Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

6. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1923

Bücherschau · Untergang oder Aufstieg

Ich nannte Tagore den ersten historisch sichtbaren ökumenischen Menschen indischer Nation. Wer an der Tagung des Jahres 1922 teilnahm, der weiß, auf welchen Gedankengängen diese Charakteristik fußt. Die anderen nun verweise ich desto eindringlicher auf den gedruckten Zyklus der obengenannten Tagung, welcher den Hauptinhalt des diesjährigen Leuchters bildet. Diesen Leuchter muss überhaupt jeder gelesen haben, der sich über unsere Bestrebungen ein richtiges Urteil bilden will. Andrerseits muss ich die Kenntnis seines Inhaltes fortan, nicht minder wie dessen der Schöpferischen Erkenntnis und von Rousselles Mysterium der Wandlung, bei allen denen voraussetzen, die mit uns fortschreiten wollen — wir aber bleiben niemals stehen. Da indessen der Leuchter schwerlich schon so bald in die Hände aller derer gelangen wird, die ihn lesen sollten, so drucke ich zur vorläufigen Orientierung meine Antwort auf die Rundfrage Untergang oder Aufstieg? ab, die in der Osternummer des Berliner Tageblattes erschien:

Entstehen und Vergehen sind zwei sich bedingende Aspekte des einheitlichen Lebensprozesses. Deshalb lässt jede Epoche im Leben der Völker wie dem des einzelnen sich logisch gleich berechtigter Weise als Auf- oder Abstieg deuten, lässt sich niemals beweisen, dass die Akzentlegung auf die eine oder andere Bewegungsrichtung die einzig richtige sei; die Entscheidung hierüber hängt allemal von der inneren Einstellung ab. Nun machen wir Menschen aber andererseits, durch unsere inneren Entscheidungen, die Geschichte. Je nachdem, was und wie stark wir glauben, gewinnt der eine oder andere Aspekt nicht nur als Deutung, sondern tatsächlich das Übergewicht. Insofern schafft Subjektivität recht eigentlich das Objektive. Die Beantwortung der Frage Aufstieg oder Niedergang deckt sich deshalb mit der anderen, ob die innerlich aufwärts oder abwärts Gerichteten jeweils bestimmen. Bestimmen jene, so kann kein noch so trostloser Tatbestand den Aufstieg hindern. Genau so gilt das Umgekehrte.

Das Wiedererwachen Persiens und der Türkei, das Fortleben Russlands sind unmittelbare Beweise dieser Wahrheit. Europa wird dann nur untergehen, wenn der Lebenswille es verlässt und dies unabhängig von allem sichtbaren morphologischen Tatbestand, weil (vgl. meinen Aufsatz Spengler und Wir im 5. Heft dieser Mitteilungen) eine neue Kulturseele inmitten der alten Rassen, Völker und Landschaften eben dann heranreifen mag, wo die herrschenden Schichten nur Symptome des Niederganges zeigen. Die Frage ist nun: ist Neues, Lebendiges im Entstehen? Dass sie für Russland und den nahen und mittleren, wahrscheinlich auch den fernen Osten zu bejahen ist, darüber besteht kein Zweifel. Wie steht es aber mit Europa? — Dessen nächste Zukunft wird wohl unabwendbar im Zeichen des Niederganges abrollen. Der Weltkrieg hat seine Kräfte dermaßen überspannt, dass für ein Bestimmen der positiv aufbauenden in ihm vor mehreren, vielleicht vor vielen Jahren wenig Aussicht besteht. Die Völker, deren Vorkriegszustand nicht zerstört wurde, halten entweder in neuerungsfeindlicher Starrheit an diesem fest (Frankreich, zum Teil auch Amerika), oder aber sie gehen ganz in der Tagesaufgabe auf, denselben durch Rezeption des sich übermächtig aufdrängenden Neuen so wenig als nur möglich verändert lebendig zu erhalten (Italien und England). Innerhalb der anderen hinwiederum besteht naturgemäß eine so extreme Spannung zwischen dem passiven Widerstand der historisch Besiegten und dem Radikalismus der unhistorisch denkenden Neuerer, welche Typen im Vordergrunde stehen, dass die unbefangen Schaffenden, so viele es deren gäbe, zunächst unmöglich eine sichtbare und materielle Macht verkörpern können. Insofern müssen wir uns zunächst im günstigsten Fall auf Jahre einer allgemein-europäischen Stagnation gefasst machen. Aber dass es schnell wieder aufwärts gehen könnte, daran denkt wohl auch kein Einsichtiger. Die Frage ist lediglich: sind schon so viele neue Kräfte im Werden, dass auf ihr historisches Übergewicht gegenüber dem Verfallenden — und dass das Vorkriegs-Europa für immer tot ist, scheint mir gewiss — überhaupt zu rechnen ist? Diese nun möchte ich unbedingt bejahen.

Man betrachte die begabteste Jugend welchen Landes man will: sie unterscheidet sich so radikal von der Generation, die den Weltkrieg verschuldet hat, wie nur je ein Jahrhundert vom vorhergehenden. Am auffälligsten tritt dies in England in die Erscheinung (man lese Galsworthys letzten Roman The Forsyte Saga, London, Charles Scribner), nächstdem in Italien; in Frankreich und Deutschland ist das gleiche deshalb weniger bemerkbar, weil das übergroße Leiden, das gerade deren Bevölkerungen heimsuchte, einen Teil der besten Jugend in die Reaktion gedrängt hat — doch von der geistigen und seelischen Elite gilt es auch hier. Es gilt grundsätzlich von schlechthin allen europäischen Ländern, und zwar vertritt die betreffende Schicht schlechthin überall die gleiche Grundgesinnung, von der iberischen Halbinsel bis zum Weißen Meer. Diese ist nicht bolschewistisch, wohl aber bezeichnet der russische Bolschewismus (wie andererseits der Fascismus) einen legitimen, wenn auch besonders unglücklichen Sonderausdruck derselben. Was bedeutet dies nun anderes, als dass eine neue Kulturseele im Erwachsen ist? Der Tatbestand deckt sich ohne Zweifel mit dem bekannten Spenglerschen Begriff, soweit dieser einen wirklichen Inhalt hat. Nur reicht er über dessen Bereich zugleich hinaus. Die neue Kulturseele erscheint nur mehr sehr bedingtermaßen landschaftsgebunden; sie hat mit der des neuerwachenden Ostens so große Affinität, dass ein Generalnenner für beide postulierbar scheint. Sie bedeutet daher offenbar, allen früheren gegenüber, ein spezifisch Neues: nämlich den ersten Ausdruck der Menschheitsökumene, über deren Herankommen ich mich in Spannung und Rhythmus (im Leuchter für 1923, Otto Reichl Verlag) näher ausgebreitet habe. Urteile ich hier nun richtig, und ich bin dessen überzeugt, dann liegt der Akzent heute schon unstreitig auf dem Aufsteigenden und nicht dem Niedergehenden, so sehr dieses noch in der Masse dominiere. Denn das verendende Alte bereitet Höherem den Weg.

Über dessen Charakter kann ich mich hier nicht ausbreiten. Er entspricht dem Ausdruck der Gelöstheit aller der Probleme, die meine Schöpferische Erkenntnis behandelt, stellt im übrigen ein ebenso allgemeines und in concreto deshalb Variationsfähiges dar, wie seinerzeit der christliche Geist gegenüber dem antiken. Aber hier steht auch nicht Theorie in Frage, sondern einzig Praxis. Eingangs schrieb ich: das Subjektive schafft recht eigentlich das Objektive. So hängt die Wahrheit des hier Ausgeführten, soweit es den Charakter unserer Zukunft betrifft, nicht von seiner Bestätigung durch exakte Analyse der Gegenwart ab, sondern einzig davon, wie viele und welche Menschen an sie glauben. Und hier muss ich an die Deutschen eine ernste Mahnung richten. Nirgends fehlt schöpferischer Glaube zur Zeit so stark wie in deren geistig gebildetsten Kreisen. Als die Franzosen Essen besetzten, sprach ich den Wunsch aus, dass dieser Tag zum deutschen Nationalfeiertag proklamiert würde, denn fortan stehe Deutschlands Wiederaufstieg völlig außer Zweifel: die Franzosen hätten genau das getan, wessen es bedurfte, um die deutsche Demoralisation und Zerrissenheit zu heilen und sich selbst in der Welt zu diskreditieren — Imponderabilien dieser Art aber seien wichtiger, als alle nur möglichen Tanks. Zu je weitsichtigeren Menschen ich sprach, desto größere Skepsis begegnete mir. Der unreflektierte aber zielbewusste Bergmann nun, ob Unternehmer, ob Arbeiter, hat dafür gesorgt, dass ich bis heute recht behielt. Dank ihm werde ich bis zum Ende recht behalten. So hängt auch die Rolle Deutschlands in der heranbrechenden Ökumene nicht davon ab, was es für theoretisch wahrscheinlich und deshalb erstrebenswert hält, sondern welche neue Tatsachen es, und sei es aller Theorie zum Trotz, in die Welt setzt.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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