Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

8. - 9. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1924

Heilkunst und Tiefenschau · Medizinisch-praktische Fragen

Seit Dezember 1922 habe ich mich andauernd, theoretisch und vor allem praktisch, mit Psychoanalyse befasst. Meine nach der Niederschrift des ersten Aufsatzes über ihr Problem gemachten Erfahrungen haben die in diesem niedergelegte grundsätzliche Auffassung durchaus bestätigt. Insofern wüßte ich heute nichts Neues zu sagen. Aber ich bin jetzt in der Lage Verschiedenes bestimmter zu fassen, manche Einzelprobleme schärfer zu beleuchten und einiges Lebenswichtige gemeinverständlicher auszusprechen. Dies soll denn dieses Mal geschehen.

Zunächst einige Betrachtungen zur medizinisch-praktischen Frage. Es besteht kein Zweifel darüber, dass Psychoanalyse sehr viele Kranke, darunter auch scheinbar rein körperlich Kranke, heilt. Dies bedeutet an sich aber nicht, dass irgendeine ihrer bisherigen Theorien dadurch erwiesen wäre, sondern allein, dass bestimmten Menschen zur heutigen Zeit eine bestimmte Behandlungsart erfahrungsgemäß nützt. Es hat nämlich keine jemals moderne Heilmethode gegeben, welche sich nicht im gleichen Sinn bewährt hätte, wie Analyse heute; das heißt: auch die später widerlegte Mode war ihrer Zeit berechtigt. Wovon kann Heilerfolg unter diesen Umständen grundsätzlich abhängen? Wenn man erwägt, dass theoretisch als falsch oder doch nur teilweise richtig Erwiesenes oft nicht schlechter gewirkt hat wie die wissenschaftlich einwandfreieste Kur, ja, dass man diese Behauptung vielleicht noch extremer formulieren dürfte, insofern keine bisherige Behandlung wohl ganz richtig war, so gelangt man zur Annahme, dass, ganz allgemein gesprochen, vier Momente bei der Heilung den Ausschlag geben: die anregende Kraft der Behandlung, ihre Gemäßheit einer bestimmten Patienten-Natur, ihre Gemäßheit in bezug auf den Arzt, endlich die Sympathie zwischen Doktor und Patient. Unter allen Umständen heilt ein Kranker, wenn überhaupt, von selbst; kein Arzt vermag mehr, als den Heilungswillen zu unterstützen. Da diese Unterstützung nun in allen Fällen nur in zweierlei bestehen kann, nämlich im Ausschalten oder Aufheben schädigender Einflüsse und im Anregen der tieferen Lebenskräfte (welche beiden Momente ich auf den Generalnenner der Anregung bringe, da auch das Ausschalten nur insofern fördernd wirkt, als für den Aufbau Kräfte frei werden), so ergibt sich aus dieser einen Erwägung die Richtigkeit von Groddecks paradoxaler Behauptung, dass es überhaupt keine falschen Behandlungen gibt (ich weise auch an dieser Stelle auf sein im vorigen Heft dieser Mitteilungen besprochenes Buch vom Es, überdies auf seinen Roman Der Seelensucher hin; Groddeck ist der vorurteilsfreieste aller Analytiker und im übrigen der des Sinns seiner Kunst bewussteste Arzt, der mir begegnet ist).

Der sogenannte Körper und die sogenannte Seele sind beide letztlich Ausdrucksmittel eines Tieferen, nämlich des spezifischen Sinnes, den eine gegebene Lebensmonade verkörpert. Aller Wahrscheinlichkeit ist der Körper nur ein Materialisationsphänomen unter anderen, gemäß Geleys Theorie1, wie denn darüber überhaupt kein Zweifel besteht, dass es ein an sich Immaterielles ist, das auch die materiellen Lebenserscheinungen hervorbringt und reguliert. Deshalb ist es sachlich grundsätzlich gleichgültig, mit welchen Mitteln ein Arzt arbeitet, mit physischen oder psychischen, Medikamenten, Diät, Ruhe, Moralisierung, Analyse oder Suggestion — nur darauf kommt es an, dass diese anregend, und zwar in der richtigen Richtung anregend, auf das Sinn-Prinzip wirken. Hier aber reagiert jeder Mensch grundsätzlich verschieden. Wenn Kuren beinahe so stark wie Kleider der Mode unterliegen, was, entgegen dem vorhergehenden Satz, bei aller Verschiedenheit der Menschen in der Zeit die Gleichartigkeit aller Zeitgenossen zu beweisen scheint, so hängt dies hier wie dort an der gleichmäßigen Entwicklung des Unbewussten, somit der Grundlage aller individuellen Differenziertheit zusammen, die in Korrelation mit den geistigen Zeiteinflüssen verläuft (dieser letzte Gedankengang steht in meinen Betrachtungen über das Dritte Italien in der Bücherschau ausgeführt), welche Entwicklung ihrerseits gleichförmige Vorstellungen vom Heilungsziel und —weg ergibt, die unter allen Umständen als die zeitgemäßen Ausdrucksformen eines Wirklichen zu beurteilen sind — überdies mit der Tatsache, dass der Einfluss allein anregend wirkt, dem der Organismus sich noch nicht angepasst hat. Insofern ist Abwechslung als Überraschung des Organismus vielleicht das wichtigste an jeder Kur; deshalb werden mit Recht immer neue Medikamente erfunden, denn gegen jedes zu oft genommene wird der Organismus früher oder später immun. In diesem Sinne wirkt Analyse im orthodoxen Verstand auf viele solche schon heute nicht mehr heilend, welche das, was sie enthüllt, nicht mehr frappiert; so kann man mit Sicherheit voraussagen, dass sie als Allheilmittel ebenso aus der Mode kommen wird, wie dies mit früheren Heilarten geschah, sobald ihr geistiger Inhalt vom Zeitgeist assimiliert sein wird.

Diese Erwägung erklärt nebenbei, warum auch falsche Deutungen der Analytiker vielfach helfen: sie regen eben doch an. — Das zweite und dritte Moment behandele ich am besten auf einmal. Körperliches und Geistiges gehören nicht allein bei jedem einem einheitlichen Ganzen an — sie stehen in jedem Fall in einem besonderen Verhältnis zueinander und innerhalb jedes Teiles beider wiederum ist der lebendige Zusammenhang verschieden zentriert. Hieraus ergibt sich ein zweites Mal, dass jedem Menschen grundsätzlich Besonderes helfen muss. Der Stumpfe reagiert auf psychische Einflüsse schwer, der Übersensitive verträgt kein Gift. Bei jedem muss an dem Punkte angesetzt werden, von dem aus der psycho-physische Zusammenhang am besten in Bewegung gerät. Im genau gleichen Sinn hilft jeder Arzt auf die Methode am besten, die seiner eigenen schöpferischen Lebenskraft die beste Übertragungsmöglichkeit bietet. (Dass es auf diese Übertragung ankommt, wo immer es sich um ungewöhnliche Ärzte, von Wunderwirkern zu schweigen, handelt, brauche ich wohl nicht besonders nachzuweisen; jeder weiß, dass es steigernde und deprimierende Menschen gibt.) Deshalb hat jeder große Arzt, und dies mit vollem Recht, auf seine besondere Methode als Panacaea für sich selbst geschworen. Wie konnte dies aber in beinahe jedem bisherigen Falle zu dem Irrtum führen, dass der Betreffende seine Methode als absolut richtig oder gar einzig möglich hinstellte? Dies rührt daher, dass sich im Falle jedes außergewöhnlichen Menschen und jeder außergewöhnlichen Methode der Patient den Arzt wählt und nicht umgekehrt.

Auf Grund des Ahnungsvermögens des Unbewussten kommt es auf die Dauer in jedem solchen Falle dahin, dass zu bestimmten Ärzten nur solche gehen — hier wäre ich zugleich beim vierten Hauptmomente angelangt — welche zu ihm in Sympathieverhältnis stehen. So ist es durchaus nicht erstaunlich, dass jeder der analytischen Bahnbrecher seine besondere Theorie bestätigt gefunden hat: Anlass zum Staunen hätte man vielmehr, wenn die Bestätigung ausgeblieben wäre. Tatsächlich bestätigt kein Heilerfolg als solcher die Richtigkeit einer Theorie, die nicht so allgemeinorganische Verhältnisse beträfe, dass die persönliche Gleichung keine Rolle spielt. Wäre es anders, dann müsste Mrs. Baker-Eddy Science und Health den Höhepunkt geistiger Erkenntnis darstellen. Heilerfolg unter bestimmten theoretischen Voraussetzungen beweist zunächst nie mehr, als dass bei der gegebenen Gleichung zwischen Patient und Arzt eine bestimmte Theorie als Arbeitshypothese gute Dienste geleistet hat. So ist denn Heilen, wie weit die Erkenntnis auch fortschreite, unter allen Umständen keine Wissenschaft, sondern eine Kunst.

Kann es, wenn die Dinge so liegen, gar nichts Richtiges geben auf dem Gebiet der Medizin? Doch. Nicht allein gibt es auf allgemein-organischem Gebiete endgültige Erkenntnisse und daraus folgende allgemeingültige Methoden, weil es sich um eingefahrene Mechanismen handelt: solche finden sich genau so auf psychischem Gebiet. Aber es gilt zu erkennen, dass Mechanismen beim Menschen niemals letzte Instanz sind, weshalb die Richtigkeit im Sinn des Allgemeinerwiesenen praktisch niemals entscheidet. Deshalb soll man sich nicht wundem, wenn die Psychoanalyse — um ein besonderes Beispiel anzuführen — ihre Triumphe vorzüglich auf germanisch-protestantischem oder aber jüdischem Boden feiert, während sich zumal in Frankreich andere Theorien und Praktiken besser bewähren. Der unbefangen-realistische romanische Geist leidet sicher weniger an Verdrängungen als der germanisch-jüdische; dementsprechend leisten in Frankreich nicht allein andere Heilmethoden, sondern auch andere Diagnosen bessere Dienste (man studiere in diesem Zusammenhang das in seiner Klarheit klassische dreibändige Werk Pierre Janet’s Les médications psychologiques, Paris, F. Alcan). Und von hier aus gelangen wir denn zu einer weiteren Vertiefung unseres Einblicks in den Sinn ärztlichen Wissens und Tuns. Wer vorher nur analytische Literatur kannte und dann Janet studiert, entdeckt, dass die Psychoanalyse an Tatsachen viel weniger Neues zutage gefördert hat, als sie oft behauptet; nur ihre Deutung derselben ist neu. Ferner aber kann er bei genügend vielseitiger persönlicher Erfahrung das Urteil schwer umgehen, dass auch ihre Deutung nicht nur in sehr vielen Fällen, sondern oft auch grundsätzlich, dem letzten Sinn der Tatsachen weniger gerecht wird als manche voranalytische.

Meiner Überzeugung nach sind wohl alle Feststellungen, zumal Freuds, als Bestimmungen psychischer Tatbestände richtig. Leider gibt es aber auf psychischem Gebiet keine festen Tatsachen in dem Verstande wie auf physischem. Hier ist alles Sinnbild, von denen eines jedes andere spiegelt; hier verwandelt sich eine ununterbrochen in andere; deshalb beweist hier keine Tatsachenbestimmung je, dass eine gegebene Deutung die richtige ist. Was eine Tatsache ist, ergibt sich hier einzig aus ihrer Bedeutung im Gesamt-Sinneszusammenhang, denn hier schafft die Bedeutung den ganzen Tatbestand. So kommt alles auf die Zentrierung jenes an. Hier nun legt der Analytiker allzuoft den Akzent auf die falsche Stelle. Mir will sogar scheinen, dass die Akzentlegung der Nicht-Analytiker im allgemeinen und grundsätzlich als die richtigere anzusprechen ist, weshalb sich die heutige Analyse, fern davon, die Psychotherapie von sich aus umzuwälzen, auf die Dauer als bestimmte und nur für besondere Fälle geeignete Technik dem alten Erfahrungszusammenhange eingliedern dürfte. Nicht immer bedeutet das Sexuelle, so einwandfrei es im Unbewussten nachgewiesen sei, was die Freudianer behaupten, nicht immer der Machttrieb; jedermann hat Komplexe und nur einige werden an ihnen krank. Schon innerhalb des Analytikerkreises deuten ja Freud, Adler und Jung die gleichen Tatbestände grundverschieden. So oft Analytiker recht haben: sofern man überhaupt verallgemeinern darf, scheint mir das Urphänomen beim Neurotiker, der Nicht-Analytiker-Deutung gemäß, sein Depressionszustand, nicht Verdrängung usw., zu sein, denn der von Hause aus im Gleichgewicht befindliche wird von keinem Erlebnis überwältigt. Bei den Komplexen liegt das Problem grundsätzlich nicht in ihrem Vorhandensein, sondern darin, dass bestimmte nicht assimiliert wurden; bei den Traumas, dass ein Erlebnis nicht liquidiert ward; und so fort. Wenn Analyse, wie Freud mit Recht sagt, vom Widerstand lebt, so hängt dies einerseits mit Groddecks trefflicher Formulierung zusammen, dass jede Heilung den Sieg im Kampf zwischen Lebens- und Todeswillen bedeutet, weshalb jeder Widerstand (ob in Form des Widerstands im analytischen Sinn oder als Rückfall, Nicht-besser-werden-Wollen, Verschlimmerung, gleichviel) im allgemeinen als Übergewicht des Todestriebs und im besonderen als Zeichen der Stelle zu deuten ist, an der bei der Unterstützung des Lebenswillens anzusetzen ist, — andererseits wohl mit der altbewährten Tatsache, dass es eine Anstrengung zu machen gilt, wenn die innere Spannung auf ein höheres Niveau gehoben werden soll; und Unangenehmes auszusprechen, erfordert eben die zu tiefst wurzelnde Anstrengung.

Ebenso ist wohl die Bestimmung seelischen Gleichgewichtsmangels vermittels des Koordinatensystems Sadismus — Masochismus vielfach irreführend; was von gewissen Ärzten grundsätzlich so gedeutet wird, ist in der Fälle Mehrzahl wohl das krampfhafte Versuchen des irgendwie psychisch Schwachen, sich durch Erregung in einen solchen Gleichgewichtszustand hineinzusteigern, der eine sonst unlösbare Aufgabe lösbar erscheinen lässt, oder aber ein Mittel, die tieferen Schöpferkräfte anzuregen. Es handelt sich also um unter den gegebenen Verhältnissen Normales. Übrigens treffen die hier angeführten Einwände gegenüber Jung und seiner Schule, zumal gegenüber Beatrice M. Hinkle, die, wie ich nochmals betonen möchte, das bisher vernünftigste allgemeinverständliche Buch über Analyse geschrieben hat, kaum mehr, und gegenüber Poul Bjerre überhaupt nicht zu. —

Der erkenntnis-theoretische Kern aller Analytiker-Irrtümer ist nun der folgende: Es kann überhaupt keine richtige Theorie des Seelenlebens nach dem Bilde der Mechanik geben. Die seelische Energie ist nicht gleichartig mit den physischen, der Satz von der Erhaltung der Kraft gilt für sie nur zu einem geringen Teil; Diagramme, wie solche Freud in seinem Buch vom Ich und Es nach anatomischem Muster hinzeichnet, sind notwendig irreführend; sowohl Freuds wie Jungs Libido sind nur als hindeutende Sinnbilder eines noch nicht Erkannten, allenfalls Geahnten als Wirklichkeiten ernst zu nehmen. Und wenn gerade Freuds Theorie, die mechanischste von allen, zu den besten Heilerfolgen führt, so hängt dies wohl folgendermaßen zusammen: die meisten heute Lebenden sind Kinder des mechanisch denkenden Zeitalters: deshalb leuchtet ihnen jede mechanische Fassung am ehesten ein, dient sie am leichtesten als Erkenntnis-Betätigungsorgan. Ferner ist Freud von allen der beste Beobachter; er hat unter allen Umständen auch Recht. Da nun der lebendige Sinneszusammenhang ein allseitiger, sich allseitig spiegelnder ist, so führt jede präzise Bestimmung die Erkenntnis weiter als eine unpräzise. Einer allgemeinen Einstellung wird man sich im Wiedererleben eines konkreten Ereignisses am ehesten bewusst — deshalb erzielt kausale Reduktion eines Traumas häufiger Heilung als jede intellektuell unbestimmtere Behandlung. Hier arbeitet das Korrelations­gesetz von Sinn und Ausdruck am meisten zu Freuds Gunsten, da er von allen Analytikern bei weitem der schärfste Denker ist. Endlich ist wohl kaum zu unterschätzen, dass gerade das Abstoßende von Freuds Fassungen diese so anregend macht. Es ist die alte Geschichte von der bitteren Arznei. Richtig verstanden wird das Ergebnis aller Seelenforschung dann erst werden, wenn allgemein von der Voraussetzung ausgegangen wird, dass der psychische Organismus ein Sinneszusammenhang ist, weshalb jede Theorie, die dem nicht an erster Stelle Rechnung trägt und sich auf den Gesetzen seiner Übertragung ins psychische und physische Medium aufbaut, grundsätzlich falsch ist. Gerade hier liegt ja auch das wirklich Bahnbrechende an Freuds Lebenswerk: er als erster unter Medizinern hat den sinnbildlichen Charakter aller Lebenserscheinungen ganz klar erkannt und zum Eckstein seiner Auffassung gemacht.

1 Vgl. De l’inconscient au conscient, Paris, F. Alcan.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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