Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
8. - 9. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1924
Bücherschau · Das dritte Italien
Schon einmal wies ich auf Rabindranath Tagores Zeitschrift Visva-Bharati Quarterly
(10, Cornwallis Street, Calcutta) hin: heute möchte ich an den Eindruck des letzten Hefts derselben eine allgemeine Betrachtung knüpfen, die an jeder anderen wirklich guten Zeitschrift, welche von Asiaten herausgegeben wird oder an der solche schreiben (von letzteren nenne ich noch einmal The Herald of the Star
, herausgegeben von J. Krishnamurti, Ausgabe 6, Tavistock Square, London W. C. I. wegen ihres überraschend hohen Niveaus), eine grundsätzliche Bestätigung erfährt: nämlich, dass die Gleichgewichtsverschiebung in Europa ein reines Nichts ist, verglichen mit der zwischen Orient und Okzident. Politisch ist deren wahres Gesicht noch kaum offenbar geworden. In der Welt des Geistigen und Seelischen erscheint sie schon jetzt so groß, wie sie in gleich kurzer Zeitspanne vielleicht noch nie in der Geschichte erfolgt ist. Hier bedeutet nämlich die Akzentlage alles; hier schafft das Ansehen
, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne, die Wirklichkeit. Und seit dem Weltkriege sieht uns der gesamte Osten so anders an, dass ein Vergleich mit früher kaum mehr möglich ist. Der Unterschied lässt sich in einem Satze fassen: In des Ostens Augen sind wir unsere eigenen Klassiker geworden. Vor dem Kriege eiferte er uns nach, nicht nur äußerlich, was er ja heute noch tut, sondern vor allem innerlich; er fühlte sich nicht allein als Schüler, sondern unterlegen. Heute studiert er unsere Errungenschaften in keinem anderen Geist, als wie wir Lateinisch und Griechisch lernen; deren Übernahme ist ihm einerseits kein Problem, andrerseits kein Letztes mehr. Und betreibt der Westen nur noch wenige Jahrzehnte entlang auf die seit zehn Jahren übliche Weise Selbstvernichtung, so wird jener uns bald nicht viel anders ansehen wie die gebildeten Gotenfürsten den Römling und Gräculus. Das Fortbestehen unserer Zivilisation steht heute überhaupt nicht mehr in Frage. Desto fraglicher ist, ob wir sie weiterführen werden.
Ich begnüge mich mit diesen wenigen Sätzen, damit jeder Leser von sich aus desto gründlicher weiterdenke. Und möchte meinerseits von hier aus nur kurz ein weiteres Problem berühren: nämlich inwiefern und bis zu welchem Grade lange Zeiträume in der Kulturentwicklung unabwendbar sind. Der Glaube an schnellen Fortschritt darf heute wohl als ad absurdum geführt gelten. Kulturelle Erbmasse ist ein anderes als kulturlose und die Vererbung erworbener Eigenschaften1 kein schnellablaufender Prozess. Aber vielleicht sind sogar so lange Zeitabstände, wie sie in der bisherigen Geschichte Kulturblüte von Kulturblüte trennen, und für die man bisher unglückliche Zufälle verantwortlich machte, physiologisch notwendig? Vielleicht braucht die einzelne Seele, der Reinkarnationslehre entsprechend, wirklich Jahrtausende, um die Erfahrung auch nur eines Erdenlebens ihrem Organismus einzubilden? Vielleicht können wir das, was uns fehlt und was wir erringen zu müssen wissen, vor vielen Jahrhunderten nicht zum Erbe gewinnen? Vielleicht sind die Orientalen, nach langer Ruhepause, gerade dazu reif geworden, dort anzuknüpfen, wo wir zu versagen beginnen? Ich gebe hier keine Antwort, sondern frage nur.
Aber wie kritisch unsere Lage auch vom Zeitstandpunkt ist, insofern es heute Völker gibt, die unser Fertigsein nicht abzuwarten brauchen, geht vielleicht aus dem folgenden Aufsatz hervor, den ich im Sommer in verschiedenen Zeitungen veröffentlichte und nun auf dem Hintergrunde des vorher Gesagten zu betrachten bitte. Ich setze ihn hierher. Er heißt:
Das dritte Italien
Dass Italien heute, gegenüber der Vorkriegszeit, von allen Ländern am meisten in positivem Sinn verändert erscheint, darüber sind sich alle Urteilsfähigen wohl einig. Diese lassen sich auch durch den Matteotti-Fall und dessen unmittelbare Folgen nicht beirren: in einem so verschwörerischen und zugleich so lauten Lande wie Italien bedeutet er eher weniger denn mehr als die ähnlichen Vorkommnisse, die seit dem Weltkriegsende in beinahe jedem Lande mehr oder weniger erfolgreich totgeschwiegen werden. Es bleibt also wahr: Nicht allein ein neuer, sondern ein besserer Geist beherrscht heute die italienische Nation. Wenn sich die Veränderung der Weltlage in Ost- und Mitteleuropa vorzüglich in Auflösungserscheinungen äußert, in England in einer Konzentration aller Kräfte auf gleichsam molekulare Umlagerung, die jene so vollständig absorbiert, dass nach außen zu kaum Energien frei werden, und in Frankreich in ängstlicher Bestrebung, das Bestehende trotz allem zu erhalten, worin Herriot mit Poincaré zwangsläufig eins geht und was heute nur die Vorstufe von Radikalisierung und keine Lösung im Sinne des endgültigen Neuaufbaues bedeuten kann, so ist in Italien gerade eine solche offenbar im Gang. Wie ist das möglich? Wie konnte es so kommen? Was folgt daraus für andere Völker? Ich will versuchen, diese wahrhaft schicksalhaften Fragen, in ihren Grundlinien wenigstens, zu beantworten.
Italiens Neuaufstieg ist nicht die Folge des Fascismus und nicht an erster Stelle das Werk Mussolinis — wie es denn durchaus möglich ist, dass sich die fascistische Partei von ihrer heutigen Kompromittierung nie erholt und Mussolini so oder anders fällt; der Fascismus und seinHerzogsind vielmehr die Vollender eines langen, sehr langen Wachstums, und Reifeprozesses, der unaufhaltsam fortschreitet, was immer seinen jeweiligen Vorkämpfern passiert. Der Kern des Problems von Italiens heutiger Vorzugsstellung lässt sich, soweit vom unzurückführbaren Umstande der Anlage und deren Verhältnis zu den Zeitaufgaben abgesehen werden darf, in die folgenden zwei kurzen Sätze fassen: dass Italien die große Umwälzung, welche der Weltkrieg im übrigen Europa erst einleitete, schon mit Cavour durchlebte und insofern sozial um dreiviertel Jahrhundert älter ist, und dass es in der Zwischenzeit zwischen damals und heute, an äußeren Erfolgen arm, nahezu unbeachtet blieb, weshalb die intimen Kräfte der Nation sich nicht in äußerer Schaustellung vorzeitig verausgaben konnten. Die Gründung des dritten Italien zerstörte das vorangehende grundsätzlich nicht minder gründlich, wie Weltkrieg und Revolution dies mit Mittel- und Osteuropa taten; sie leitete eine grundsätzlich gleiche Veränderung und Verschiebung aller bestehenden Verhältnisse ein. In den langen Jahrzehnten von Cavour bis 1914 war, unsichtbar zunächst, ein neues, lebendiges Gleichgewicht von Volkskörper und —seele erwachsen. Kein Wunder daher, dass die Schmelzhitze der Kriegszeit, die im übrigen Europa Zerstörung bedinge, in Italien das genaue Gegenteil: die neue Synthese schuf, Dass zu diesem Ergebnis auch sogenannteZufällebeitrugen, ändert nichts am Sachverhalt, weil ohne sinnvolle Zufälle noch kein geschichtliches Ereignis zustande kam. Die Zufälle, die Italien zu Hilfe kamen, waren in der Tat selten sinnvoll. Der Ausgang des Krieges hat bewirkt, dass dieser für Italien, und zwar für Italien allein, völlig gleichgültig, aus welchen Beweggründen es zunächst in den Krieg mit eintrat, eine unbedingte praktische Rechtfertigung idealer Gesinnung bedeutet hat. Italien hatte zwar gesiegt, doch nicht so viel, dass der brutale Machttrieb das seelische Übergewicht gewinnen konnte, es hatte materiell nur wenig, ideell und moralisch unermeßlich viel gewonnen, denn in seinem Fall bedurfte, nichts anderes wie einstmals bei der Erschaffung des Preußenstaats, die reine Selbstsucht der Anerkennung idealer Werte, um sich befriedigt zu fühlen; diese jedoch musste Italien innerlich desto mehr betonen, als es wohl wusste, dass sein Verhalten vor und während des Krieges nicht immer ideal gewesen war.
So hat erst der Weltkrieg das dritte Italien geboren. Alles Vorhergehende gehört in das Gebiet der Embryologie. Betrachtet man die Tatsachen aus dem Gesichtspunkte dieser Erkenntnis, dann werden sie mit einem Male verständlich. Die Erfahrung des einen letzten Jahrzehnts hat jedem, der es bewusst verstehend durchlebte, einen Einblick in das Walten jener Gesetze geben müssen, welche Völkerschicksal schaffen. Es ist nicht so, dass die Nationen, um nur die eine Seite zu beleuchten, jeweilig Torheiten begehen, dieselben dann einsehen und zum besseren Früheren zurückkehren: ein dem Früheren Entsprechendes wird vielmehr erst dadurch wieder möglich, weil Andersartiges inzwischen durchlebt ward.
Der seelische Prozess ist ein genau so physiologischer Wachstumsvorgang wie der physische. Wie das werdende Leben in Wechselwirkung mit der Umwelt Gestalt gewinnt und jede bestimmte Phase, wie immer sie sonst erscheine, den zur Zeit einzig möglichen Gleichgewichtszustand darstellt, so ist auch die Folge der historischen Zustände ein unbedingt Notwendiges, durch keinerlei Vernunfterwägung zu Änderndes, soweit eine bestimmte Folge geistiger Einflüsse gegeben ist, welche stark genug sind, um das seelische Gleichgewicht zu verändern. Und Ideen sind für bewusst denkende Wesen genau so zwingende Reize wie Chemikalien für Protisten. Hieraus erklärt sich die Einsinnigkeit des Geschichtsprozesses überall, wo geistige Entwicklung vorliegt: mit den in logischer Folge einander ablösenden Ideenkomplexen müssen sich alle Völker, die ihrem Einflusse ausgesetzt sind, auseinandersetzen, um ihr biologisches Gleichgewicht zu behaupten.
So hat sich kein europäisches Volk den Ideen der Reformation, der französischen Revolution, der Demokratie, des Parlamentarismus entziehen können; gleiches wird mehr und mehr vom Sozialismus und Bolschewismus gelten. Aber freilich reagiert jedes Volk verschieden, je nach Anlage und Entwicklungsstufe und —rhythmus. Auf ersteres Moment brauche ich hier nicht einzugehen, da es sich um eine jeweilige Sonderkonstante handelt. Was nun das zweite betrifft, so müssen gleiche Einflüsse offenbar verschiedene Erscheinungen auslösen, je nach der Entwicklungsphase, in der sich ein Volk befindet. Alte Völker, die schon sehr viele Ideen assimiliert haben (Frankreich, England), sind gegen neue, die deren Nachkommen sind, insofern immun, als es ihnen gelingt, dieselben ohne pathologische Gleichgewichtsstörungen in sich aufzunehmen. In ähnlich glücklicher Lage sind anderseits ganz junge (Amerika, manche der als Folge des Weltkrieges neuentstandenen Nationen), insofern die neuen Ideen überhaupt kein altes Gleichgewicht stören und ohne weiteres die entsprechende innere Antwort auslösen. Am schlimmsten daran sind solche Völker, deren Fortschritt insofern einseitig verlief, als sie in bestimmten Hinsichten an der jüngsten Entwicklung teilgenommen hatten, in anderen, künstlich zurückgehalten, wiederum gar nicht. Das seelische Gleichgewicht solcher ist ein eminent gefährdetes; wird dieses überhaupt erschüttert, so muss dies zu Katastrophen führen. Diese eine Erwägung erklärt das Schicksal Russlands, Deutschlands und des alten Österreich. Wann nun eilt ein Volk der allgemeinen Entwicklung eines Kulturkreises voraus? Wenn es ihm, dank irgend, welchen Gründen, gelingt, die innere Gleichgewichtsverschiebung, welche die Assimilierung der Geistesentwicklung fordert, im stillen dennoch vollständig und beschleunigt durchzumachen, so dass es den jüngsten Einflüssen nicht als einem Fremden, sondern als dem ihm selbstverständlich Gemäßen gegenübertritt. Aus keinem anderen Grunde war der gleichbegabte Junge in kritischen Zeiten den Alten immer überlegen; aus keinem anderen nimmt der Weise das Schicksal vorweg — da alle möglichen Konflikte sich bei ihm von Haus aus innerlich erledigen, so kann kein äußerer Zufall sein Gleichgewicht gefährden. Aus diesen allgemeinen Erwägungen ergibt sich nun völlig eindeutig die heutige Vorzugstellung Italiens. Die Zerstörung des alten Gleichgewichtszustandes erfolgte schon zur Zeit Cavours. Seither stand es allen wirksamen Einflüssen offen, konnte aber anderseits keine bestimmte Phase als Dauerzustand aus sich herausstellen und sich alsdann auf diesen, wie auf ein Skelettgerüst, festlegen. Also wirkte der Entwicklungsimpuls uns unterbrochen innerlich weiter. Alle seelischen Konflikte, die in anderen Ländern in Form äußerer Auseinandersetzungen abreagiert wurden, wurden hier von vornherein zu innerlichen Bildungsmotiven. Also konnte Italien zur allgemein-europäischen Schicksalsstunde weder sozialistisch noch bolschewistisch werden, es konnte anderseits auch in keinerlei Reaktion verfallen, weil es über diese Phasen innerlich bereits hinaus war. Die betreffenden Probleme stellen sich Italien nicht mehr. Daher bedurfte es nur desBewusstmachersdafür, wozu eigentlich alle innerlich reif waren, damit der neue zeitgemäße Gleichgewichtszustand mit einem Male Gestalt gewann.
Den äußeren Anlass gab die vom Standpunkt Italiens reaktionäre rote Phase. Dank dieser hatten die ersten bewussten Vertreter des Neuen, nämlich die Fascisten, von vornherein gewonnenes Spiel. Nun gaben sie dem innersten Fühlen und Wissen aller besten Ausdruck, insofern sie erklärten, die moderne Entwicklung sei über Parlamentarismus, Parteiwesen, Demokratie und Sozialismus hinaus, denn unbewusst war dies tatsächlich der innerlich maßgebende Teil des italienischen Volks. So wurde dasHerzogtumBenito Mussolinis möglich. Dieser ist nicht etwa derstarke Mann, der die bebende Masse zwänge: seine Bedeutung beruht auf seinem Repräsentantentum. Bei ihm bewahrheitet sich wieder einmal Bismarcks Wort:Der Mann ist gerade nur so groß wie die Welle, die unter ihm brandet.Der große Mussolini ist möglich, weil es Tausende kleinerer Mussolinis gibt, die ihm Gefolgschaft leisten, und Hunderttausende, welche diese als Wortführer innerlich anerkennen. Sollte Mussolini fallen oder seine Partei versagen, so werden die gleichen Umstände, die jene emporgetragen, unweigerlich ihren Erben zugute kommen.
Was der Fascismus—eigentlichsei, darüber will ich hier nichts sagen. Da es sich bei ihm um den ersten positiven Ausdruck des neuen organischen Gleichgewichtszustandes handelt, welcher den letzten, dessen Geistesgehalt aus dem achtzehnten Jahrhundert datiert, ablösen kommt, so kann man dies noch nicht wissen. Und voraussagen lässt sich das Rationale allein, nie eine Synthese von Rationalem und Irrationalem, als welche alles Lebendige ist. Der Fascismus ist ja gerade kein Programm, keine abstrakte Ideologie; gemäß dem Gesetze des historischen Kontrapunkts stellt er eben den Kontrapunkt zur letzten Periode dar; er ist also antisentimental, antiliberal, antiquantitativ, antiabstrakt usw.; insofern ist er mit dem Bolschewismus eines Geists, der seinen negativen Gegenpol bedeutet und eben deshalb neben dem Fascismus die einzige geistige Macht ist, welche historische Zukunft hat. Ich will diese Betrachtungen vielmehr mit einer Nutzanwendung des italienischen Beispiels auf das mögliche Schicksal des deutschen Volkes abschließen. So resümiere ich zunächst kurz: Im fascistischen Italien ist das dritte Italien erst wirklich geboren worden; alles Vorhergehende seit Cavour war Embryonalphase. Die fascistische Neuzusammenfassung ist möglich, weil Italien alle vorhergehenden Einflüsse innerlich schon verarbeitet hat. Wenn jene Zusammenfassung trotz aller Konvulsionen der Nachkriegszeit gelingt, so rührt dies daher, dass sie das Ergebnis eines achtzigjährigen, langsamen Reifevorganges darstellt. Hieraus folgt zunächst ganz allgemein, dass die fascistische Lösung dort allein überhaupt historisch möglich ist, wo die vorhergehenden Phasen innerlich erledigt sind. Hieraus folgt im besonderen, auf wie lange Zeiträume sich Deutschland innerlich gefasst machen muss, um über den heutigen Zusammenbruch zu neuer Größe hinauszuwachsen. Die politisch viel begabteren Italiener, die keine äußere Katastrophe zu überwinden hatten, haben beinahe ein Jahrhundert gebraucht, um aufs neuein Verfassungzu gelangen. Und hieraus ergibt sich weiter die Lächerlichkeit der Erwartung so vieler Deutscher, es könne schon morgen wesentlich besser werden. Das Zerrbild des heutigen Deutschland ist doch keine Zufälligkeit: es ist der notwendige Ausdruck der inneren Verfassung der deutschen Seele, die, bis 1918 vor den formenden Einflüssen der allgemein-europäischen Umwelt künstlich bewahrt, nun ihr Gleichgewicht verloren hat. Dieses wiederzuerlangen, wird notwendig sehr lange dauern. Jeder äußerliche deutsche Fascismus wird zunächst unabwendbar dem roten Gedanken zugute kommen, jede künstlich aufgezwungene Reaktion nur schlimmere Katastrophen einleiten. Heute kann Deutschland nur eines tun, sich fest dazu entschließen, gleich Italien von Cavour bis zum Weltkrieg, alle Kraft auf innere Wandlung einzusetzen, um sich vielleicht — zu hoffen ist jedermann erlaubt — wieder gleich Italien irgendeinmalvon selbstan der Spitze der Entwicklung zu befinden. Einen anderen Weg zum Neuaufstieg gibt es nicht. Und hier gelangen wir zur letzten und wichtigsten Parallele: Deutschland muss genau so in Bismarcks Werk allererst hineinwachsen, wie dies Italien in bezug aufs Werk Cavours getan. Dass jenes zeitweilig zerstört werden konnte, liegt einzig daran, dass es einem zu ihm noch unreifen Volke aufoktroyiert worden war. Hieraus ergibt sich denn eine ernste Mahnung an die Adresse derer, die das demokratische Deutschlandwiderlegtwähnen. Kein historischer Gleichgewichtszustand, auch der labilste, ward jemalswiderlegt. Man kann unglücklichen nur entwachsen, indem man einen Zustand verwirklicht, der gegen die Gefährdungen früherer gefeit erscheint. Wenn die deutschen Rechten alten Schlages heute glauben, ihre Stunde sei schon wieder da, so sind sie in gröbstem Irrtum befangen; erst wenn sie alle geistigen Zeitinhalte innerlich verdaut haben, erst dann werden sie positive Arbeit im großen leisten können. Denn wenn das starke Deutschland von einst dem Zeitgeist nicht dauernd Trotz zu bieten vermochte, so wird dies dem geschwächten von heute keinen Monat über je gelingen.
Ich will diesen Aufsatz hier nicht weiter kommentieren. Doch wer von den unanfechtbaren Tatsachen aus, die er behandelt, beliebige Geschichtsphilosophien im Geiste überschaut, von denen jede, in irgendeiner Form, die Notwendigkeit der Ablösung der Kulturen und die Selbstverständlichkeit langer hierzu erforderlicher Zeiträume behauptet, und zugleich seines persönlichen Wollens und möglichen Vollbringens gedenkt — der entrinnt schwer einem Schauer vor dem, was wir zunächst nur unter dem dunklen Begriff des Schicksals fassen können. Hat persönliches Wollen und Streben unter diesen Umständen Sinn? Und wenn, dann welchen? Kein Mensch ist selbstlos genug, um aufrichtig in unpersönlichem Fortschritt, sofern solcher überhaupt statt hat, persönliche Befriedigung zu finden. Die Geschichte ist allerdings tragisch durch und durch. Der Bericht über die diesjährige Tagung hat denen, welche diese nicht mitmachten, die grundsätzliche Antwort auf die hier nur aufgeworfene Frage schon gegeben. An dieser Stelle möchte ich nur noch auf eins der interessantesten Bücher über Geschichtsphilosophie, das unsere Zeit hervorgebracht, nämlich auf Nikolai Berdjajews Sinn der Geschichte hinweisen, weil ich hoffen darf, dass es bis zum Winter bereits auch der deutschen Leserschaft vorliegen wird (bei Otto Reichl, Darmstadt). Berdjajew, ein tiefreligiöser Russe, sieht alle Geschichte, wie kein echter Russe dies jemals anders tat, im Licht der Apokalypse. Für ihn liegt der Sinn der Geschichte deshalb folgerichtig in deren Ende. Alles Historische muss für ihn schlecht, als Misserfolg enden. Aber nicht in dieser Ansicht liegt des Buches Bedeutung: diese beruht auf dem Umstand, dass Berdjajew das ganze furchtbare Schicksal seines Landes sowohl äußerlich wie innerlich durchlebt hat und daher über die Bedeutung der Umwälzungen, die wir durchmachen, nicht als Außenstehender schreibt, wie bisher alle Deutschen dies getan haben, sondern als einer, der die betreffende Dialektik innerlich hinter sich hat. Darauf beruht die besondere Bedeutsamkeit seines Buches. Jenseits von Sozialismus und Bolschewismus stand bisher persönlich kein Religionsphilosoph. Insofern entspricht die Stellung dieses Denkers als solchen derjenigen Mussolinis in der Politik. Hiermit wäre ich denn zum Fascismus zurückgekehrt. Was dessen Geist leisten kann, gehört durchaus der irdischen Sphäre an; er ist in allen Hinsichten unmittelbar ein Geist des Heidentums, und insofern genau so rückständig wie sein Gegenpol, der Bolschewismus. Aber diese Erde ist eben nur nach irdischen Gesetzen zu regieren. Wenn der Satanismus
, wie viele der besten Russen den Geist des Bolschewismus kennzeichnen, alle besseren Geister besiegt hat, so hängt dies eben damit zusammen. Aller Fortschritt stammt von Kain und nicht von Abel. Das Christentum ward auch erst dadurch zur irdischen Macht, dass es mit Konstantin dem Großen das Böse
in seine Dienste nahm. So wird die Erneuerung vom Geist her, die freilich vor allem Not tut, gemäß dem in Politik und Weisheit
und Weltüberlegenheit
ausgeführten, dann erst im großen praktisch möglich werden, wenn die Menschheit so weit ist, dass die rein irdischen historischen Impulse dieser Zeit, die als solche zunächst siegen müssen, zur Aufnahme von Tieferem fähig und geeignet werden.
1 | Genau genommen gibt es eine solche wahrscheinlich gar nicht: was Vererbung erworbener Eigenschaften scheint, ist vielmehr das plötzliche Auftreten bei den Kindern neuer Fähigkeiten (im Sinn von Bernard Shaws the thing happens in Back to Methuselah), die sich die Eltern allenfalls vorgestellt hatten. Ich persönlich bin so ziemlich davon überzeugt, dass Suggestion gerade hier die größte Rolle spielt. Was aber das physiologische substrat des betreffenden Schöpfungsvorgangs angeht, so leuchtet mir die Theorie von Jean Danysz (La gènèse de l’énergie psychique, Paris 1921, librairie I. B. Baillière et fils) von allen bisherigen am meisten ein: die Änderung der Anlagen, die in der jeweiligen nächsten Generation auftritt, beruhe darauf, dass das Milieu des einzelligen Wesens, als welches auch jeder Mensch beginnt, sich wandelt. Was also Vererbung erworbener Eigenschaften scheint, sei in Wahrheit spontane Anpassung des Keims an eine veränderte Umwelt. Als Umwelten aber figurierten in diesem Falle Vater- und Mutterleib. Diese Deutung wird gerade der gleichsinnigen Verschiedenheit einer Menschengeneration der vorhergehenden gegenüber, wie solche typisch ist, gerecht. |
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