Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
5. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1923
Bücherschau · H. Cady — Wahrheit
Eine ganz besondere Freude verdanke ich einem Teilnehmer der letzten Tagung und der darauffolgenden Exerzitien, der zu den Lehrern und Heilern aus der Gesinnungsrichtung der Christian Science gehört: nächst dem Major Muff, dessen wundervoller, dem Darmstädter Geist auf seine besondere (der meinen dem Buchstaben nach völlig fremde) Art vollendet verkörpernder Vortrag die vielleicht größte Genugtuung meines bisherigen Lebens bedeutet, wüßte ich keinen Schüler, dessen Fall gleich geeignet schiene, zum Schulbeispiel zu dienen. Der Betreffende wusste, aus innerer Erfahrung, dass Mrs. Baker-Eddys Lehre wahr spricht; manche Schwerkranke schon hatte er im Glauben an sie geheilt. In Darmstadt nun lernte er das, was er glaubte und ausübte, zum erstens mal verstehen, und daraus ergab sich ihm, wie bei allem wahrhaft tiefen Verstehen, nicht Aufhebung des alten Gesetzes, sondern vielmehr Erfüllung. Der Weg der christlichen Wissenschaft bezeichnet nun einmal seinen besonderen Weg: sonst könnte er durch ihn, nicht seinen inneren Frieden gefunden haben, sonst aus ihrem Geist heraus nicht segensreich weiterwirken. — Aber allerdings konnte er, als Verstehender, fortan beim Buchstaben von Science and Health als letzter Instanz nicht stehen bleiben, und möglicherweise wird ihn eben dies auf die Dauer von seinen bisherigen Genossen scheiden. Ich würde es sehr bedauern, aber mit den Tatsachen, auch mit nur möglichen Tatsachen, muss unbedingt gerechnet werden. Alle Unterschiedlichkeit, alle Feindschaft spielt sich allein im Bereich der Buchstaben ab; wo der Sinn allein bestimmte, herrschte gleichzeitig allseitige Solidarität. Nun sind alle Bestimmtgläubigen ebendeshalb buchstabengläubig. Deshalb gehört Sektenbildung zum Schicksal jeder Religion. Man führe hier Katholizismus und Mahayana nicht als Gegenbeweise an: in diesen Schlussformen sind die Gegensätze nicht aufgehoben, sondern allein einer höheren Einheit eingeordnet. Intern bestehen sie mit kaum verminderter Schärfe fort.
So stellt sich denn das an der Bewegung des amerikanischen Christentums, was metaphysisch vollkommen eindeutig ist, in der Erscheinung als Schlachtfeld sich wütend bekämpfender Sekten dar. Man sage nur einem Vertreter der New Thought, er glaube wesentlich Gleiches wie der Christian Scientist, und man wird schön ankommen! — Der Buchstabe dieses ist nun freilich besonders unvollkommen; nur geistig primitive Naturen können bei ihm stehen bleiben. Solche sind unter Deutschen seltener als in Amerika. Deshalb bin ich überzeugt, dass hier der gleiche Impuls seine Dauerform in einem philosophisch befriedigenderen Ausdruck finden wird; vielleicht findet diesen eben der Christian Scientist, der mir den Anlass zu dieser Betrachtung gibt. Er selbst machte mich, als seiner Meinung nach besonders gut, auf das Büchlein Wahrheit H. Cadys (deutsch im Lotos-Verlag, Leipzig) aufmerksam. Dieses möchte auch ich allen denen empfehlen, welche, Christen im Herzen, mehr als Gläubige denn als Denker veranlagt, philosophischer Besinnung dennoch fähig, vom Geist her bessernd und steigernd auf sich selber einwirken wollen. Es ist nämlich grundsätzlich richtig, was hier zu lesen steht, völlig unabhängig von der verwendeten Mythologie, und so überzeugt geschrieben, dass es manchen, der theoretisch zweifeln möchte, zum Entschluss bringen wird, mit der Selbststeigerung, zunächst versuchsweise, praktisch anzufangen. Es ist, noch einmal, ganz gleich, ob man die metaphysischen Anschauungen Cadys anerkennt oder nicht: seine praktischen Hinweise als solche führen weiter. Die erforderliche bessere Theorie wird jeder Versteher meiner Schriften leicht von selber finden: wieso die Behauptungen
der Christian Science heilen können, geht implizite aus Erscheinungswelt und Geistesmacht und den Betrachtungen der Schöpferischen Erkenntnis über die Tatsache, dass das Gute selbständig, ohne Auseinandersetzung mit dem Bösen, erwachsen muss, um stark zu werden, hervor; inwiefern Worte (wie Wahrheit, Geist, Gesundheit usw.) als solche Gesundung einleiten, aus der allgemeinen Einsicht, dass es der Logos ist, welcher den Kräften des Eros Sinn und Richtung gibt. Wer gläubig Gesundheit denkt, obschon er krank ist, lenkt eben dadurch die Lebenskräfte, die vorher zerstörerisch wirkten, auf Wiederaufbau um.
Ich empfehle übrigens Cady besonders deshalb, weil die extreme Behauptung der Souveränität des Selbst, welche seiner Richtung eigen ist, ein treffliches Gegengewicht gegen die fatalistischen Einflüsse darstellt, welche neuerdings wieder in Form der Astrologie sehr stark zu werden beginnen. Was es mit dieser Wissenschaft letztlich für eine Bewandtnis hat, das weiß ich nicht; dass überraschend viele Geburtshoroskope stimmen, kann ich nicht leugnen. Aber selbst wenn die Astrologie unfehlbar wäre — die Selbstbestimmung des Menschen hübe sie nicht auf. Die möglichen Wirkungen der Sterne reichen über das empirische Ich niemals hinaus, als welches unter allen Umständen bedingt ist; das Selbst
bestimmen sie nicht. Dementsprechend wird schon von der Sprache wohl Selbst-, jedoch nicht Ichbestimmung gefordert. Die Astrologie bietet also in Wahrheit keinen Anlass zu irgendwelchem Fatalismus. Nur wird sie gewöhnlich so verstanden. Deshalb empfehle ich an dieser Stelle, in kontrapunktischem Zusammenhang mit Cady, noch Oscar A. H. Schmitzens Geist der Astrologie (München, Georg Müller Verlag). Über den eigentlich astrologischen Gehalt des Buches erlaube ich mir kein Urteil. Aber wer immer an die Sterne glaubt, der lese Schmitz, weil dieser ihn davor bewahren wird, zum Sklaven eines vermeintlichen Schicksals zu werden. Überhaupt gehört Schmitz zu den lehrreichsten und deshalb lesenswertesten Schriftstellern unserer Zeit. Ich kenne kaum einen anderen, der in den Gründen und Abgründen der Seele so selbstverständlich Bescheid wüßte wie er; zählt er nicht unter den ganz großen Psychologen, so kommt dies hauptsächlich daher, dass ihm das Tiefe zu leicht fällt: seinem Ausdruck fehlt es an Gewicht. Er wirkt wie ein Journalist, der, so wie er fremde Länder schildert, auch über die letzten Tiefen, über Hölle und Himmel, aus persönlicher Beobachtung zu informieren weiß. — Aber vielleicht gilt diese Charakteristik nur für seine Vergangenheit. Seit 1921 gehört er zu uns. Demnächst vollendet er sein fünfzigstes Lebensjahr. In den Aushängebogen liegt mir ein neues Buch von ihm vor, betitelt Brevier für Einsame (München, Georg Müller Verlag), das ich als Eingang in eine Periode der Integration deuten möchte. Auch dieses Buch ist vielleicht noch etwas zu flott geschrieben; sein Gesamteindruck ist trotzdem der im ernstesten Sinn erlebter Tiefe. Seine Studie über die Psychoanalyse als moderne Yogamethode halte ich für grundlegend; seinen Versuch einer polaren Ethik für geradezu bahnbrechend. Im übrigen aber bekennt sich das Buch durchweg zu unserem Geist; es ist einer seiner berufenen Vertreter. Nun hoffe ich, dass Oscar A. H. Schmitz mit der großen Krisis der Halbjahrhundertwende in ein vollkommen neues Leben einmünden möge. Er ist überreich begabt, außerordentlich differenziert. Jetzt muss er sich selbst integrieren. Er muss in den Grundtönen seines Wesens dauernd Wurzel fassen. Dies wird viel Schweigen erfordern, viel geistigen Verzicht. Viel leichtes Können wird er vergessen müssen. Entschließt er sich aber zur Einkehr, fasst er persönlich, als Substanz, dort Fuß, wohin sein Geist so oft schon spielerisch hinableuchtete, dann mag sein Vermächtnis noch ein großes werden.