Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

10. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1925

Kultur und Technik

Ich weiß nicht, wer zuerst die Begriffe Kultur und Zivilisation gegensätzlich verwendet hat; wenn ich nicht irre, so war es Houston Stewart Chamberlain. Dass der Gegensatz Kultur-Zivilisation, zumal in seiner Spenglerschen Fassung, zu Recht besteht, darüber kann kaum gestritten werden. Aber heute ist er zum Schlagwort und damit zum Schema für die Denkfaulheit geworden. Womit allein schon erwiesen ist, dass man bei ihm nicht mehr stehenbleiben darf.

Das Wort Kultur bedeutet, eigentlich verstanden, nicht mehr und nicht weniger als Lebensform als unmittelbarer Geistesausdruck. Diese kurze Bestimmung schließt alles ein, was über Kultur überhaupt ausgesagt werden kann: dass sie Gebundenheit ist an eine lebendige Vergangenheit, und damit Verpflichtung; dass jede ihrer Äußerungen sinnbildlich ist, in der doppelten Akzentuierung, dass alles Kulturhafte sowohl Sinn darstellt, als diesen in entsprechender Bildhaftigkeit verkörpert; dass sie ausschließlich ist und eben deshalb äußerlich streng begrenzt; dass sie ein wesentlich Einheitliches ist, weshalb jedes Einzelne an ihr das Ganze voraussetzt und auf dieses zurückweist. Kultur ist ein geistiger Organismus, und dieses bleibt wahr, ob nun die Spengler-Frobeniussche Kultur-Seelentheorie im einzelnen zutrifft oder nicht. Die gleiche Definition bestimmt zugleich, wann äußere Zivilisation, die sehr wohl Kultur sein kann, nicht mehr Kultur ist: wenn ihr Ausdruck nichts Innerliches mehr bedeutet; wenn das vorhin Gesagte auf die Gestaltung nicht mehr zutrifft. Und damit ist allerdings bestätigt, was man heute allerseits vernimmt, dass wir in einer Zeit der Zivilisation im Gegensatz zu einem Kulturzeitalter leben.

Viele bringen diesen Verfallszustand — denn ein solcher soll es ja sein — mit der Entwicklung der Technik in Zusammenhang. Und so viel ist gewiss: die unbegrenzte Anwendungsmöglichkeit, unabhängig von Raum, Zeit und allen sonstigen Bindungen, die jedem Produkt der reinen Technik eignet, widerspricht an sich möglicher Kultur, wie solche bisher geblüht hat; was allerorts und jederzeit als Lebensform möglich ist, kann nicht unmittelbarer Geistesausdruck sein. Und insofern ist auch unbestreitbar, dass die Technik barbarisiert. Wo sie hindringt, dort hält keine Lebensform des vortechnischen Zeitalters auf die Dauer stand. Wir erleben es ja jetzt auch (um vom Osten zu schweigen) in den Kreisen Englands und Frankreichs, deren ausgereifte Kultur der Zersetzung so lange widerstand: es ist schlechterdings nicht möglich, als Kino- und Radioliebhaber, als Rennfahrer, Flieger und selbstverständlicher Globetrotter an Lebensformen gebunden zu bleiben, deren Möglichkeit an engen inneren und äußeren Grenzen hing. Die alte Kultur stirbt tatsächlich; sie stirbt unaufhaltsam. Und daran ist unzweifelhaft vor allem die Technik schuld.

Diese Erkenntnis begegnet heute zwei typischen Reaktionen seitens solcher, welchen es vor allen Dingen ernst ist um Kultur. Die einen verzweifeln, zum mindesten für uns Abendländer, an weiterer Kulturmöglichkeit auf Erden. Die anderen erhoffen das Heil von einer Rückkehr zum vortechnischen Zustand. Mit den ersteren lohnt es sich nicht zu verhandeln, denn sind sie im Recht, so haben wir eben keine Kulturaufgaben mehr vor uns, und sind sie im Unrecht, so kann man sie aus Temperamentsgründen keinesfalls überzeugen; es sind eben Untergangs­gläubige, und wer an den Untergang glaubt, der will ihn immer zugleich mit irgendeiner entscheidenden Schicht seines Wesens. Die zweiten sind dagegen durch die eine Erkenntnis ad absurdum zu führen, dass es ein Zurück von einem einmal erreichten Naturzustand niemals und nirgends gibt, es sei denn, dieses Zurück bedeutete den Untergang. Nie mehr wird die Technik aus der Welt zu schaffen sein, sie wird ganz sicher weiter erobern und siegen, bis dass sie den ganzen Planeten unterworfen hat. Und dies vor allem aus einem Grunde, der merkwürdigerweise nicht vielen aufgefallen zu sein scheint: dass es sich beim Technischen nicht um Außerordentliches, sondern um Selbstverständliches handelt. Genau wie mathematische Wahrheiten wesentlich selbstverständlich sind, denn jedem Menschenkörper und -geiste sind sie immanent, so sind es auch sämtliche technischen Leistungen. Nur daraus erklärt es sich, dass solche gerade kulturlosen Schichten und Völkern am unmittelbarsten und schnellsten einleuchten. Amerika hat sich am schnellsten technisiert, weil seine Bewohner zu Beginn dieses Prozesses die kulturlosesten Abendländer waren, heute wiederum begegnet extreme Technisierung in den jugendlichen Oststaaten dem geringsten Widerstand. Mir wurde die wahre Sachlage an jenem denkwürdigen Tage klar, da ich entdeckte, dass mein für Technik gar nicht besonders beanlagter dreijähriger Sohn ohne weiteres den Grundcharakter des Automobils versteht, welches mir noch immer ein Mysteriöses bedeutet: die Technik ist eben das schlechthin Selbstverständliche, genau wie die Mathematik. Man muss nur einmal darauf gekommen sein. Dies zuerst und selbständig zu tun, ist freilich nicht jedermanns Sache. Aber jedermanns Sache ist Erfindung in keinem Fall. Die Selbstverständlichkeit oder Abgelegenheit einer Erkenntnis bemisst sich überall an dem, wie vielen sie, vor sie hingestellt, ohne weiteres einleuchtet. Das Technische leuchtet nun sicher einem größeren Prozentsatz aller Menschen ein als irgend eine Kulturerrungenschaft vom Steinzeitalter an. Es wird bald keinen Menschen mehr von nicht unternormaler Begabung auf Erden geben, welchem Funkwesen nicht ebenso einfach erschiene, wie das Einmaleins.

Diese kurze Betrachtung dürfte alle nur möglichen Argumente derer, welche ein Fort von der Technik predigen, ein für allemal erledigt haben. Wo bis auf weiteres die Massen entscheiden werden, ist es völlig ausgeschlossen, eine Entwicklung, welche diesen einleuchtet, aufzuhalten. Aber die gleiche Betrachtung erweist zugleich, inwiefern das Unabwendbare kein kulturelles Unglück zu bedeuten braucht. Wenn die Technik das schlechthin Selbstverständliche ist, dann wird sie bald auch faktisch als selbstverständlich gelten; und dies bedeutet, dass sie das menschliche Interesse bald kaum mehr bannen wird. Schon heute bedeutet sie, trotz ihrer größeren Ausbreitung, nicht annähernd mehr so viel als vor zwanzig Jahren. Ihr Überraschungscharakter ist seither dahin und wird nie wiederkehren, selbst wenn sich einmal die Möglichkeit erweisen sollte, den Mond auf die Erde herunterzuholen, denn grundsätzlich ist alles fortan noch Mögliche vorauszusehen. Praktisch aber ist klar, dass die jüngsten technischen Errungenschaften bald das gleiche Schicksal erleiden werden wie das Fahrrad: nachdem es ursprünglich nur Herrenfahrer gab, ist dieses Vehikel als solches heute überhaupt kein Mittel mehr, um zur Auszeichnung zu gelangen, und nur was auszeichnen kann, ist mögliches Ehrgeizziel. Was wird nun der Fall sein, wenn alles Technische im gleichen Sinne selbstverständlich geworden ist? Nun, sie wird dem Geist das gleiche und nicht mehr bedeuten wie ehedem das Material, aus welchem jene schuf. Das heißt: ihre Errungenschaften werden zur an sich unbeachteten Grundlage jedes späteren Zustandes geworden sein. Sie wird recht eigentlich das gleiche bedeuten wie vorher die Natur. Dann aber wird offenbar die heute beliebte Gegenüberstellung von Zivilisation und Kultur ihren Sinn verloren haben, da das jener Eigentümliche Voraussetzung alles Lebens geworden sein wird. Dann wird sich die Ebene aller Problemstellungen verschoben haben. Und zwar überall nach oben zu. Darüber kann ja überhaupt kein Zweifel bestehen, dass der Mensch als Naturbeherrscher ein Größeres ist als der Mensch als Naturunterworfener. Und damit wird Kultur im anfangs bestimmten Sinn von Lebensform als unmittelbarer Geistesausdruck aufs neue möglich werden, und zwar in einem umfassenderen Sinne als je vorher. Der Geist wird sich vermittels der technisch beherrschten Natur grundsätzlich ebenso eigentümlich ausdrücken können wie nur je in der Antike und im Rokoko.

Hier liegt denn die Erlösung von der Technik, soweit solche nötig ist. Und die hier umrissene Lösung ist zugleich die einzige, welche überhaupt in Frage kommt. Wer fortan noch Kultur will, kann solche vernünftigerweise nur noch auf der obenbeschriebenen Naturebene anstreben. Auf dieser neue Kultur zu begründen, ist grundsätzlich ohne jeden Zweifel möglich: die einzige Vorbedingung dazu ist ja, dass das Technische dem Geiste selbstverständlich geworden sei und ihn infolgedessen an sich nicht mehr interessierte, welch letzteres das Charakteristikum des Zivilisationsmenschen ist. Diese Vorbedingung zu erfüllen kann freilich von heute auf morgen nicht gelingen, denn hier handelt es sich um einen inneren Wachstumsvorgang, der über ein gewisses Maß nicht zu beschleunigen ist. Aber wenn man dieses einmal weiß, dann bekümmert einen die unvermeidliche Wartezeit nicht mehr. Dann steht man zum heutigen Zustand nicht mehr negativ. Dann weiß man ja, dass gerade er und nur er neue Kultur ermöglicht, weil vorbereitet. Wie die bisherige bloße Könnenskultur in eine neue Seinskultur zu verwandeln sei — denn darum handelt es sich bei dem Prozess — habe ich in meiner Schöpferischen Erkenntnis ausführlich gezeigt; den gleichen Prozess durch klare Zielsetzung und entsprechende Impulsgebung, soweit angängig, zu beschwingen und zu lenken, ist die eigentliche Aufgabe der Schule der Weisheit. Heute wollte und konnte ich nur ganz kurz die allgemeinen Richtlinien dessen hinzeichnen, was geschehen muss, damit Kultur und Technik, die sich heute meist ausschließen, des Eingangs einer höheren Synthese fähig werden.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME