Schule des Rades
Arnold Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
Neuentstehende Welt
Einführung · VI. Etappe
Immer wieder kam Hermann Keyserling auf die Lehre des Konfuzius zurück, das erste, was ein Fürst zur Gesundung des Reiches unternehmen müsse, sei die Richtigstellung der Bezeichnungen
. Wenn die Worte nicht der Wirklichkeit entsprechen, dann kann der Mensch nicht den Sinn entdecken und ihm zufolge handeln. Die wesentlichste Richtigstellung nun wäre auf dem Gebiet der Psychologie und der Kriterien des persönlichen Lebens zu vollziehen.
Psychologie als Wissenschaft gibt es erst seit Ende des vorigen Jahrhunderts; vorher war die Lehre des menschlichen Verhaltens Teil der philosophischen Ethik, in der man die formale Ethik — das richtige Handeln sei frei, aus dem Moment heraus, durch Bezug auf den Mitmenschen zu ermitteln, wie bei Sokrates und Kant — und die materiale Ethik, wie etwa die christliche und marxistische, aber auch die bürgerliche der Ethos des Arztes unterschied. Mit dem Behaviorismus versuchte man, das tatsächliche Verhalten der Menschen zu bestimmen, und aus diesen statistischen Erkenntnissen die bestmöglichen Bedingungen herauszuschälen — eine Richtung, die mit William James, McDougall, Watson und vor allem John Dewey zur tragenden Philosophie Amerikas wurde. Doch später begann die ätiologische Fragestellung nach zeitlichen Ursachen psychosomatischer Krankheiten in Erlebnissen und Liebesentzug in den Vordergrund zu treten: es gäbe objektive Gründe für das seelische Scheitern, und wenn man diese ausmerze oder kläre, wäre die Gesundheit wieder hergestellt.
Bereits in der fünften Tagung hatte sich Hermann Keyserling mit dem Unterschied von Psychoanalyse und Selbstvervollkommnung auseinandergesetzt, welche in der Gegenwart durch die humanistische Psychologie, wie schon gesagt, im Gegensatz von Therapie und Wachstum erneut in den Vordergrund gerückt ist. Wenn nun aber im Sinne des Wachstums das Problem nicht ein äußerliches, also auch kein Trauma, sondern die richtige Einstellung ist, dann sind alle Methoden Freudscher, Adlerscher und Jungscher Art nur Hilfsmittel; der Schlüssel zum geistigen Weg liegt darin, seinen Organismus nicht zu bewerten, sondern ihm zum Ausdruck seines Mythos zu erheben, seiner eigenen Möglichkeit oder Zeitgestalt.
Besonders in der Auseinandersetzung mit Jung in der Reise durch die Zeit
kommt dies zum Ausdruck. Für Jung war die Therapie diesseits des geistigen Weges, er versuchte Menschen an ihre religiösen Vorstellungen zurückzubinden; er wählte den gnostischen Weg, wie seine Erinnerungen gezeigt haben, nur für sich selbst; man dürfe nicht seinem eigenen Mythos folgen — die offensichtliche Gefahr der Schizophrenie mache die Weisheit der religiösen Überlieferung glaubhaft, zwischen positiven und negativen, himmlischen und teuflischen Bildern zu unterscheiden.
Diese Haltung bleibt aber letztlich im Ideologischen stecken: die Urausdrücke des Geistes sind für Hermann Keyserling Mut und Glauben, nicht plausibles für Wahr-Halten. Der Luzifermythos war für ihn wesentlich, der erst in der alexandrinischen Epoche verurteilt wurde: der schönste Engel könne selbst wieder zum Engel werden, wenn er sich wieder zum Bringer des Lichtes, also der Inspiration, bekennt und dadurch seinen Irrtum der Selbstbespiegelung ungeschehen macht, ja er erweist sich als der wahre Freund des Menschen, wie er ja auch in der gnostischen Überlieferung als Bruder Christi galt.
Oft zitierte er Goethes Wort: Lass mich scheinen, dass ich werde
: Arroganz bedeutet letztlich Vorwegnahme. Jeder weiß innerlich, wozu er berufen ist, und wenn er das Grundvertrauen nicht verliert, dann wird jede Inspiration, jedes Ereignis ihn weiter führen. Darum ist die ätiologische Einstellung außerhalb der medizinische Anamnese falsch — es handelt sich darum, das Zutrauen zur Einbildungskraft wieder zu finden, das Mögliche im Augenblick zu verwirklichen.
Diese Verwirklichung verlangt nun eine gesunde Psyche. Manche Analytiker sind selbst kranke Naturen, und finden im anderen die eigenen Schwächen wieder, so dass sich geradezu hysterische Gruppen bilden können. Seelische Probleme sind nicht zu lösen, sie erledigen sich, wenn die Ebene des Lebens als Kunst erreicht wird.
Was in allen Kulturen und Traditionen der Welt als edles und vornehmes Leben betrachtet wurde — Höflichkeit, Ritterlichkeit, Takt, Beschränkung auf Einsichten, Aufgeben der Meinungen — ist letztlich zu begreifen als das psychische Wohlsein, welches nicht geistig zu verstehen ist, sondern nichts anderes bedeutet als bewusste oder tradierte Wiedererinnerung der Welt der Instinkte. Überall, wo eine Kultur durch längere Zeit sich geistig offen erhalten konnte, sind die gleichen Werte vertreten worden. Aufgabe der Psychologie wäre es also, die menschlichen Verhältnisse kritisch zu durchschauen und Methoden zu entwickeln, die jedem ermöglichen, die Ebene des Lebens als Kunst zu erklimmen.
Bereits in den Darmstädter Jahren war Hermann Keyserling auf das Problem der Ehe eingegangen, nun trat das Verhältnis zu Beruf und Kindern hinzu. Der Vater möge den Pol der Distanz, die Mutter jenen der liebenden Geborgenheit vertreten. Eltern, die versuchen kameradschaftlich auf einer Ebene mit den Kindern zu leben, berauben diese der Möglichkeit aus Zwei Eins zu werden. Wenn Sokrates erklärt hatte, sein Vater sei ein Bildhauer, seine Mutter eine Hebamme gewesen, er sei Philosoph, welches sich damit als Vereinigung von Bildhauerei und Hebammenkunst, Anamnese und Maieutik verstehen lässt, so sprach er wahr für alle: anstelle falscher Ideologien muss der Mensch psychisch von seinen vitalen Wurzeln ausgehen; aber nicht wie manche Freudianer in der Behandlung des Ödipuskomplexes meinen, um die Spannung aufzulösen, sondern um die Tiefenmotivierung zu erkennen, die darinnen besteht — wie die Chinesen es geschildert haben — dem eigenen Vater für das zu danken, worin er gescheitert ist, wo er Probleme offen ließ, weil darin das Kind lebendig anknüpfen kann, während das Zutrauen zur Mutter auf die Bereitschaft gerichtet bleibt, immer wieder neue Möglichkeiten des Handelns und der Aktualisierung zu finden. Demokratie, geistig verstanden, bedeutet nicht Nivellierung der Menschen auf den niedersten gemeinsamen Nenner, sondern Anheben des Niveaus aller auf jenes, welches früher die selbstbestimmten Individuen, die Edelleute auszeichnete. Somit erweist sich die richtig gestellte Psychologie als ein bewusstes Erkennen jener Sitten und Verhaltensweisen, welche manche Kulturen zu einem Leben in Schönheit und Güte geführt hatten — nun aber unterstützt durch die Wahrheit und Wahrhaftigkeit.
Um dies zu veranschaulichen, gab Hermann Keyserling in seiner Reise durch die Zeit
eine Polarisierung zu allen Zeitgenossen: das Ziel der menschlichen Gesellschaft ist nicht die Gemeinschaft, auch nicht mehr die Gemeinde im Sinne Bubers, sondern die Freundschaft, wo man sich an der Verschiedenheit des anderen freut und diese bejaht, ja sogar konstelliert. Jeder Mensch kann dem anderen förderlich werden — können zu Sinnbildern werden, wenn man vorurteilslos in diese versenkt, sie als Sosein bestehen lässt.
Hier erlebte der Philosoph die historischen Wurzeln seiner Einstellung in seiner baltischen Vernunft: niemand konnte dort mehr werden, als er war; und er spürte, dass diese Haltung — das Finden des natürlichen Wirkungskreises als Voraussetzung des erfüllten Lebens — zum allgemeinen Postulat der Zukunft jenseits der ideologischen Kriege werde, welche nicht zur geistigen, sondern zur biologisch-geologischen Rollenfindung des Menschen auf der Erde zu rechnen sind: die geistige Revolution stehe uns noch bevor.