Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
5. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1923
Bücherschau · Stefan Zweig — Drei Meister
Die Leser meiner Schriften finden sich wieder und wieder auf Russland hingewiesen. Allein die meisten können aus den kurzen Andeutungen nicht ganz verstehen, wie ich es meine; allzu fremd ist der russische dem europäischen Geist. Jener bedarf zunächst der Überleitung in unsere Verstehenssphäre, und solche kann natürlich allein durch europäische Geister geschehen. Das Verständnis des Bolschewismus hat unter solchen niemand mehr gefördert als Harald von Hoerschelmann in seiner schon oft empfohlenen Broschüre Person und Gemeinschaft (Jena, Eugen Diederichs); den Sinn der Konvergenz von Europas jüngster Entwicklung mit derjenigen Russlands hat Hermann Hesses Heftchen Blick ins Chaos (Verlag Seldwyla, Bern) bisher am richtigsten zur Darstellung gebracht.
Heute nun möchte ich ein Büchlein den bisher empfohlenen zugesellen, das mir eine freudige Überraschung bereitet hat: es sind dies Stefan Zweigs Drei Meister (Leipzig, Insel-Verlag). Was darin nämlich über Dostojewski zu lesen steht, gehört nicht allein an sich zum Tiefsten, was je über diesen geschrieben ward — durch die Hineinbeziehung in einen Zusammenhang mit Dickens und Balzac erhält seine Größe eine Qualifizierung und Spezifizierung, die sie dem Europäer zum ersten Male vielleicht vollkommen verständlich machen wird. Dostojewskis Ungeheuer-Grenzenloses ist oft betont worden. Aber worin unterscheidet es sich von der Allumfassendheit des Napoleons unter den Romanschriftstellern, Honoré de Balzacs, und der Wiederspiegelung des viktorianischen Imperiums in der Literatur, der Komödie Dickens’? Eine glücklichere Fragestellung wäre nicht leicht zu finden gewesen. Stefan Zweig gelangt denn nun, wenn auch in anderen Worten, zur gleichen Bestimmung des russischen Geistes, die ich in meinen Vorträgen schon öfters gab: nämlich, dass er die bisher stärksten von allen je verwirklichten Spannungen verkörpert zwischen den Polen der Menschennatur, verstehe man diese als Gott und Teufel, Geist und Materie, Buchstabe und Sinn oder wie sonst. Balzacs Spannung bedeutete die Konzentrierung aller Kräfte auf ein Ziel, welches praktisch eine ungeheure Vereinseitigung des Menschenwesens nach sich zieht; Dickens Weite
ist, umgekehrt, Funktion des Ignorierens von Spannungen, wodurch ein fröhliches Nebeneinander des sich wesentlich Ausschließenden möglich wird. Dostojewski nun ist schlechthin universell. Keine Erscheinung also solche schließt er aus, keine Einseitigkeit gesteht er sich zu, und gleichzeitig negiert er keinen Gegensatz. Damit wird nun der Mensch auf einmal — und zwar zum erstenmal in der Geschichte — kosmisch weit und der Mikrokosmos tatsächlich zum Spiegel des Makrokosmos. Bei Dostojewski, beim Russen, bei Russland überhaupt, bedingt dies einen chaotischen Zustand. Doch zieht es uns alle nach diesem Chaos hin, weil die allumfassende, die ökumenische Spannung (vgl. Spannung und Rhythmus
) unser aller Ziel, weil die Zeit einseitiger Vollendung als Ideal für immer vorüber ist. Das heutige Russland stellt die erste futuristische Skizze dessen dar, was gleichsinnig (wenn auch jeweilig verschieden) auszuführen der Menschheit allgemeine nächste Zukunftsaufgabe ist. Daher das messianische Bewusstsein des ganzen russischen Volks. Daher die Überzeugung aller seiner geistigen Führer, dass der russische Mensch der eigentlich menschheitliche sei. Ist der Menschheitsmensch einmal tatsächlich erstanden, dann wird von Russland vielleicht nicht mehr die Rede sein, so wie Gleiches von aller jüdischer Sondergeschichte gilt im Schicksal des Christentums. Aber als Sinnbild wird Russland für alle Zeit geweiht bleiben. —
Wem es nun aber, nach dem Erlebnis Dostojewskischer Gespanntheit, dem natürlichen Rhythmus des Lebens entsprechend, nach Friedensstimmung gelüstet, dem wüßte ich heute Besseres nicht zu empfehlen als die Schrift Streeters und Appasamys Der Sadhu, christliche Mystik in einer indischen Seele (Stuttgart-Gotha, 1922, Friedrich Andreas Perthes). Hier tritt einem, in der Gestalt eines Lebenden, das Außerordentliche echt franziskanischen Gottesfriedens entgegen. Franziscus war ein Armer im Geist, auch an seelischen Problemen nicht eben reich; seine Vollendung fand er dementsprechend leicht. Auch der Sadhu ist in keiner Weise interessant. Aber seine Einfalt ist wahrhaft gottbegnadet. Nach kindlicher Unschuld zurücksehnen wird sich kein reifer Mann, kein Zukunftsfreudiger Dostojewskis Problemen ausweichen. Aber gern wird gerade er beim Bild einfältiger Vollendung meditativ verweilen: grundsätzlich anderes will auch er nicht; er arbeitet bloß mit reicheren Mitteln auf Gleiches hin. Und wird deshalb das Erreichnis des Franziskaners, das er von höherer Warte übersieht, desto tiefer würdigen.