Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

6. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1923

Bücherschau · Psychoanalytische Literatur

Da vorliegendes Heft vorzüglich der Psychoanalyse gilt, so sei hier an erster Stelle noch einmal auf deren klassische Literatur hingewiesen und ein Ratschlag darüber gegeben, in welcher Reihenfolge man sie am besten studiert. Man beginne unbedingt mit Freuds Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (Leipzig, Internationaler Psychoanalytischer Verlag), in welcher der große Bahnbrecher seine Erkenntnisse und Ansichten bei weitem am übersichtlichsten zusammengefasst hat; erst nachher studiere man seine spezielleren Schriften. Darauf mache man sich an Alfred Adler, und zwar lese man, wenn irgend möglich, seine drei Hauptwerke: Der nervöse Charakter, Theorie und Praxis der Individualpsychologie und Heilen und Bilden (Verlag J. F. Bergmann, München und Wiesbaden); wer dazu nicht in der Lage ist, dem sei an erster Stelle das erstgenannte Werk empfohlen, während das letzte besonders wertvolle Winke zur Kindererziehung enthält. Dann erst lese man Jung, und zwar erst, nachdem man seine Broschüre Psychologie der unbewussten Prozesse ganz verstanden hat, die sehr hohe geistige Anforderungen stellenden Psychologischen Typen (Zürich, Rascher & Co.). Dass ich die gleiche Folge im Studium empfehle, in der ich die drei Formen in der Schöpferischen Erkenntnis behandelt habe, hat natürlich die gleiche Ursache: sie stellen eine fortlaufende Reihe der Vertiefung in der Richtung der Sinneserfassung dar. Nur muss dem damals Ausgeführten eine Berichtigung dahin zuteil werden, dass neuerdings Sigmund Freud selbst über seinen ursprünglichen Standpunkt hinausgestiegen ist, und zwar in zwei kleinen Schriften, deren Studium ich ganz besonders empfehle: Jenseits des Lustprinzips und Das Ich und das Es. Diese sind deshalb besonders bedeutsam, weil hier der Naturforscher, welcher Freud seiner ganzen Anlage nach ist, recht eigentlich durch seinen naturwissenschaftlichen Scharfblick aus der Sphäre des Naturalismus hinausgedrängt erscheint und zuletzt unmittelbar metaphysische Einsichten vertritt. Daraufhin können viele der bisherigen Bedenken gegen Freud nicht mehr aufrechterhalten werden.

Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Geisteswissenschaften stellt das Buch gleichen Namens von Otto Rank und Hanns Sachs (Verlag J. F. Bergmann) recht deutlich heraus. Des Englischen mächtige Leser möchte ich endlich noch auf das Buch des holländischen Psychoanalytikers J. H. van der Hoop, Character and the Unconscious (London 1923, Kegan Paul, Trench. Trubner & Co.), hinweisen: dieses will nur eine kritische Darstellung der Lehren von Freud und Jung sein, führt aber tatsächlich über beide hinaus, insofern als sie eine Synthese des Besten von beiden, unter Vermeidung aller Einseitigkeiten, darstellt. Praktisch besonders wertvoll finde ich darin die Finerzeige auf S. 59 ff., wie man sich selbst zu analysieren lernen kann. — Nun wird aber jeder metaphysisch Bewusste fühlen, dass die Psychoanalyse, als zergliedernde Wissenschaft, so tief sie immer eindringe, die Probleme der eigentlichen Sinneserfassung und -verwirklichung nicht lösen kann; inwiefern dies vom kirchlich-, religiösen und pädagogischen Standpunkt gilt, hat der katholische Professor Linus Bopp in seiner Broschüre Moderne Psychoanalyse, katholische Beichte und Pädagogik (Religionspädagogische Zeitfragen, herausgegeben von Dr. J. Göttler, Nr. 8, Verlag Josef Kösel und Friedrich Pustet, Kempten) sehr klar auseinandergesetzt, weshalb ich auch diese Arbeit empfehle, so wenig ich mich mit mancher ihrer Thesen identifizieren kann. Zum seelischen Neuaufbau weist die Psychoanalyse nicht unmittelbar den Weg, da deren höchste Instanz die normale Gesundheit ist und auch sein muss. Den Weg zu jenem abzustecken, unternimmt nun erstmalig das neue Buch von Oscar A. H. Schmitz, Psychoanalyse und Yoga (Darmstadt, Otto Reichl Verlag). Wie dieses entstand, darüber lese man die Chronik der Schule der Weisheit nach. Ich persönlich stimme mit Schmitz nicht in allem überein, wie aus dem Vergleich seines Buchs mit meinem in diesem Hefte abgedruckten Vortrag über das gleiche Thema unmittelbar erhellt; zumal Schmitz’, des persönlich durchaus buddhistisch Eingestellten, letztes Ziel ist nicht das meinige noch auch das der Schule der Weisheit, als historischer Erscheinung, überhaupt. Nichtsdestoweniger halte ich dieses Buch, welches die entsprechenden Abschnitte des schon empfohlenen Breviers für Einsame (München, Georg Müllers Verlag) zu einem großen Ganzen, einem richtigen System steigert, für epochemachend in der Geschichte der Rezeption der psychoanalytischen Erfahrung in den lebendigen Zusammenhang des Menschheitsfortschritts und empfehle es deshalb als vorläufigen Abschluss jedes Studiums der psychoanalytischen Literatur, wie es denn andrerseits den, der von der Metaphysik oder Religion her an die neue Wissenschaft herantritt, besser als irgende ein anderes in diese einführt. Denn erstens ist Schmitz’ Versuch, Psychoanalyse und Yoga nicht allein in Zusammenhang zu bringen, sondern erstere geradezu als die europäische Yogamethode hinzustellen, trotz aller Einwände, die man im einzelnen erheben kann, in hohem Maß geglückt. Zweitens ist Schmitz’ Interpretenbegabung so ungemein, dass er buchstäblich jedem klar machen muss, der überhaupt verständnisfähig ist, was es mit dem betreffenden Probleme für eine Bewandtnis hat. Wirkt doch in seiner Darstellung sogar der dunkle Jung gemeinverständlich. Ich sehe voraus, dass manche, und nicht die schlechtesten, über meine Empfehlung des Buchs Psychoanalyse und Yoga ebenso den Kopf schütteln werden, wie seinerzeit im Fall des Breviers für Einsame. Denen möchte ich zu bedenken geben, dass Schmitz mich ganz gewaltig gefördert hat, ja dass ich ihm zu Dank verpflichtet bin, wie seit sehr lange keinem mehr, und ich doch glauben möchte, dass wer mir helfen kann, auch andere fördern muss. Grundsätzlich kann jeder an jedem anderen lernen, denn keiner ist anderen in allen Hinsichten voraus; insofern hat sich’s jeder selber zuzuschreiben, wenn andere ihm nichts geben. Wer deshalb von einem Buch nichts haben zu können behauptet, weil es nicht ernst genug, nicht vollkommen oder weil sein Schreiber ihm irgendwie bedenklich sei, dem ist zu antworten: Was geht das Buch an sich, der Mensch an sich Sie an? Sehen Sie lieber zu, ob Sie nicht doch von ihm gewinnen können. Von Schmitz ist nun, allein dank seiner Interpretenbegabung, außerordentlich viel zu lernen. Nur zwei Beispiele, von denen das zweite unmittelbar zu unserem Thema zurückführt. Schmitz erklärt selbst, viele seiner besten Gedanken und tiefsten Einsichten Salomo Friedlaenders Schöpferischer Indifferenz (München, Georg Müllers Verlag) zu danken. Mit dieser Quellenangabe hat er, wie ich mich neuerdings überzeugt habe, recht. Nur muss ich hinzufügen, dass Friedlaenders Einsichten von diesem selbst so vorgetragen sind, dass sie nicht wirken können; sein Buch stellt recht eigentlich einen Versuch dar, dieselben totzumachen. In Schmitz’ Fassung hingegen leuchtet ihr Wahres jedem ein, so dass dieser zum mindesten als deren sozialer Schöpfer gelten darf. — Dann: warum konnte mir das Brevier für Einsame in seinem psychoanalytischen Teile so viel bieten, wo ich doch Jung und Adler schon früher genau kannte? Weil es deren Erkenntnisse vom Standpunkt der Bewusstseinslage eines mir ähnlich eingestellten Geistes betrachtete; ebendeshalb erwiesen sie sich mir jetzt erst ganz assimilabel. Nun: grundsätzlich mehr hat kein Wahrheitskünder je getan, als von jeher Vorhandenes so hinzustellen, dass es verstanden werden kann.

Aber selbstverständlich bedeutet Schmitz’ Psychoanalyse und Yoga kein letztes, sondern vielmehr ein erstes Wort über das betreffende Thema; Gleiches gilt auch von meinem in diesem Hefte abgedruckten Schlusswort zur Märztagung der Schule der Weisheit. Auch ich ringe noch mit dem Problem, werde schwerlich so bald zur letzten Klarheit gelangen. Über Schmitz hinaus führt Erwin Rousselles Mysterium der Wandlung (Darmstadt, Otto Reichl Verlag) insofern, als Rousselle, die Psychoanalyse gleichfalls berücksichtigend, unmittelbar den Weg zur Vollendung charakterisiert, wie dieser an allen Orten und zu allen Zeiten gleichsinnig von allen religiösen Heilsuchern beschritten worden ist. Dieses Buch muss unter allen Umständen jeder lesen, der die Technik der Schule der Weisheit, zumal deren Exerzitien, wirklich verstehen will. Im übrigen stellt es insofern ein völliges Novum dar in der bisherigen religions-psychologischen und asketischen Literatur, als es den Sinn des Kults, insonderheit der Liturgie, in den Zusammenhang der Philosophie des Sinnes hineinbezieht. Fortan darf auch dieses Irrationale par excellence als aus dem Geiste wiedergeboren und damit vor diesem gerechtfertigt gelten. — Was früheren Autoren (Jung, Silberer, Horneffer) nur halb gelang, konnte Rousselle deshalb ganz gelingen, weil er persönlich eine selten ausgesprochene Verkörperung des Homo liturgicus oder Homo sacralis (wie er ihn heißt) darstellt, weshalb er den Sinn der religiösen Symbole nicht erst zu erforschen braucht, sondern ganz unmittelbar erlebt. Die Schule der Weisheit darf wirklich nicht ganz ohne Stolz auf die ersten zweieinhalb Jahre ihres Wirkens zurückblicken: von der Begründung ihres eigenen Niveaus und Standpunktes, von aller Förderung von Einzelnen abgesehen, hat sie in dieser kurzen Zeit den Sinn der chinesischen Weisheit nicht allein (Richard Wilhelms Büchlein Chinesische Lebensweisheit ist eine Zusammenfassung seiner Vorträge auf unseren Tagungen), sondern auch den des Okkulten (vgl. unser Buch Das Okkulte, Otto Reichl Verlag), der Psychoanalyse und des Kultes (als Ausdrucks aller religiösen und asketischen Praxis) seiner endgültigen Erfassung nahegebracht.

Schmitz’ Buch klingt aus in einer Schilderung des neuen Menschen. Bei dieser Gelegenheit sei die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, wie gleichsinnig sich alle prophetischen Geister des letzten halben Jahrhunderts, bei allen praktischen Unterschieden, den neuen Typus vorgestellt haben, was wohl darauf schließen lässt, dass eben dieser tatsächlich fällig ist. Der Vertreter von Ibsens Drittem Reich, die Synthese von Kaiser und Galiläer ist meinem Weltüberlegenen sehr nahe verwandt, wie mir kürzlich bei der Lektüre von Rolf Engerts Henrik Ibsen als Verkünder des Dritten Reichs (Leipzig 1921, R. Voigtländer) zum ersten Male deutlich ward. Nietzsches Übermensch und Dostojewskis Idealtypus sind ihrerseits, wenn auch viel einseitigere (deswegen sich als Tatsachen schroff widerstreiten könnende) Sinnbilder der gleichen Intuition; Hermann Hesse endlich (s. dessen Demian) und Mereschkowsky (s. zumal dessen Tolstoi und Dostojewski) betrachte ich in diesem Zusammenhang als meine unmittelbaren Weggenossen. Endlich sei noch auf Langbehn verwiesen, dessen Rembrandt als Erzieher sein Freund Benedikt Momme Nissen jüngst in 60. Auflage bei C. L. Hirschfeld in Leipzig neu herausgegeben hat. Was ist dieser eine Zeitlang beinahe berüchtigt Berühmte bald verkannt und vergessen worden! Allein er war (sofern man vom veränderten Text der Neuauflage aus den ursprünglichen, den ich nicht kenne, beurteilen darf) ein wahrer Prophet. Wer heute sein Vermächtnis in die Hand nimmt, erschrickt geradezu darob, wie hellseherisch klar der Rembrandt, deutsche schon vor über 30 Jahren Deutschlands Gefahr erkannte, und nicht nur diese: auch deren einzig mögliche Heilung, im Sinn einer Neuverknüpfung von Seele und Geist (ich drücke mich in meinen Worten aus, doch hat Langbehn wesentlich Gleiches gemeint)… Man stelle hier ja keine Fragen der Priorität und Originalität, die unwesentlichsten und törichtesten von allen, sondern man fasse die Übereinstimmung als Ansporn dazu auf, die Entstehung des neuen Menschentypus, der den so sehr missratenen der Gegenwart abzulösen geeignet wäre, möglichst zu beschleunigen. Heute darf jeder geradezu als Messias designatus gelten. sintemalen das geistige Urbild dessen, was allen nottut, bald überall bekannt und wirksam sein wird, so mag die ersehnte Synthesis plötzlich an scheinbar beliebiger Stelle verwirklicht auftreten. Vorgestelltes wird ja zwangsläufig wirklich, und in kritischen Lagen haben die letzten sich schon oft als die wesentlich ersten erwiesen…

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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