Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
6. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1923
Bücherschau · Ernst Troeltsch
Ernst Troeltsch ist gestorben. Ihm nachzutrauern, hat die Schule der Weisheit besonderen Grund, denn von allen Gelehrten von Ruf hatte er sich am entschiedensten, und zwar von vornherein, für die Bedeutung unserer Sache eingesetzt, wie denn andererseits sein Vortrag auf der Herbsttagung vorigen Jahres, welcher im diesjährigen Leuchter erschien, wohl seine letzte Veröffentlichung darstellt, zu der er noch persönlich die Korrekturen las. Nichtsdestoweniger widerstrebt es mir, jetzt, wo Troeltsch tot ist, Dinge über ihn zu sagen, die ich bei seinen Lebzeiten nicht geäußert hätte. Das Leitwort De mortuis nil nisi bene
spricht insofern selbstverständlich wahr, als aller persönliche Zank mit dem Tode aufzuhören hat. Aber solcher dürfte auch bei Lebzeiten, wo sachliche Werte in Frage stehen, nie mehr als eine geringfügige Nebenrolle spielen. Leider spielt er die Hauptrolle. Deshalb bedeuten die übertriebenen Lobeserhebungen, die jeder halbwegs Tüchtige nach seinem erfolgten Ableben erfährt, psychologisch selten anderes als Stoßseufzer der Erleichterung, dass ein beneideter Konkurrent nun endlich fort ist. Mögen die wenigsten Nekrologschreiber sich dessen bewusst sein, es ist doch so. Warum sprachen sie denn nie auch nur annähernd Gleichlautendes aus, solang der Betreffende lebte? In 90 von 100 Fällen unzweifelhaft aus Neid, um seine Aktien nicht über den Tageskurs hinaus hinaufzutreiben. Ebendeshalb machen so wenige einer einmal anerkannten Größe ihre Stellung streitig: gleichmäßige Anerkennung eines schafft Gleichgestelltheit für alle übrigen; der Akzent ruht nicht auf jener, sondern dieser. In meinen Augen hat nun jeder, der einen Lebenden schon so zu sehen vermag, wie ihn die Nachwelt einmal sehen wird, die unmittelbare Pflicht, gerade bei seinen Lebzeiten für seine volle Bedeutung, wo diese ein Positivum bedeutet, Zeugnis abzulegen. Ein Lebendiger ist immer mehr als ein Toter; wird einer bei Lebzeiten als Genie erkannt, so mag er Impulse austeilen, die sonst der Menschheit vorenthalten bleiben. In diesem Sinne wäre die Schule der Weisheit schon dann ein wichtigstes Kulturelement, wenn sie nur das täte, dem erkannten bedeutenden Mann seine ganze persönliche Qualität nicht nur rückhaltlos, sondern begeistert zuzugestehen und ihm als Menschen neidlos die höchstdenkbare Auswirkungsmöglichkeit zu bieten. — Da ich nun in Troeltsch bei seinen Lebzeiten keinen großen Mann sah, so habe ich keinen Grund, ihn heute überschwenglich zu preisen. Es war ein universell begabter Gelehrter, zumal in synthetischer Hinsicht, von außerordentlicher Arbeitskraft; dabei ein frischer, prächtiger Mensch. Aber sein Niveau war kein hohes, so wenig, dass sein Bild vom Standpunkt der Weisheit gerade in dieser Hinsicht am lehrreichsten erscheint.
Man sagt, Troeltsch hätte den gewaltigen Stoff, mit dem sein umfassender Geist sich abgab, souverän beherrscht. Das ist nicht wahr. So weite Gebiete er behandelt hat, so viele wichtige Einzeleinsichten und Sonderüberblicke die Wissenschaft ihm danke, geherrscht hat Troeltsch nirgends als Stratege; er ist über die Auseinandersetzung mit subalternen Fragen innerlich niemals hinausgelangt, hat nie persönlich dort gestanden, wo Theorie ihn seinen Standpunkt letztlich wählen hieß. Ich habe gerade die Lektüre seines letzten gegen 800 Seiten umfassenden Bandes Der Historismus und seine Probleme (Tübinsgen 1922, Paul Siebeck) hinter mir: dessen geistiger Gehalt würde bei entsprechend prägnanter Darstellung knapp 50 Seiten füllen, und da dieser Gehalt allein den geistigen Wert bestimmt, so kann man insofern sagen, dass Troeltsch selbst nur die Vorarbeit für den geleistet hat, der jenen einmal wird rein herausstellen können. Gleiches trifft auch in dem anderen und wichtigeren Sinne zu, dass sein Bewusstsein diesen Gehalt niemals ganz klar erfasst hat; Troeltsch musste bei der Auseinandersetzung mit Personen und Sachen stehenbleiben, er konnte nicht objektiv überzeugen, wo er seine metaphysische Überzeugung ohne Rück- und Seitenblicke zum Ausdruck bringen wollte, weil diese ihm kein unmittelbar Gegebenes war. Vorarbeiten müssen nun freilich sein. Aber man sollte einsehen, dass der Subalternoffizier, welcher diese noch so trefflich leistet, niemals der Feldherr ist, und dass nur dieser, im Krieg, auf den Lorbeer Anspruch hat. Dass die Dinge bei Troeltsch so liegen, ist nun wahrhaft tragisch, denn er trug unzweifelhaft, um beim militärischen Bilde zu bleiben, den Feldherrnstab im Tornister; hätte er hundert Jahre länger gelebt, er wäre vielleicht noch ein großer Philosoph geworden. Troeltsch war letztendlich rassemäßig und kulturell zu jung. — Aber vielleicht war Troeltsch ebendeshalb im heutigen so jungen Deutschland dermaßen anerkannt, weil er wesentlich Vorarbeiter war. Groß war mein Erstaunen seinerzeit, als sein Tagungsvortrag einer Reihe von intelligenten Menschen von allen den bedeutendsten Eindruck machte, wo der seine an Geistigkeit sowohl hinter dem von Flake wie dem von Feldkeller weit zurückblieb und an lebendiger Wirksamkeit an die von Baeck und Muff auch nicht entfernt heranreichte. Allein mein Staunen war missverständlich: jeder versteht das am besten, erkennt am leichtesten an, was ihm am besten entspricht. Hieraus kann nun im Fall der typischen heutigen deutschen Geistesart nur das eine folgen, dass sie ein unbedingt zu Überwindendes darstellt. Auf höherem Niveau stellen sich Unteroffizierprobleme keinesfalls. Bücher wie die von Troeltsch wird bald kein Mensch mehr lesen, denn deren geistige Quintessenz erst, die Troeltsch selbst nicht herausgearbeitet hat, stellt die Grundlage dessen dar, wovon ein Geschichts- und Wesensdenker auszugehen hat.
Ich stellte vorhin Flake über Troeltsch. Damit sage ich nicht, dass ich mit dem Niveau jenes durchaus einverstanden wäre. Noch immer ist er in seinen Zeitschriftenaufsätzen über den Feuilletonismus nicht hinaus und als Künstlertypus dem zu nahe verwandt, welchen das Mittelalter unter den Begriff des fahrenden Volkes fasste. Insofern steht er, vom Standpunkt der Weisheit betrachtet, tief unter dem durchaus verantwortungsbewussten, ernsten und echten Troeltsch. Aber sein abstraktes Denken, wie es in jenem Vortrag und auch seinem letzten Buch Die Unvollendbarkeit der Welt (Otto Reichl Verlag) zum Ausdruck kommt, entspricht einem Intensitätsniveau, das als für Deutsche vorbildlich gelten muss. Flake als Denker ist nur Stratege; in ihm lebt keine Spur vom Unteroffizier. Gleichviel ob er nun in seinen Ergebnissen recht oder unrecht hat, worüber ich hier nichts sagen will: es lese Flake besonders aufmerksam gerade der, welcher Neigung spürt, das Werk von Troeltsch zu überschätzen. Solange er nicht erkennt, inwiefern dieses, formal, nur die Vorstufe zu solchen Leistungen darstellt, wie jener sie für sich anzuführen hat, darf er über Geistigkeit nicht mitreden.
Vom Standpunkt der Weisheit sind, in der Tat, nur zwei Typen von abstrakt-philosophischen Büchern empfehlenswert: die in ihrer Intensität vorbildlichen, wie die vom heiligen Thomas, Kant, Spinoza, Hegel, neuerdings Husserl, Rickert, Flake und die zum Selbstdenken einführenden. Unter solchen empfahl ich früher einmal an erster Stelle Ernst Cassirers Erkenntnisproblem (Berlin, Bruno Cassirer). Heute nun möchte ich auf die letzte Arbeit von Driesch und die Schriften Arthur Lieberts hinweisen. Jene, betitelt Wissen und Denken, ein Prolegomenon zu aller Philosophie (Leipzig 1922, Emmanuel Reinicke) ist geradezu musterhaft in ihrer Klarheit und klärenden Wirkung; ich halte sie für Driesch’ seit seiner Philosophie des Organischen weitaus bedeutendste Arbeit und empfehle sie jedem zur eingehenden Meditation. Was nun diejenigen Lieberts betrifft (eines der verdientesten Geistigen der deutschen Gegenwart, denn was die Kant-Gesellschaft ist, die erste philosophische Gesellschaft der Welt, verdankt sie an erster Stelle seiner Betriebsamkeit; ferner erfüllt kein zweiter vielleicht unter Deutschen so selbstverständlich die Pflicht, von der ich am Anfang dieses Abschnitts schrieb, für Lebende ohne neidgeborene Vorbehalte einzutreten, wie gerade er), unter welchen Büchern ich besonders Vom Geist der Revolutionen (Verlag Artur Collignon, Berlin W 62), Wie ist kritische Philosophie überhaupt möglich? (Leipzig, Felix Meiner) und last not least das letzte: Die geistige Krisis der Gegenwart (Berlin 1923, Pan-Verlag Rolf Heise) nennen möchte, so sind sie als Einführungen zum Selbstdenken für philosophisch Ungeschulte deshalb besonders geeignet, weil Liebert über eine ausgesprochene Interpretenbegabung verfügt, was ihn instinktiv erkennen lässt, wie man die Dinge sagen muss, auf dass sie weitesten Kreisen verständlich würden. Wer nun die vorhergehenden Betrachtungen über Schmitz las, der weiß, wie wichtig gerade jene Begabung ist.