Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

5. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1923

Bücherschau · Eduard Spranger

Im vorletzten Heft dieser Mitteilungen führte ich aus, wie wenig allein ich in meiner philosophischen Einstellung schon stehe — glücklicherweise, denn dies beweist, dass ich wirklich Menschheits-, und nicht bloß individuelle Probleme vertrete, denn jene klingen immer zunächst als bestimmte Zeitaufgaben an (siehe meine Schöpferische Erkenntnis unter der Registernummer Zeitliches und Zeitgeist), die ebendeshalb jedesmal von einer Vielheit aufgegriffen werden; und wies in diesem Zusammenhang auf Otto Flake und Paul Feldkeller hin. Jetzt (Juli 1922) bin ich mit einem Werk bekannt geworden, dessen Verfasser in noch höherem Grade als die Vorhergenannten von der gleichen Grundproblemstellung ausgeht wie ich, dies in der Tat so sehr, dass ich meinen eigensten Formulierungen nicht selten in ihm wiederbegegne: es ist dies Eduard Sprangers geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit, deren dritte Auflage kürzlich unter dem Titel Lebensformen bei Max Niemeyer in Halle erschienen ist1. Dieses Buch empfehle ich mit besonderer Freude, weil es die streng akademische Arbeit eines ausgesprochenen Gelehrten darstellt, die deshalb allen Anforderungen des Wissenschaftlers standhält, dessen sämtlichen Vorurteilen Rechnung trägt und trotzdem die grundsätzlich gleiche Neueinstellung zu den Problemen der Persönlichkeit und der Geschichte vertritt wie wir, was zu deren historischem Siege nicht unwesentlich beitragen dürfte. Ich bin alles eher als ein Wissenschaftsfeind. Die spezifisch wissenschaftlichen Probleme kann selbstverständlich nur die Wissenschaft lösen; was ich bekämpfe, ist nur die Vormachtstellung des Wissenschaftlers, dessen Rolle auf dem Gebiet des Geists (von dem des Lebens zu schweigen) eine wesentlich bescheidenere sein sollte, als sie es während der letzten Jahrzehnte war (vgl. hierzu, an der Hand des Registers, unter Grenzen der Wissenschaft meine Schöpferische Erkenntnis).

Spranger nun ist Wissenschaftler im besten und edelsten Sinn; im edelsten, weil er, in vornehmer Zurückhaltung, das Gebiet, auf dem seine Anlage kompetiert nie und nirgends überschreitet. Er will nicht Metaphysiker sein, nicht Lebensgestalter, nicht Prophet. Ebendeshalb hat er, als Sinnesphilosoph, das meines Wissens bisher beste über die Seite des Sinnesproblems gesagt, die sein Standpunkt zu überschauen gestattet; d. h. er hat dessen Wissenschaftsseite auf historisch-psychologischem Gebiet exakter als irgend jemand vorher gefasst, sich somit auf seinem besonderen Gebiet um die Kongruierung von Sinn und Ausdruck das bisher größte Verdienst erworben. Wer immer mit meiner Richtung übereinstimmt, in meinen Schriften jedoch die letztlich befriedigende wissenschaftliche Fassung vermisst, den verweise ich zunächst auf Spranger. Nicht dass er in diesem bessere Antworten auf meine Fragen fände, als ich sie gab: ich bin Metaphysiker und praktischer Lebensgestalter vom Geiste her, insofern einerseits dem Religionsstifter, andererseits dem Staatsmann am nächsten, und am entferntesten gerade dem Mann der Wissenschaft verwandt. Was diesem Hauptziel ist, kann mir bestenfalls Hilfsmittel sein. Aber er wird bei Spranger die bisher besten Antworten auf viele der Fragen finden, die einem gelehrtenhaft Eingestellten selbsttätig auftauchen dürften, indem er mich liest.

Ich nun empfehle jenen von meinem Standpunkt aus deshalb so warm, weil seine Antworten die Richtigkeit meiner Intuitionen durchaus bestätigen. Ob Spranger nun der gleichen Überzeugung sein wird? — Das weiß ich nicht. Jeder Wissenschaftler ist notwendig Grammatiker (so wie ich dies Wort verstehe); ihm bedeutet deshalb ein Unterschied im Buchstaben typischerweise einen Wesensunterschied. Von meinem metaphysischen und auf die praktische Neuformung des Lebens bedachten Standpunkt aus sind alle nur möglichen Buchstabenunterschiede irrelevant. Deshalb konnte ich mich, als einige hochgelehrte Herren auf der letzten Tagung der Kant-Gesellschaft zu Halle mich darüber belehrten, meine Behauptung, dass Ernst Troeltschs Geschichtsphilosophie, nach seinem dortigen Vortrag zu urteilen, der meinigen immer näherkäme, träfe nicht zu, denn… eines leisen Lächelns nicht erwehren; deshalb würde ich meine Empfehlung Eduard Sprangers als eines Mitarbeiters dann sogar aufrecht erhalten, wenn dieser sich ausdrücklich dagegen verwahrte. Außerordentlich viele Einzelprobleme, die ich nur streifen konnte, finden in dessen Lebensformen ihre auch von meinem Standpunkt sinngemäße Lösung2. Deshalb, noch einmal, lese jeder dieses schöne Werk, der für die Philosophie des Sinnes ein Organ besitzt. Es wird ihn in der Richtung gerade des Darmstädter Impulses fördern, sofern er nur eines nicht vergisst, dass die letzte begriffliche Klarheit an sich allein noch keine Erfüllung bedeutet. Um zu verdeutlichen, worauf ich hier hinziele, wüßte ich nichts Besseres zu tun, als ein Grundergebnis der Kulturforschung von Leo Frobenius zu zitieren, aus dessen Paideuma (München, C. H. Beck, S. 119 ff.):

Ideen entstehen dämonisch aus der Wesenheit des Paideuma. Sie sind somit lebendige Elemente des Paideuma, die sich von Zeit zu Zeit in Begriffen verkörpern und dann während der Periode der Auswirkung ihrer begrifflichen Formen in einen Schlafzustand verdämmern, der einer Erstarrung gleicht. Ideen sind also paideumatische lebendige Wirklichkeit, Begriffe paideumatische starre Tatsachen. Aus den tatsächlichen Begriffen und ihren Spielformen sind die Ideen als hinter dem Vorhang des Begriffsvermögens lebende Wesenheiten zu erfassen… Im innersten Wesen ist es dasselbe, ob eine Idee paideumatisch-kulturelle Begriffe ausscheidet, die als Totes dem Leben nur noch in der Weise dienen, dass sie die lebendige Idee als solche schützend umhüllen, oder ob eine Pflanze eine Rinde bildet, die als leblos gewordene abgenutzte Materie demnach das der Außenwelt unsichtbar wirkende Leben umkleidet… Begriffe sind den übrigen Tatsachen gleichzustellen und die Ideen als paideumatische Wirklichkeit aufzufassen. —

Das Kommentar zu diesem Satz enthält der erste Aufsatz dieser Mitteilungen. Was ich will und betreibe, ist, dass ein neues Paideuma, d. h. eine neue höhere Kulturseele entstehe. Deshalb bringt die beste Begriffsfassung der theoretischen Seite meiner Bestrebungen, welche ein anderer noch so viel besser als ich gäbe, meinem Ziel an sich nicht näher.

1 Seit ich dies schrieb, ist ein weiteres Werk ähnlicher Tendenz erschienen, das, obschon nicht annähernd so bedeutend wie das Sprangersche, die Lektüre wohl verlohnt: es ist dies Julius Schultz’ Philosophie am Scheidewege (Leipzig, Felix Meiner).
2
Hier will ich auf keine Einzelheiten eingehen, damit der Leser ja Spranger selbst zur Hand nehme. Nur eine Satzfolge will ich hier zitieren, weil sie eine willkommene Ergänzung meiner Betrachtungen über das Problem der Homosexualität im letzten (vierten) Heft dieser Mitteilungen darstellt:
Jeder ausgesprochene Ästhetiker ist ausgesprochener Erotiker. Und zwar scheint es, als ob die Erotik der reflektierenden Seele dem Naturhaften, Jugendlichen gelte, während umgekehrt das Naive dem Gedankenschweren entgegenstrebt. Jeder sucht die Formkräfte, die ihm fehlen. Die Verflechtung dieser Erotik mit der Sexualität ist nicht zu leugnen. Eine geheime Verbindung zwischen den plastischen Kräften der Seele und des Leibes liegt vor. Aber die Erscheinungsform im Bewusstsein kann rein seelisch sein, und sie ist es in der Regel bei jugendlich reinen Naturen, bei denen die erotische Phantasie immer viel mächtiger ist als der leibliche Zeugungstrieb. Damit hängt es zusammen, dass gleichgeschlechtliche Erotik als geistiges Phänomen durchaus normal ist. Denn zur Erotik gehören nur zwei verschiedene geistige Prinzipien, von denen das eine die männliche, das andere die weibliche Rolle spielt. (S. 159 ff.)
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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