Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
7. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1924
Bücherschau · Nibelungenlied
Zum Schluss eine Betrachtung über eine lehrreiche kleine Schrift, welche ich, der größeren Anregung halber, humoristisch-zynisch einleiten möchte. Der Darmstädter Archivar Jul. R. Dieterich hat in einem der reizvollen Bändchen der vom Grafen Kuno Hardenberg geleiteten Gesellschaft Hessischer Bücherfreunde
den Nachweis erbracht, dass es sich beim Nibelungenliede, wie es uns heute vorliegt, um nicht mehr und nicht weniger als einen Familienroman der im 12. Jahrhundert im Gebiet von Worms und Speyer vorherrschenden Geschlechter handelt. Für jede einzelne konkrete Gestalt des großen Nationalepos beinahe hat Dieterich das örtlich, zeitliche Vorbild genau bestimmt; von Tronje Hagen, Gernot, Giselher, Volker — sie haben alle genau so geleibt und gelebt, wie sie dargestellt wurden; nur eben in bescheidenerem Rahmen. — Der erste Eindruck der Kunde, die das Bändchen Der Dichter des Nibelungenliedes bringt, wirkt ernüchternd: das große Nationalepos ein Spiegel provinzlerischer Episode, ja örtlichen Klatsches… Bedenkt man aber weiter, dass der Urstoff nach wie vor der uralte Mythos bleibt und die Wirkung der Dichtung eben diesem entspricht, dann geht einem ein Licht auf. Goethe meinte, Shakespeare hätte nur deshalb ewige Menschentypen gestaltet, weil er in concreto überall leibhaftige Engländer darstellte, wie immer er sie benannte. So ist wohl das Nibelungenlied gerade deshalb eine so gewaltig-lebendige Dichtung, weil die Idee sich in ihr ganz erdgemäß verleibt hat. So mögen auch die Helden Homers dem empirischen Sosein kleinasiatischer Barone bescheidensten Formates nachgebildet worden sein: eben deshalb, nicht trotzdem konnten sie zu Sinnbildern eines Halbgottdaseins werden.