Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
8. - 9. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1924
Bücherschau · Literatur zu Kant
Es werden dieses Jahr gewiss viele fragen, was sie von Kant lesen sollen und was über ihn. Der philosophisch Begabte greift da selbstverständlich an erster Stelle zum Original, und zwar lese er zuerst die Prolegomena zu jeder künftigen Metaphysik und dann gleich die Kritik der reinen Vernunft. So schwer ihm die Lektüre vielleicht anfangs falle — sie wird ihm genau im gleichen Sinn für sein ganzes späteres Leben zum Segen gereichen, wie jedem Knaben das Studium des Latein. Bei diesem kommt es am wenigsten darauf an, dass man es lernt
: die einzigartige Bedeutung der Römersprache beruht darauf, dass keine präziser und logischer ist, weswegen der, welcher zu der Zeit, wo er überhaupt denken lernte, seine Aufmerksamkeit zugleich auf das exakteste aller Denkmittel heften musste, als denkendes Wesen typischerweise weiterkommen musste als der, dem diese Schulung fehlte — und möge er später jedes lateinische Wort vergessen. Auf dem gleichen beruht ja heute die Überlegenheit des französischen Geistes. Versailles ward hauptsächlich deshalb zu einem Triumphe Frankreichs, der zu seiner tatsächlichen Leistung in keinem Verhältnis steht, weil die französischen Diplomaten an Schnelligkeit und Präzision des Denkens sowie an Formulierungskunst allen anderen so weit überlegen waren, dass es erstens ihnen naturnotwendig zufiel, die Protokolle zu fassen, dass zweitens die anderen meist erst spät nachher die Tragweite dessen begriffen, was sie unterschrieben hatten. Diese Überlegenheit beruht aber nicht etwa auf der Rasse — ein erklecklicher Teil der heute führenden Franzosen sind dem Blut nach Deutsche, so zweifelsohne der Lothringer Poincaré — sondern auf dem Geist der französischen Sprache. Es ist unmöglich, auf französisch unklar, unpräzis und unnuanciert zu sein. Die französische Sprache gibt sich nicht, wie die deutsche, jeder Geistesart willig hin, sie setzt selbst ihre Normen. Insofern diese nun einem objektiven Optimum entsprechen, was überall dort der Fall ist, wo es auf Klarheit, Exaktheit und Präzision an erster Stelle ankommt, wirkt Unterordnung unter sie in den Entwicklungsjahren nicht hemmend, sondern steigernd, und später bei wachsender Originalität nicht schablonisierend, sondern spannend, genau wie das Festhalten an der bis zum Charakter der Fingerübung objektivierten Form Bachs Genius nicht am Hochflug gehindert, sondern diesem vielmehr eine Triebkraft mitgeteilt hat, die kein Originellerer
je besessen hat noch je besitzen wird. — Nun, im genau gleichen Sinne fördert die Schulung durch Kant. Es gibt keinen exakteren, präziseren und ausdrucksgewaltigeren Denker. Auf seiner besonderen Ebene besitzt er sämtliche Vorzüge des lateinischen und französischen Geistes in allerhöchstem Maß.
Scheint es anders, so liegt dies daran, dass Kants Formkunst (wie ich dies im Eingangsaufsatz zu Philosophie als Kunst ausführlich gezeigt habe) eben einer anderen Ebene angehört als die des Schriftstellers und Diplomaten: hier gilt es nicht die Formulierung fertiger Gedanken, sondern der Probleme; hier betrifft die eigentliche Kunst nicht die Fassung des Erkannten, sondern die des Unerkannten auf solche Weise, dass es erkannt werde, sonach die Fragestellung. Nun handelt es sich bei allem Philosophieren an erster wie an letzter Stelle eben um dies. Deshalb ist Kant der Lehrer, dem sich jeder angehende Philosoph an erster Stelle hingeben soll, denn besser als er hat keiner je seine Fragen gestellt. Und er wird von Kant auch deshalb mehr als von jedem anderen lernen, weil das Erfassen seiner unvergleichlichen Ausdruckskunst nicht ohne Mühe gelingt. Kants besonderer Stil macht nämlich genau im selben Verstand mehr Mühe als derjenige anderer, an Scharfsinn vergleichbarer Denker, etwa Bergsons, wie das Studium des Lateinischen schwieriger als das des Französischen erscheint. Es handelt sich wesentlich um eine tote Sprache, zu welcher deshalb der Zugang durch den Zeitgeist hindurch fehlt. So muss sich jeder solchen selbst erobern. Nur das persönlich Eroberte jedoch ruft die persönlichen Schöpferkräfte wach.
Wer diese Betrachtungen mit denen des Eingangs dieses Heftes im Geist zusammenschaut, dem dürfte wohl klar werden, dass keiner, der überhaupt Philosophieren lernen will, der Schule Kants entraten darf. Was nun die etwa zu erwerbende Kant-Ausgabe betrifft, so möchte ich jedem die billigste, nämlich die bei Reclam erschienene empfehlen, zumal deren von Raymund Schmidt besorgter Jubiläums-Neudruck der Kritik der reinen Vernunft wohl der textkritisch beste ist, welchen es überhaupt gibt. Als Einführungen in Kants Denken möchte ich denen, die ihn selbst schon lasen, aber noch nicht ganz erfassten, zunächst die (ebenfalls bei Reclam) neuerschienenen Briefe über die Kantische Philosophie von Carl Leonhard Reinhold zur Lektüre empfehlen, weil Kant selbst dessen Deutung als richtig anerkannt hat. Das zum Denken anregendste Buch über Kant ist das von Simmel (Duncker & Humblot). Simmel ist vielleicht der subtilste Geist der deutschen philosophischen Literatur, in seiner Feinheit schlechterdings zeitlos und zeitüberlegen. (Sein Meisterwerk ist die Philosophie des Geldes.) In ihm setzt sich ein alexandrinisch differenziertes Gehirn mit den Problemen dieser Zeit auseinander; an ihm (wie übrigens auch an Bergson) sieht man, allem Antisemitismus zum Trotz, welch uns bedingten Vorzug uraltes Kulturblut bedeutet. Aber Simmel ist für die meisten wohl zu fein. Für den normalen Deutschen ist und bleibt daher Chamberlains Kant-Werk (München, F. Bruckmann) die beste Einführung. Houston Stewart Chamberlain, der aus Wahlverwandtschaft deutsch gewordene Vollblutengländer, hat eben deshalb die deutscheste Einstellung zu Kant. Er ist mehr aufnehmend als eindringend, mehr anschauend als zergliedernd, mehr treu bewahrend als jenseits des Buchstabens verstehend, mehr liebend umfassend als scharfsichtig. Er hat Kant mehr erlebt als begriffen. Aber eben deshalb gelingt es ihm, den konzentriertesten aller Denker jedem Deutschen, der überhaupt Sinn für Geistiges hat, so nahe zu bringen. Insofern wird sein Buch niemals veralten. — Wer nun ein stereoskopisches Bild in Originalaufnahmen gleichsam von Kant gewinnen will, dem kann ich nichts angelegentlicher empfehlen als Reichls Philosophischen Almanach auf das Jahr 1924. Dieser bedeutet eine Glanzleistung Paul Feldkellers, seines Herausgebers, insofern, als ich kaum ein kompilatorisches Buch kenne, das seinen Zweck so ganz erfüllt. Die verschiedensten Aspekte von Kants Persönlichkeit und Werk erscheinen hier in glücklichster Auswahl aneinandergereiht. Der verbindende Text aus der Feder Feldkellers ist aber von so hohem philosophischen Niveau, dass dieser Almanach zugleich wie kein zweites gleich leicht lesbares Buch in Kants Denken einführt und seine historische Stellung bestimmt. überdies gibt dieser Almanach eine kritisch durchleuchtete übersicht der nach-kantischen philosophischen Literatur bis zur allerneusten hinan, der ich an Knappheit und Prägnanz weniges zur Seite zu stellen wüßte. Gegen Feldkellers bisherige Bücher ist, zumal vom Formstandpunkt im weitesten Sinn, allerlei zu erinnern. Wo er äußerlich selbständig vorgeht, da kann es ihm passieren, wie im ominösen Hochland-Aufsatz, dass er direkt entgleist, denn Logik ist an sich blind, sie muss von überlogischer Warte aus gelenkt werden, und noch ist Feldkeller zu sehr in Logik befangen, im übrigen aber Suchender, um instinktsicher jedes Mal den richtigen Ansatz zu finden. Deshalb tritt seine unbezweifelbare Originalität in seinen äußerlich selbständigen Kundgebungen am wenigsten zutage: er gehört zu denen, die über andere oder anderes oder in vorgegebenem Rahmen schreiben müssen, auf dass ihr Bestes herauskomme. Sein bisher Bedeutendstes sind seine Tagungsberichte im Weg zur Vollendung. Scheinbar referiert dort Feldkeller nur. In Wahrheit dient das Fremde ihm nur zum Anlass, Eigenes zu vertreten.