Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

7. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1924

Bücherschau · Leben oder Tod des Protestantismus

Unter den ernsten Teilnehmern der letzten Tagung war nur eine Stimme dahin, dass Friedrich Gogarten von allen Vortragenden den stärksten Eindruck hervorrief; nur darüber teilten sich die Meinungen, ob dieser ein für seine Sache werbender oder ein abstoßender war. Ich will das Problem Gogarten selbst an dieser Stelle nicht behandeln, noch weniger den Inhalt seiner Rede wiedergeben, welche jeder, der sie nicht hörte, im Leuchter dieses Jahres im Zusammenhang nachlesen mag. Desto nachdrücklicher behaupte ich jedoch das Folgende: Leben oder Tod des Protestantismus werden davon abhängen, ob dieser den Typus Gogarten verträgt und in sich hineinbezieht oder nicht; und nichts stimmt mich pessimistischer für die Zukunft des Protestantismus, als die Erfahrung, wie viele Protestanten ihn ablehnen zu können glauben. Von solchen hörte ich viele Gogartens mächtige Rede als indirekte Mahnung, in die milden Arme der katholischen Kirche zu flüchten, verstehen: als ob deren Größe nicht gerade darin besteht, dass sie auch diesen strengen Typus verträgt und auf ihre Art züchtet! Sehr bezeichnender Weise nehmen die vordersten Katholiken unter lebenden deutschen Protestanten eigentlich nur Gogarten und seine Mitkämpfer als religiöse Erscheinungen ganz ernst. Nein, kein Protestant, der an die Zukunft seines Glaubens glaubt, darf an dieser seiner letzten starken Gestaltung vorbeigehen. Denn sie ist speziell des Luthertums letztes echtgeborenes Wort.

Was ist dessen grundsätzlicher Sinn? Die Verabsolutierung der Spannung zwischen Gott und Mensch. Auf der Linie des Rationalismus hat der Protestantismus sich mehr und mehr aller möglichen Religiosität entäußert; liberaler Protestantismus bedeutet heute selten mehr als nicht ganz konsequente Wissenschaftlichkeit. So kann der Lutheraner, historisch gesprochen, nur in der Paradoxie, d. h. in der Überbetonung des schlechthin Irrationalen als Grenze des Rationalen das Göttliche wiederfinden. Das Problem selbst hat Søren Kierkegaard am tiefsten erfasst. In seinem Sinne — ob bewusst oder unbewusst — suchen alle führenden Protestanten seither die Lösung. Dies tut Rudolf Otto in seiner Bestimmung des Heiligen auf das Numinosum, Fascinosum, Tremendum hin (man lese seine grundlegende Arbeit Das Heilige, Tübingen, Paul Siebeck). Dies tut Johannes Müller mit seiner Scheidung zwischen Wesen und Unwesen, zu welch letzterem er eigentlich alles Intellektuell-Kulturelle rechnet. Aber beide sind viel zu liberal für den Ernst der Stunde; der Protestantismus ist heute in solcher Lebensgefahr, dass nur eine Radikalkur im wahren Sinne des Worts ihn neu beleben kann. Die radikalen Reformer, die heute meines Erachtens das ganze Schicksal des Protestantismus als Religionsform in der Hand tragen, sind nur Friedrich Gogarten und der hier noch nicht genannte Karl Barth.

Vom Wollen des ersteren, der bisher noch wenig geschrieben und den man überhaupt vor allem hören muss, gibt unser Tagungsvortrag das beste Bild. Von letzterem, der sich in seiner Grundansicht von Gogarten nur insoweit unterscheidet, als er in einigen Hinsichten calvinisch und nicht lutherisch denkt, existiert ein dickes Buch Der Römerbrief (3. Aufl. München 1923, Chr. Kaiser Verlag). Dieses möchte ich jedem, dem es um die Gottesfrage ernst ist, dringend empfehlen. In wahrhaft grandioser Weise erscheint hier die Spannung zwischen Gott und Mensch herausgearbeitet. Man höre nur: echter Glaube setzt Unerkennbarkeit seines Gegenstandes voraus, die Unanschaubarkeit Gottes ist gerade seine Kraft, wer vor Gott Recht hat, muss vor den Menschen unrecht haben! Ich glaube nicht, dass solche Einsicht das letzte Wort an sich bedeutet, sicher aber ist es das letzte Wort der Religiositätsform, die mit Luther historisch bedeutsam ward; und wer noch weiter als protestantisch-Religiöser bestehen will, der muss sich innerlich mit ihm auseinandergesetzt haben.

Dann wird sich allerdings die Frage stellen, ob einer beim Protestantismus stehenbleiben kann. Wie ich darüber denke, steht in meinem Schlussvortrag zur letzten Tagung (im Leuchter 1924) zu lesen. Hier nur noch ein kurzes Aperçu, das ich zur Meditation empfehle. Wie ich Gogarten zuhörte, stieg auf einmal die Vision des Ewigen Juden vor mir auf. Dieser Mythos ist einer der tiefsinnigsten aller Zeiten: der Sinn des Judentums war seine reine Dynamik. Wie nun, mit Christus, die Erlösung zur Welt kam — was blieb dem unbekehrten Judentume übrig, als sich in alle Ewigkeit, wie im Leeren, weiterzubewegen? — Nicht unähnlich stellt sich mir die Unerlöstheitsdogmatik der Barth und Gogarten dar. Doch ich beeile mich hinzuzufügen: nur wer den von jenen so tief erlebten Unerlöstheitszustand aus eigener Erfahrung kennt, darf fortan auf Erlösung hoffen. Die Zeit für billige Kompromisse ist auf immer um; Ablass wird nie mehr gewährt. Das letzte Wort Gogartens entspricht der Wahrhaftigkeit, die aus dem Choral klingt:

Aus tiefer Not schrei’ ich zu Dir.

Und diesen Choral muss heute jeder, der ans andere Ufer, nämlich das Ufer jenseits des Protestantismus will, einmal aus aufrichtigster Seele mitgesungen haben…

Doch ich will auch hier, wie auf der Tagung, der Hochspannung die Lösung folgen lassen. Es sind jüngst drei Büchlein erschienen, die von der Erlöstheits-Schönheit, welche der beste Geist des Katholizismus ausstrahlt, ein eindrucksvolleres Bild geben als vielleicht alle Literatur vorher. Deren erstes ist Peter Lipperts S. J. Wesen des katholischen Menschen (München 1923, Theatiner-Verlag) auf das schon Feldkeller in seinem Tagungsberichte hinwies; ich finde es ganz wundervoll. Deren zweites ist Romano Guardinis Liturgische Bildung (Burg Bothenfels a. M. 1923, Deutsches Quickbornhaus), ein selten feinsinniges und bestrickendes Beispiel katholischer Philosophie. Deren drittes Paul Ludwig Landsbergs kleine Schrift Die Welt des Mittelalters und wir (Bonn 1923, Verlag Friedrich Cohen)1. Bei letzterer geschichtsphilosophischen Studie über den Sinn eines Zeitalters, wie sie sich selbst heißt, kommt es offenbar nicht darauf an, ob alle Tatsachen richtig bestimmt sind: sicher hat Landsberg den ewigen Sinn jener zeitlichen Erscheinung richtig erfasst und eindrucksvoll herausgestellt. Was kennzeichnet nun diesen Sinn gegenüber dem anderer Zeitalter, zumal der protestantischen? Dass Mensch und Welt, in einen sicheren Heilsplan eingeordnet, wesentlich erlöst erschienen. Im Grunde kannte jenes Zeitalter, so wenig es sich dieses jemals eingestand, keine Sünde; ihm war die Verdammnis kaum mehr wie ein mathematischer Grenzbegriff. Nun machte sich das Mittelalter das Problem allerdings zu leicht. Zunächst haben, noch einmal, Barth und Gogarten recht. Wohl aber hat das Mittelalter als bisher erstes Zeitalter den Idealzustand im Gleichnis vorweggenommen.

1 Vom gleichen Verfasser ist seither eine Broschüre Wesen und Bedeutung der platonischen Akademie (ebenda) erschienen. Diese Arbeit empfehle ich noch mehr als die vorhergenannte; ich empfehle sie zumal den Freunden der Schule der Weisheit. Denn aus ihr, mehr als aus jeder anderen mir bekannten Schrift, ist zu ersehen, wie sehr das Darmstädter Werk, in völlig abweichender, zeit-, und umständebedingter Verkörperung freilich, dem Geist des Sokrates, mithin des geistigen Erzeugers Platons, gemäß ist.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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