Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

5. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1923

Bücherschau · A. Wolkoff-Mouromtzoff

Da ich im ersten Abschnitt dieser Bücherschau Wolkoffs gedachte und dieser in weiteren Kreisen nahezu unbekannt ist, will ich die Rezension hier wieder abdrucken, die ich im Juli 1914 über sein Kunstbuch veröffentlichte — der Ausbruch des Weltkriegs verhinderte deren Weiterwirken wie überhaupt den Erfolg des Werks. Vorausbemerken möchte ich hier das Folgende: Wolkoff ist der Mann, dem ich in meinen entscheidenden Entwicklungsjahren, nächst H. S. Chamberlain, am meisten verdanke. Wies dieser mir den Weg zur Universalität, zeigte er mir durch sein Beispiel, wie es gelingen kann, eine widerspruchsreiche Vielfalt von Anlagen zu schöpferischer Einheit zusammenzufassen, so danke ich Wolkoff vor allem die Ausbildung des Triebs zu klarer Fassung und zur Überwindung des à peu près, des Ungefähr. Ich kenne keinen rein kritischeren Geist als ihn. Wie ich im Herbst 1905, von schwerer Krankheit genesen, mit der Drucklegung des Gefüges der Welt beschäftigt, in Venedig mit Wolkoff zusammentraf, da erkannte ich sofort, dass gerade sein Einfluss, nach Durchlebung desjenigen Chamberlains, mich am meisten fördern würde, und gab mich ihm ein Jahr lang geistig vollkommen hin. Die Schule war hart; aber sie war segensreich. Gerade weil Wolkoffs Anlage der meinen antipodisch entgegengesetzt ist, hat ihr Einfluss dieser zu beschleunigter Entwicklung verholfen. Dass ich schon 1907 den Inhalt der Prolegomena zur Naturphilosophie im wesentlichen so vortragen konnte, wie ich sie 1910 veröffentlichte, verdanke ich ihm, wie denn der Vortrag vom Ideal des philosophischen Denkens ohne seine Anregung ungeschrieben geblieben wäre. — Doch jetzt folge die Besprechung, die seinerzeit unter dem Titel Ein Kritiker der Kunstkritik erschien:

Es gibt wenig Gegensätzlicheres auf dieser Welt als die Art, wie Maler einerseits, Ästhetiker und Ästheten andererseits über Werke der bildenden Kunst urteilen. Die Künstler haben selten Verständnis dafür, was ihre Schöpfungen geistig bedeuten mögen; sie interessieren sich aufrichtig nur dafür, wie eine Vision verkörpert wird, also für Technik im weitesten Sinn. Umgekehrt erscheint Ästheten das Technische irrelevant im Vergleich zu dem, was vermittels seiner dargestellt wird. Hieraus ergibt sich Unvereinbarkeit der Grundanschauungen überall, wo die Typen einigermaßen rein gezüchtet auftreten und ohne gegenseitige Beeinflussung aufgewachsen sind. Jeder unbefangene Maler und Bildhauer von eindeutigem Talent wird Leonardo da Vincis Trattato della pittura, in dem ausschließlich von Nachahmung der Natur die Rede ist, gegenständlicher finden als die Kategorien, die ein Simmel und ein Berenson bei der Beurteilung von Kunstschöpfungen anwenden, während es diesen nicht auszureden ist, dass Leonardo auf das, was bildende Kunst bedeuten kann, in seiner unsterblichen Abhandlung überhaupt nicht eingegangen ist. Ästhetiker und Künstler urteilen eben von grundsätzlich verschiedenen Gesichtspunkten aus, von denen jeder im Prinzip berechtigt erscheint. Was nun den Wert einer gegebenen Kunstbetrachtung betrifft, so hängt dieses hier wie dort von ihrer Gegenständlichkeit ab — von dem Grade objektiver Einsicht, der in ihr zum Ausdruck gelangt; hier wie dort hat nur das Richtige Wert. Dieses hat denn zur Folge, dass die kunstkritischen Leistungen der Maler, so beschränkt das Feld auch war, das sie beherrschten, im Durchschnitt mehr Wert haben als die der Ästheten; während jene, der Lage ihres Standpunktes gemäß, kaum umhin können, Richtiges zu bemerken, laufen diese ständig Gefahr, an Stelle von Erkenntnissen subjektive Meinungen zu äußern. Da es für ihre Beurteilungsart keinen eigentlich greifbaren Maßstab gibt, sind sie ganz auf ihre ursprüngliche Begabung angewiesen, welche nur ausnahmsweise genügt. So kommt es, dass, während die Schriften nicht allein Leonardos und Dürers, sondern auch vieler geringerer Meister, die sich über ihre Kunst geäußert haben, für alle Zeit das Interesse fesseln, jene der Ästheten mit verschwindend geringen Ausnahmen in kürzester Zeit veralten.
Je nachdem, ob Schöpfer oder Versteher einer Epoche ihnen Charakter verleihen, herrscht die Anschauungsart dieser oder jener vor. Während zur Zeit der Renaissance die der Maler dominierte, überwiegt heute die der Ästheten in einem Grad, der vielleicht einzig dasteht in der Weltliteratur. Sie dominiert so sehr, dass auch unsere heutigen Meister mit seltenen Ausnahmen vom Ästheten, geistimprägniert sind und reden und schreiben, als ob sie keine wären. Um so mehr fällt es auf, wenn auf einmal ein Werk erscheint, das dem Geiste nach weit besser zur Renaissance als zum zwanzigsten Jahrhundert passt: A. Wolkoff-Mouromtzoffs monumentale Studie: L’à peu près dans la critique et le vrai sens de l’imitation dans l’art (Bergamo 1913, Officine dell’istituto italiano d’arti grafiche). In diesem Buche herrscht eine Atmosphäre ebenso rein malerischer Sachlichkeit wie in Leonardos Trattato della pittura. Im übrigen aber bedeutet es ein literarisches Unikum: in ihm setzt sich ein lionardesker Geist mit der modernen ästhetisierenden Kunstkritik auseinander.
Wolkoff-Mouromtzoff — heute ein Siebziger — begann seine Laufbahn als Naturforscher. Sein außerordentliches Beobachtungsvermögen, gepaart mit einer gleich großen Fähigkeit zum analytischen Denken, stellte ihn schon als Zwanziger in die vorderste Reihe der Botaniker seiner Zeit. Allein äußere Umstände verhinderten ihn dann, seine so glänzend begonnene Laufbahn fortzusetzen. Er musste zurück nach Russland, sich praktischen Aufgaben zuwenden. Wie er wieder nach dem Westen kam, da tat er es als Maler. Er hatte, unbemittelt, eine Familie begründet; er hatte gefunden, darunter seinen vielen Talenten das zur bildenden Kunst ihm zum anständigen Unterhalt der Seinen die meisten Möglichkeiten in Aussicht stellte. So legte er sich mit seiner ganzen eisernen Energie auf die Malerei und war bald einer der geschätztesten Aquarellisten seiner Zeit (die meisten seiner Bilder befinden sich, mit dem Pseudonym Russow gezeichnet, in englischem Privatbesitz). Er selbst freilich hielt niemals viel von seiner Kunst. Er behauptete immer, eigentlich hätte er gar kein Talent zur Malerei; was er darin leistete, verdanke er ausschließlich seiner kritischen Befähigung. Er liebte die Kunst der Alten viel mehr als seine eigene und gab das Malen (weit über ein Menschenalter später freilich!) leichten Herzens in dem Augenblicke auf, als eine Erbschaft ihn der materiellen Sorgen enthoben hatte. Ihn freute vor allem, als echten Naturforscher, der er geblieben war, die Feststellung des Wie und Warum, wie in allen Fragen, so auch in denen der Kunst. Und einzig war er im Analysieren. Wer das Glück gehabt hat Wolkoff zuzuhören, wird sich nicht wundern, dass Wagner und Liszt, Rubinstein und Tolstoi, Pettenkofer und Whistler seine Konversation wie die nur weniger anderer genossen haben: ihm ist es gegeben, in glänzend lebhaftem Vortrag jede subjektive Impression auf ihre Ursachen zurückzuführen, er versteht es, jedes unbestimmte Gefühl zu klarer Einsicht aufzuhellen. Um so weniger konnte ihm das vage Ästhetisieren gefallen, das er um sich her mehr und mehr zur Herrschaft gelangen sah. Er erblickte in ihm eine unmittelbare Gefahr. So entschloss er sich denn, sobald seine Zeit durch Malen nicht mehr in Anspruch genommen worden war, einem größeren Publikum das mitzuteilen, was er so oft im vertrauten Kreise geäußert hatte. Als Frucht fast zehnjähriger Arbeit liegt heute das Werk L’à peu près dans la critique et le vrai sens de l’imitation dans l’art vor.
Es hat alle Vorzüge eines Werks, das die geläuterte Essenz langjähriger praktischer Erfahrung enthält. Es bringt die Sondergabe Wolkoffs schlicht und klar zum Ausdruck. Wolkoff hat es sich zur Aufgabe gestellt, zu untersuchen, welche objektiven Kriterien bei der Beurteilung von Werken der bildenden Kunst in Frage kommen; er hat zu zeigen versucht, worauf es beim Malen ankommt, sowohl was die Begabung als was die allgemeine Technik und das zu erreichende Ziel betrifft; er hat hinsichtlich der vagen Begriffe Schönheit, Genie, Nachahmung, künstlerische Wirksamkeit, Geschmack, Inhalt, Ausdruck, Vortrag zu zeigen versucht, welcherlei empirische Verhältnisse sie umschreiben. Und meiner Überzeugung nach hat er es wirklich gezeigt. Mit der Hellsichtigkeit eines Leonardo, mit der Verstandesklarheit eines Voltaire hat er diese dunklen Probleme durchleuchtet, so dass jeder, der sich unbefangen seiner Führung überlässt, reichen Gewinn davonträgt. Aber unbefangen muss er freilich sein, denn Wolkoffs Anschauungsart steht im diametralen Gegensatz zu allen, welche heute modern sind. Er schreibt rein vom Standpunkt des Malers aus, wie Leonardo und Dürer dies getan haben; ihm fehlt jedes Verständnis für die andere Seite. Weder Berenson noch Adolf Hildebrand (von den Ästheten ohne Fachkenntnisse zu schweigen) weiß er gerecht zu werden. Insofern ist sein Urteil häufig ungerecht. Aber falsch ist es gleichwohl nie. So wenig er häufig den Zusammenhang versteht, so klar ist das einzelne aufgefasst. Und um dieses einzelnen willen sollten gerade die Ästheten, welche Wolkoffs Grundanschauungen zu teilen am wenigsten in der Lage sind, sein Buch am sorgfältigsten studieren. Wolkoff zeigt an der Hand unzähliger Beispiele, wie außerordentlich mangelhaft die Beobachtungen sind, auf denen viele der berühmtesten Kunstkritiker ihre Betrachtungen im Urteil begründet haben, er zeigt ferner, wie solche Fehler die Urteile entwerten. Er beweist mit vollendeter Überzeugungskraft, wie vieles von dem völlig halt- und grundlos ist, was heute als Evangelium der Kunst geglaubt und gepriesen wird. Das sind Lehren, die kein angehender Kunstkritiker unbeherzigt lassen sollte. Wohl wird ihn manches erstaunen, ja entsetzen, was er bei Wolkoff lesen wird. Aber wenn er dann entdeckt, dass dieser aller wahrhaft großen Kunst von seinen Voraussetzungen aus durchaus gerecht wird, und dass die ganzen 500 Seiten hindurch kein einziges unbegründetes Urteil gefällt wird, dann wird er, falls er einsichtsfähig ist, auch einsehen, dass Wolkoffs Werk, trotz seiner Einseitigkeit, von schwer zu überschätzender Bedeutsamkeit und von bleibendem Werte ist. —

Seit dem Kriege habe ich seinen Verfasser nicht wiedergesehen. Er lebt noch (dies schreibe ich im November 1922). Er soll auch wieder malen, denn als enteigneter russischer Grundbesitzer ist er jetzt wieder arm. Sein Geist ist noch genau so frisch wie einst. Wenn es ginge, so ließ ich ihn gern auf einer Tagung reden, denn ganz abgesehen von seiner geistigen Bedeutung: ich kenne wenige Menschen von höherem Persönlichkeitsniveau. Wolkoff ist vielleicht der größte Grandseigneur, den ich jemals sah, hierbei aber handelt es sich um keinen besonderen Vollendungstypus, sondern ein allgemeingültiges Menschheitsideal.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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