Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
6. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1923
Bücherschau · Rabindranath Tagore · Lebenserinnerungen
Jetzt liegen auch Rabindranath Tagores Lebenserinnerungen vor (München 1923, Kurt Wolff Verlag). Es ist nicht leicht, deren deutsche Fassung zu empfehlen, denn Tagores autorisierte Übersetzerin für Deutschland, Helene Meyer-Frank, mit deren Leistung ich nie sonderlich einverstanden war, hat ihre Sache dieses Mal so über alle Maßen schlecht gemacht, dass von der Größe und Kunst Tagores im Ausdruck nichts zu spüren bleibt. Trotzdem wird der, dessen Einbildungskraft zur Vorstellung dessen hinreicht, wie Tagore geschrieben haben muss, von der Lektüre seiner Memoiren viel Förderung erfahren, denn sie gibt von der Entwicklung des Dichters, gerade wegen ihres impressionistischen Stils, ein überaus farbiges Bild. Doch hiervon will ich hier nicht reden: wer Tagore ist und was er bedeutet, davon habe ich schon sattsam Bekenntnis abgelegt (vgl. besonders Schöpferische Erkenntnis S. 467). Das im tieferen Sinne Lehrreiche an der vorliegenden Autobiographie ist die Erfahrung, wie sehr das Streben über Ost und West hinaus (vgl. ebenda S. 24, 213, sowie Ost und West auf der Suche nach der gemeinsamen Wahrheit in Philosophie als Kunst) nicht allein unserer Besten, sondern auch derjenigen des Ostens typisches Streben ist. Unter westlich interessierten Orientalen kommen uns in der Regel die allein zu Gesicht, die unsere äußere Geschicklichkeit über die heimatliche Tiefe stellen. Der Tagore-Clan nun hat die westliche Geistigkeit von jeher so studiert, wie unsere Besten die östliche, d. h. zum Zweck der Vollherausbildung dessen, was die ererbte Kultur am eigenen tieferen Wesen hatte verkümmern lassen; deshalb war es nicht unser Wissen, unsere Technik, sondern unsere Leidenschaft, auf die er sein Hauptaugenmerk richtete1. Hieraus erklärt sich denn wohl vor allem Rabindranaths in Indien unerreichte Fülle. Obschon dieser die westliche Kultur aufs genaueste kennt und beherrscht, ist er doch reiner Inder geblieben, nur gleichzeitig vom Standpunkt der Universalität betrachtet, mehr als alle seine Landsleute vor ihm, weil er auch die in uns vorherrschenden Züge in sich bis zu einem gewissen Grade ausgebildet hat. So darf Tagore wohl als der erstsichtbare ökumenische Mensch indischer Nation gelten; so beruht hierauf vor allem seine Menschheits-Bedeutung. Mir ist dieser Sachverhalt, der seinerseits erklärt, wieso es den Dichter so unaufhaltsam zu Missionsreisen drängt, erst bei der Lektüre seiner Lebenserinnerungen ganz deutlich geworden. Gleichzeitig aber lernte ich aus ihnen erst ganz verstehen, wieso das moderne Indien so völlig anders wirkt, als unseren typischen Vorurteilen entspricht.
Professor Benoy Kumar Sarkar, einer seiner geistigen Führer, schreibt (Deutsche Rundschau vom April 1922). Friede ist vom Gemüt der Inder am weitesten entfernt. Vielleicht sind sie heute das einzige Volk, das den Hass und den Krieg schürt. Jedenfalls ist Indien das zeitgenössische Sturmzentrum der Welt.
Energismus
nennt dieser Autor Indiens heutige Weltanschauung, seine Religion sei Herausforderungsgeist, aus der Liebe zum Vaterland geboren
. Auf allen Gebieten des Lebens ist jeder Inder, der überhaupt etwas ist, ein Kämpfer.
Was bedeutet diese merkwürdige Wandlung oder genauer, diese Verlegung des Bedeutungsakzents im Volkskörper? Nun, eben die Wirkung der Rezeption dessen in uns, was bei den Indern bisher wenig ausgebildet geblieben war. In jedem Volke wohnen grundsätzlich alle Seelenkräfte; wie deren Gewichte sich verteilen, hängt von der Einstellung ab. So mag der Osten zeitweilig leicht zum Sinnbild eben der Einseitigkeit werden, die wir heute zu überwinden trachten; er wird diese Seite möglicherweise mehr als wir noch überkompensieren müssen (da er sie von Hause aus in geringerem Grad besitzt), um sie überhaupt auszubilden. Aber selbstverständlich wird es sich dabei um einen Übergangszustand handeln, der in Anbetracht der Volksanlage nicht lange währen kann: als Ideal winkt Indien zweifelsohne, heute begreiflicherweise verkannt, der Typus Tagore, als der des ökumenischen Menschen indischen Geblüts. — Nun fragt es sich: wo wird der ökumenische Mensch als solcher schneller bestimmend werden, drüben oder bei uns? Davon hängt für die künftige Gewichtsverteilung zwischen Europa und Asien alles ab. An einem gemütlichen Darmstädter Nachmittag des vergangenen Frühjahrs entwickelte Leo Frobenius als immerhin nicht abzuweisende Möglichkeiten die folgenden Verschiebungen: Während der letzten Jahrtausende sei ein eigentümlicher Pendelschlag von Nordwest gen Südost und umgekehrt in aller Kulturbewegung nachzuweisen — so könnte die nächstfällige Kulturblüte leicht wieder auf den südlichen Osten fallen. Ferner sei wohl möglich, dass wir Westländer uns in der Ausbildung des Werkzeugs Verstand
erschöpften und es erst den Orientalen gelänge, unser Können vollkommen aufs Sein zurückzubeziehen. In dem Falle seien wir Europäer vielleicht dazu verurteilt, als Fabrikanten und Techniker der vornehmen Welt südlich vom Mittelmeer zu enden… Robert Müller spricht seinerseits in seinen ungemein geistreichen kulturhistorischen Aspekten, die er unter der Überschrift Rassen, Städte, Physiognomien zu einem Buch zusammengefasst hat (Berlin 1923, Erich Reiß Verlag), die Erwartung aus, dass die islamische Welt demnächst schon die Menschheit führen werde. Endlich kommt Bertrand Russell, einer der scharfsinnigsten unter den Lebenden, der jüngst ein Jahr in China verbrachte, in seinem Problem of China (London, George Allen & Unwin) zum für uns wenig tröstlichen Schluss, dass China jetzt schon, trotz seines innerlich zerrütteten Zustandes, gerade unserem Zukunftsideale sehr viel näher sei als wir, welche Auffassung Richard Wilhelm auf Grund seiner jüngsten Erfahrungen in der chinesischen Provinz zu teilen scheint. Wir werden uns also, wie es auch komme, sehr zusammennehmen müssen, wofern uns daran liegt, unsere Führerstellung zu behaupten. Gerade davon ist leider in Europa noch wenig zu spüren. Dieses arbeitet vielmehr wie absichtlich beschleunigend auf schlechthin allen Gebieten an seinem eigenen Untergang. Hierzu nur ein kurzes Aperçu. Dean Inges Outspoken Essays (London 1922, Longmans, Green & Co.) enthalten u. a. folgenden Gedankengang: privilegierte Fürstengeschlechter haben sich in der Geschichte als lebensfähig erwiesen, auch privilegierte Aristokratien; noch nie jedoch privilegierte Arbeiterschaften. Was würde nun wohl werden, wenn die Errungenschaften der Kriege und Revolutionen unsere Massen gegenüber denen des sicher bald industrialisierten Ostens konkurrenzunfähig machten?…
1 | Sehr interessant ist in diesem Zusammenhang auch Tagores Vision of Indian History im ersten Heft (April 1923) seiner wundervollen, die Brücke zwischen Ost und West von Indien her zu schlagen suchenden Zeitschrift The Visva-Bharati Quarterly (Calcutta, 210 Cornwallis Street): dort sucht der Dichter zu zeigen, wie alles Bedeutende in Indien nicht von den Brahmanen, sondern den Kshattryas herstammt, den Trägern des Prinzips der leidenschaftlichen Bewegtheit (rajas)! |
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