Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
8. - 9. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1924
Bücherschau · Alexander von Gleichen-Rußwurms · Reichtum…
Ob es wohl vielen gleich mir gehen mag, der ich mich der Inflationszeit kaum mehr erinnern kann? Es wird gerade dem denkenden Menschen sehr schwer, Zahlen nicht absolut zu nehmen; tatsächliche Verarmung, ob noch so groß, scheint leichter zu ertragen als die Notwendigkeit, tagtäglich Millionen auszugeben. Einer mag als Philosoph noch so sehr über Name und Form
hinaus sein — auf der Ebene des täglichen Lebens entscheiden sie auch für ihn über die Wirklichkeit. Wie denn der gute Name
letztendlich die wichtigste Realität gerade in praktischer Hinsicht darstellt und die schöne Form als bestmöglicher jeweiliger Sinnesausdruck allein irgendeinem Gehalte Dauer gewährleistet.
Diese Gedankengänge hat ein Büchlein in mir angeregt, das gerade in der jetzigen Entspannungsperiode recht vielen zu lesen gut täte: Alexander von Gleichen-Rußwurms Reichtum, seine Geltung und sein Gesetz (Hamburg 1923, Gebrüder Enoch Verlag). Ihm fehlt jede Schwere, jede Gewichtigkeit; ihm fehlt, genau besehen, wohl auch der Ernst. Aber auf seine leichte Art behandelt es gerade schwere Dinge so, dass die Betrachtung bei deren wesentlichem Ernste leichter verweilt, als sonst geschähe. Wie der Mensch nach einer Beerdigung typischerweise zum Lachen neigt, so werden bei vielen, die jüngst alles, was sie besaßen, verloren, heute leichte Betrachtungen über die tragische Seite des Lebens, die sie persönlich erlebten, eben deshalb leichter Eingang finden als düstere. Und dessen sollten sich die Betreffenden nicht schämen. Das lächelnde 18. Jahrhundert war an sich nicht flach; es war nur über die Maßen feinfühlig, weil im tiefsten wund; dementsprechend vertrug es kein Insistieren. Und ging dort die Verletzbarkeit der Katastrophe voraus, während die Dinge heute meistens umgekehrt liegen, so ist das so zu verstehen, dass die französische Aristokratie inmitten ihren größten Glanzes sich selbst zum Tode verurteilt hatte; für das zeitlose Unbewusste war das Künftige schon Gegenwart.
Ernstes aus Gründen des Feingefühls nur lächelnd behandeln zu können, kennzeichnet den Schöngeist. Dessen Aktien standen in Deutschland von jeher besonders schlecht. Aber spricht dies nicht mehr gegen Deutschland als die betreffende Menschenart? Freilich ist diese in Deutschland ganz besonders selten. Heute kenne ich in diesem Lande nur einen, der ihrem europäischen Begriffe ganz entspricht, dies ist eben der Freiherr von Gleichen-Rußwurm, der Schiller-Enkel. Er hat schier unermeßlich viel geschrieben1. Bände entgleiten seiner Hand nicht mühsamer wie anderen Sätze; immer wieder begegnet einem sein Name unter dem Zeitungsstrich. Doch wer ihn deshalb missachtet — tut nicht nur ihm, sondern sich selber Unrecht. Gleichen beansprucht nichts, was er nicht ist oder kann. Er will nur bilden, erläutern, unterhalten, selbst wo er tadelt, immer zugleich gefallen; er ist und bleibt überall der Gesellschaftsmensch. Wer nun überhaupt in erster Linie an andere denkt, muss Kompromisse schließen; wer Tiefes allen zugänglich machen will, muss es zur Oberfläche umschaffen. Gerade weil er dieses typischerweise gar nicht kann, hat der Deutsche das furchtbare Wort über sich selbst geprägt — es ist furchtbarer als jede Entente-Verleumdung — er lüge, sobald er höflich ist. Aber es gilt endlich zu verstehen, dass der Gesellschaftsmensch die Blüte des Gemeinschaftslebens bedeutet; und dass es von den anderen abhängt, ob sie in dieser Lebensform die Tiefe erkennen oder nicht. Die Philosophen Frankreichs nicht allein, auch die der späteren Antike waren sämtlich dem Baron Gleichen ähnlicher als dem deutschen Professor… Allerdings ist der Gemeinschaftsmensch unter keinen Umständen der ganz tiefe Mensch.
Nur wessen Seele zur transsubjektiven Sphäre, die aber jenseits des einsamen Ichs liegt, bewussten Zugang hat, kann zugleich gemeinschaftlich gesinnt und tief sein; wer sich diesseits dieser Sphäre als Gemeinschaftswesen fühlt, ist notwendig vom Geist her betrachtet oberflächlich, denn dessen wesentliche Einsamkeit hat der noch gar nicht entdeckt2. Der Gemeinschaftsmensch kann als solcher nur mittelbar Tiefe offenbaren, insofern er sich vom tiefen Hintergrunde abhebt, den er als wirklich ahnt, und den er manchmal, wie zufällig, in den Vordergrund hineinbezieht. Gleichens Leichtigkeit nun ist undenkbar ohne als wirklich gefühlte Weltenwende; seine Evokation des Vergangenen hat eben diesen Sinn. Und unter seinen vielen Büchern befindet sich wie zufällig auch ein Buch, welches unmittelbar tief wirkt: es ist der Freie Mensch (Otto Reichl Verlag). Dies ist ein sehr merkwürdiges Buch: es entstand wie ein Seufzer der Erleichterung in der Pseudo-Entspannung der Jahre 17-18, war einige Monate lang zeitgemäß und dementsprechend modern, seither verkannt… Aber auch in anderen Werken Gleichens findet sich unmittelbar Tiefes. So die folgende Betrachtung über Leben und Tod, welche wie zufällig im Reichtum-Büchlein steht:
Wir wissen nicht recht, ob wir im Tode wurzeln und ins Leben hinaufblühen, oder ob wir im Leben wurzeln und in den Tod hinaufblühen. Manches wirkt durch Leben, und manches wirkt durch Sterben, was es wirken muss und kann.
1 | Ich zitiere in Auswahl: Sechs Bände Geschichte der europäischen Geselligkeit (Jul. Hofmann, Stuttgart), Verschiedenes über Schiller und Goethe, Schicksale der Völker, Sieg der Freude, Schönheit, Das Ehe-Buch, Freundschaft, Flügel der Seele, ferner Übersetzungen, Romane und Dichtungen usw. |
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2 | Vgl. meinen Aufsatz Von der Grenze der Gemeinschaftim 3. Heft dieser Mitteilungen. |