreiben — sie denken nur an den Parteistand-Punkt, nicht das lebendige Volk — und die Befangenheit der meisten Zeitungsurteile in geistigen Dingen. Viel mag hier mangelnder Vorbildung zugutezuhalten sein, welche ihrerseits dem zuzuschreiben ist, dass der Journalistenstand in Deutschland noch nicht die ihm gebührende Achtung genießt: der Übelstand bleibt. — Wie ist ihm nun zu steuern? Von den Schriftstellern, die sich der gemeinten Vergehen schuldig machen, ist eine Bekehrung
nur in Ausnahmefällen zu erhoffen. Die Presse als solche zu verwerfen, hat erst recht keinen Sinn: sie ist nun einmal das einzige geistige Organ, das alle erreicht, und deshalb nicht zur Missachtung, sondern zur Höchstschätzung prädestiniert. Ist ihr Niveau zu niedrig, so muss es gehoben werden. Dazu aber gibt es wieder nur den einen Weg, das Böse durch Gutes zu überwinden, was hier bedeutet: in den Besten die Verpflichtung zu erwecken, sich eben dieses Organs zu bedienen. Die amerikanische Politik ist im allgemeinen ein häßliches Geschäft, weil sich anständige Menschen dort in der Regel von ihr zurückhalten. Die Presse ist deshalb vielfach noch so schlecht, weil sie vorzüglich die Tribüne unzulänglicher Schreiber darstellt. In beiden Fällen ist Abhilfe nur dadurch, so aber aufs schnellste, möglich, dass sich die Besten dort betätigen, wo bisher die Schlechten vorherrschten.
Nur ausnahmsweise befassen sich in Deutschland politisch wirklich Befähigte mit Zeitungsschreiberei. Umgekehrt können sich in England und Frankreich nur solche — was immer sonst gegen sie zu sagen sei — in den Redaktionen halten. Dieser Zustand ist irgend einmal begründet worden; er besteht fort, weil die Begabtesten mit der Presse dauernde Fühlung behalten. Auch in Deutschland wäre er zu begründen, sobald unsere Einsichtsreichsten grundsätzlich gleiches täten, denn es gibt sie auch hier. Also muss er begründet werden. Und ebenso würde die Verantwortungslosigkeit in der geistigen Berichterstattung und Beurteilung baldigst aufhören, wenn die Verantwortungsbewussten sich verpflichtet fühlten, mit ihren Gegenpolen die Konkurrenz aufzunehmen, wenn zum Beispiel jede Entgleisung auf geistigem Gebiet die Wissenden sofort veranlasste (ohne Kampfstellung natürlich, die nie nützt), für das Richtige einzutreten.
Nur so kann Schlechtes überhaupt besser werden. Warum ist nun vieles in diesen Zusammenhang Hineingehörige gerade in Deutschland besonders schlecht, wo das geistige Niveau im Sinn des Interesses und Wissens ein höheres als anderweitig ist, und das menschliche im Verstand der Überzeugtheitsforderung bei aller Betätigung besser? Dies liegt daran, dass es in Deutschland besonders viele unter den Besten als ihrer einzig würdig ansehen, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen. Wie sehr es sich hierbei — der Übersteigerung eines allgemein-europäischen Fehlers — um mehr als einen solchen, nämlich eine echte Sünde handelt, wurde mir schmerzhaft deutlich beim Besuch Rabindranath Tagores.
Als echter Inder glaubte dieser dadurch allen Besten zugänglich zu werden, dass er sich möglichst viel an allen zugänglichen Orten, den Vorhallen der Hotels etwa, aufhielt: da würden die Berufenen ohne weiteres zu ihm finden. Tatsächlich fanden nur Reporter und Zudringliche so den Weg zu ihm, während alle Besseren sich zurückhielten. Statt dessen wäre es offenbar das Richtige gewesen, wenn die Besten gekommen und die innerlich Rohen durch ihr Wu Wei verscheucht hätten, wie dies in Indien unter gleichen Verhältnissen selbstverständlich geschieht. Es wird in Europa niemals besser werden, solange die Besseren ihr besseres Wesen und Wissen nicht bewusst überall, wo dies nottut, herausstellen, ohne falsche Bescheidenheit; Qualität kann im äußeren Leben niemals siegen, wo sie dem Schlechten freiwillig die Vormacht überlässt. Zu letzterem neigt der Deutsche mehr als jeder andere Mensch. Sollte das heutige furchtbare Schicksal seines Volks ihn nicht endlich zur Ein-Sicht bekehren, dass es nichts als Feigheit bedeutet, dieser Neigung nachzugeben? Ein bekannter, bei allen, die in Frage kommen, typischerweise gut eingefahrener psychologischer Mechanismus lässt die Zurückhaltung allerdings gewöhnlich als Tugend erscheinen; dies geht in Deutschland so weit, dass Wirken ins Große und im Großen als solches leicht scheel angesehen wird und der bedeutende Mensch am meisten moralische Anerkennung findet, der die Öffentlichkeit am meisten scheut. Aber hier handelt es sich um ein grundsätzliches Missverständnis. Bescheidenheit ist Laster überall, wo sie durch ihr Dasein Minderwertiges fördert; mag sie noch so verständlich
(was ist nicht verständlich?), oder sympathisch
(als ob bürgerliches Behagen einen Wertmaßstab abgeben könnte!) sein, dies ändert nichts an obigem Sachverhalt. Für die Vorliebe, im Stillen allein zu wirken, für die Scheu vor der Öffentlichkeit an sich ist nicht das Mindeste anzuführen, sie ist nur gegebenenfalls zu entschuldigen durch vorhandene Überempfindlichkeit. Denn alle Entscheidungen von nationaler und sozialer Bedeutung finden allein in der Öffentlichkeit statt. Gewiss haben stillwirkende Einzelne und exklusive Gemeinschaften ihre hohe Bedeutung, nämlich als Wegbereiter: historisch Entscheidendes geschieht niemals durch sie. Deshalb haben die Wertvollen die unmittelbare Pflicht, durch Wirken in der Öffentlichkeit den nötigen suggestiven Einfluss auf ihre Mitwelt auszuüben, denn üben sie solchen nicht aus, so tun es die sonst gerade Sichtbaren2. Geheimtun, Sich abschließen seitens eines berufenen Kreises mag leicht eine Wendung zum Besseren um Jahrhunderte verzögern. Und zwar verstehe ich unter Öffentlichwirken am wenigsten Bücherschreiben. Die Besten sollten gerade persönlich eingreifen. Man meditiere in diesem Zusammenhang die eine kleine Tatsache, dass alle großen Impulse von solchen ausgegangen sind, die keine Bücher geschrieben, sondern mündlich gelehrt haben… Um nun zum Schluss auf die Presse noch einmal zurückzukommen: In Anbetracht ihrer ungeheueren Bedeutung kommt heute alles darauf an, durch Kumulieren des Guten in ihr dem Schlechten in allen maßgebenden Stellungen den Lebensraum zunehmen. Deshalb sind die von Hause aus Zurückhaltenden gerade die, welche zum Bearbeiten der öffentlichen Meinung vor allen moralisch verpflichtet erscheinen.
1 | Vgl. hierzu den Aufsatz Von der einzig förderlichen Art des Aufnehmens im 3. Heft dieser Mitteilungen; ferner über die besondere Verantwortung der Presse: Schöpferische Erkenntnis S. 496. |
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2 | Die Wahrheit, dass nur suggestive Beeinflussung Geschichte macht, habe ich im Kapitel Der Weg der Schöpferischen Erkenntnis des genaueren ausgeführt. |