Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
7. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1924
Bücherschau · Tiefenpsychologie
Da hochherziger Gönnersinn verschiedener unserer österreichischen Mitglieder sowie der Wiener Psychoanalytischen-Verlage uns gerade um die Wende, wo Bücherkauf unerschwinglich zu werden begann, mit der wichtigsten psychoanalytischen Literatur beinahe vollständig versorgt hat, so nahm ich während des letzten Halbjahres vor allem die Gelegenheit wahr, meine Kenntnisse auf diesem Gebiete zu erweitern und zu vertiefen. Und ich muss sagen: je weiter ich damit komme, desto größer erscheint mir die Bedeutung der Tiefenpsychologie. Es ist schon höchste Zeit, dass die Vorurteile gegen Sigmund Freud und seine Nachfolger endgültig fallen, dass man endlich ganz aufhöre, sich mit den üblichen Schlagworten gegenüber deren Erkenntnissen abspeisen zu lassen. Freud ist kein geringerer Mann, wie Galilei und Kopernikus, Jung einer der wichtigsten Wegbereiter jeder Zukunftsphilosophie. Wenn die verschiedenen Schulhäupter der Psychoanalyse sich untereinander auf eine Weise befehden und bekritteln, die an die Häresieschnüffeleien und Haarspaltereien byzantinischer Theologen gemahnt, so soll man dieses Allzumenschliche mit der Nachsicht hinnehmen, auf die der Verdiente nicht geringeren, sondern größeren Anspruch hat, als der Unverdiente. Man bedenke doch, wie lange und schwer zumal Freud für seine Wahrheit gegen eine halbe Welt hat kämpfen müssen.
Die Not der Zeit, die mich in diesem Spätherbst alle Muße beraubt, verbietet es mir, auf vieles Gelesene näher einzugehen. Ich werde also dieses Mal mehr anzeigen, als besprechen. Da sei denn an erster Stelle wiederum Sigmund Freuds gedacht, dessen kleine Schriften zur Neurosenlehre (Wien, Internationaler Psychoanalytischer-Verlag, bisher vier Bände) eine überwältigende Fülle des Belehrenden und Beherzigenswerten enthalten. An zweiter Stelle sei auf Georg Groddecks Buch vom Es (ebendort verlegt) hingewiesen, vielleicht die geistvollste, wenn auch andrerseits die unappetitlichste Erscheinung der bisherigen psychoanalytischen Literatur. Groddeck ist der unbefangenste und undogmatischste aller mit bekannten Autoren dieses Gebietes. Von ihm habe ich besonders viel gelernt. — An dritter Stelle mache ich auf verschiedene in Fachzeitschriften verstreute Arbeiten der Psychoanalytiker Alphonse Maeder (Zürich) und Hans von Hattingberg aufmerksam (in Berlin, Kurfürstendamm 242 I ansässig; letzteren nenne ich zumal zum besten derer, die sich im Zusammenhang mit meinen Studien zur Psychoanalyse selbst analysieren lassen wollen; Hattingberg ist von seltener intuitiver Begabung, dem Triebleben anderer gegenüber geradezu Medium und deshalb wie wenige befähigt, dieses, wo nötig, zu entwirren), kleinere Arbeiten, die ich nicht einzeln aufzählen mag, doch zu dem Ende anführe, damit der Name unsere Leser, wo er ihnen zufällig begegnet, aufmerken lässt. Alfred Adlers Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie (Redaktion: Wien III, Landsträßer Hauptstraße 49) lohnt als regelmäßige Lektüre zumal Erziehern. Endlich nenne ich noch einmal die von Freud herausgegebenen Zeitschriften Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen
und Imago
, die in ihren alten Jahrgängen so viel des Bedeutenden enthalten, dass, wer immer kann, sich die, selben besorgen sollte, bevor sie aus dem Buchhandel ganz verschwunden sind. — Etwas näher will ich dieses Mal nur der Autoren gedenken, die von der Psychoanalyse auf das religiöse Problem neues Licht geworfen haben. Da ist zunächst der Züricher Pfarrer Oskar Pfister. Höchst interessant finde ich dessen Schrift Mission und Psychoanalyse (Sonderabdruck aus der Zeitschrift Missionskunde und religiöse Wissenschaft, 36. Jahrgang 1921, Berlin, Hutten-Verlag), in der er zu zeigen unternimmt, dass die meisten falschen
Glaubensformen weganalysiert werden können; nach vollkommener Analyse bleibe eigentlich nur der evangelische Christ als möglich übrig… Weniger paradox und Bedenken erregend, deshalb allen Protestanten warm empfohlen, ist desselben Autors Ein neuer Zugang zum alten Evangelium, Mitteilungen über analytische Seelsorge an Nervösen, Gemütsleidenden und anderen seelisch Gebundenen (Gütersloh 1918, Verlag C. Bertelsmann). — An zweiter Stelle mache ich in diesem Zusammenhang auf Herbert Silberers Probleme der Mystik und ihrer Symbolik (Wien und Leipzig 1914, Hugo Heller) aufmerksam; es ist die beste Einführung in das analytische Verständnis des Mysterienwesens, zugleich die beste Einführung in Alchemie und Kabbalah, welche uralte Systeme nicht etwa Unsinn enthalten, sondern allertiefsten Sinn — nur eben, dem Zeitgeist entsprechend, irreführend ausgedrückt. Endlich auf die religionspsychologischen Arbeiten Theodor Reiks (Wien, Internationaler Psychoanalytischer Verlag). Dessen allgemeine Studien zu diesem Problem sind nur allgemein einführend1). Dagegen ist sein Buch Der eigene und der fremde Gott unmittelbar erschütternd. Es versäume niemand, dem Religion Herzenssache ist, dem psychologischen Zusammenhang zwischen Christus und Judas Ischariot, welche Gestalten an den Wurzeln verschmelzen, unter Reiks sachkundiger Führung nachzusinnen. Der erste Eindruck mag leicht ähnlich erschreckend wirken, wie die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle; allein auch hier wird sich der Schreck, vom Richtigen richtig erlebt, als heilsam erweisen… Zum Schluss habe ich noch mitzuteilen, dass Holzapfels Panideal, auf das ich im 4. Heft dieser Mitteilungen als eine der bedeutendsten Arbeiten zur Selbstvervollkommnung hinwies, in einer zweibändigen Monumentalausgabe bei Eugen Diederichs neu erschienen ist, sowie auf das Buch Gustave Geley’s De l’inconscient au conscient, Paris 1921, F. Alcan aufmerksam zu machen: dieses stellt nämlich den ersten ernstzunehmenden Versuch, von dem ich wüßte, einer Synthese unseres modernen Wissens vom Okkulten und vom Unbewussten als einer metaphysisch verankerten Weltanschauung dar. Es handelt sich hier gewiss nur um einen Versuch, doch ist dieser sehr bedeutsam.
Ich bitte nochmals, den flüchtigen Charakter dieser Hinweise entschuldigen zu wollen. Vielleicht geschieht dies leichter, wenn ich den Absatz mit zwei praktischen Ratschlägen beschließe. Der erste betrifft das übliche Vorurteil gegen die Psychoanalyse. Kein Zweifel: deren Literatur wühlt nicht allein aus sachlicher Notwendigkeit viel Schmutz auf — aus einem großen Teile von ihr spricht unverkennbare Freude an solchem. Es ist nun gewiss nicht wahr, dass wir unsere anerzogenen Hemmungen gegenüber dem Unappetitlichen zu überwinden hätten — auf deren Vorhandensein beruht vielmehr alle Kultur. Aber andrerseits bewiese es Unweisheit, wenn wir uns um des abstoßenden Charakters mancher ersten Psychoanalytiker willen auch von der Sache fernhalten ließen. Das Problem liegt folgendermaßen: man versteht nicht allein, man bemerkt nur genau, was man liebt; deshalb beweist das Schwein im Schmutz unter allen Umständen den besten Spürsinn. Mir liegt nun gewiss nichts ferner als die Behauptung, die Bahnbrecher der Tiefenpsychologie seien Schweine gewesen, mehr als das übliche Interesse am als abstoßend Geltenden mussten sie aber besitzen, um ihre Entdeckungen machen zu können. Gleiches gilt nun mehr oder weniger von jedem guten Psychoanalytiker überhaupt. Es ist undenkbar, dass ein von Natur vorzüglich aufs Reine und Sublime Eingestellter, bei gleicher Begabung, die Komplexe eines Neurotikers ebenso sicher erschaute wie ein von Hause aus Unreiner; im gleichen Zusammenhang ist der Kleinliche dem Großzügigen selbstverständlich überlegen — weswegen man, umgekehrt, vom Analytiker im allgemeinen kein sinngemäßes Erfassen weiterer geistiger Zusammenhänge erwarten darf, die solche ja notwendig auf deren Triebwurzeln zurückführen müssen. Aus allen diesen Gründen schelte man die Eigenart der Analytiker nicht, sondern man sehe ein, dass man gerade ihr die heilsamsten Entdeckungen dankt; richtig eingestellt im Kosmos, hat jede Eigenart absolute Daseinsberechtigung. Im übrigen sei man dessen eingedenk, dass jede Bewegung exzentrisch anheben muss, sofern sie aber siegt, sich unweigerlich dem bestehenden Kräftesystem harmonisch einordnet. So bietet schon die Lektüre der späteren Schriften Jung überhaupt kein Ärgernis. Beatrice M. Hinkles The Re-integrating of the Individual gar (New York 1923, Harcourt, Brace & Co.) kann selbst der feinfühligsten Frau unbedenklich angeraten werden. Mrs. Hinkle hat eben auf einer Stufe zu schreiben begonnen, der die Grunderkenntnisse der Analyse Selbstverständlichkeiten bedeuten, sie ist selbst durchaus rein, überdies ein der Analyse innerlich überlegener Geist. Ihr Buch ist insofern die beste Einführung in die Psychoanalyse, die es heute gibt. — Mein zweiter Ratschlag betrifft das Studium der Tiefenpsychologie. Deren Sinn kann nur der wirklich erfassen, welcher sie praktisch betrieb. Wenn irgendwo, dann erweist sich auf diesem Gebiet die bloße Theorie als grau
. Deshalb nehme keiner sich vor, die betreffende Literatur erschöpfend zu studieren, der nicht vorher den Entschluss fasste, die Praxis, wenn nicht zu erlernen, so doch am eigenen Leibe näher kennenzulernen. Nachdem er letzteres getan, dann freilich lese er so viel als nur irgend möglich, denn dann wird er an jedem behandelten fremden Fall
eine Seite seines eigenen wiedererkennen. In ihren Unter- und Hintergründen sind alle Menschen sich nämlich erstaunlich ähnlich.
1 | Sehr lehrreich im gleichen Zusammenhang ist auch Otto Ranks Mythos von der Geburt des Helden, Wien 1922, Franz Deuticke. |
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