Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
10. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1925
Bücherschau · Richard Wilhelm
Alle Kulturen, deren Entstehung wir verfolgen können, sind aus einer Befruchtung des Bodenständigen durch Fremdes hervorgewachsen. Dementsprechend berichtet schon die Sage Mal für Mal, dass der Gründer der Urgemeinschaft von fernher kam — wo eine Gründung auf Götter zurückgeführt wird, gilt die gleiche Bestimmung ja erst recht. Bei jeder Wende nun wiederholt sich, mehr oder weniger deutlich, das gleiche Verhältnis. Ausnahmslos sind hier die großen Führer Gestalten, deren Natur zu derjenigen der Geführten in ausgesprochenem Spannungsverhältnis steht und dieser insofern fremd ist. Und in der Tat: nur solche können die neue Aufgabe, die sich dem Alten stellt, in gebührendem Abstand sehen, nur solche die ewig-herrschende Trägheit in neue Bahnen leiten. So waren die Gründer des postantiken Europa auf römischem Kulturland Germanen, so war Napoleon Korse; der gleiche Umstand erklärt, in besonderer Spezifizierung, die immer wiederkehrende Vormacht des Judentums, so oft und so lang eine Epoche liquidiert. Geht eine alte Kultur nun zur Neige, dann wiederholt sich das Gleiche in der Umkehrung; dann erlebt das Alte seine letzte echte Verkörperung im Fremden, und in dieser entrinnt es seinem Untergang. So erklärt es sich, dass der letzte ganz echte Chinese alten Schlages heut ein Deutscher sein kann. Es ist dies Richard Wilhelm, jetzt Professor zu Frankfurt a. M. und zugleich unser Mitarbeiter.
Über Richard Wilhelms lebendige Bedeutung will ich, bevor sie sich in Deutschland ausgewirkt hat, nichts schreiben. Desto eindringlicher jedoch muss schon jetzt, um diese Auswirkung vorzubereiten, auf das Werk hingewiesen werden, welches die Urmaterie gleichsam aller chinesischen Weisheit enthält, ohne dessen Voraussetzung sowohl Konfuzius wie Lao Tse undenkbar sind und das auch Wilhelms, des Weisheitslehrers, praktischer Wirksamkeit die Ureinstellung gibt: das Buch der Wandlungen, den I Ging, vom gleichen Richard Wilhelm mit samt allen wichtigsten Kommentaren erstmalig ins Europäische übersetzt und bei Eugen Diederichs in Jena herausgebracht. Als Dokument und Wegweiser der Lebensweisheit steht dieses wundersame Buch in der gesamten Weltliteratur obenan. Wie es zu benutzen sei — es ist ein richtiges Orakelbuch — will ich hier nicht verraten; auch nicht erklären, warum seine jeweiligen Hinweise immer zutreffen und zutreffen müssen. Nur eigenes Suchen führt zur letzten Einsicht. Doch über den Sinn des Buches will ich das Grundlegende sagen, weil dieser den Schlüssel bedeutet zu aller praktischen Lebensweisheit überhaupt.
Der I Ging geht davon aus, dass jede besondere Erscheinung, welcher Art sie auch sei, in ihrer raumzeitlichen Bestimmung nur als Bestandteil einer an sich unauflöslichen kosmischen Situation zu verstehen sei (vgl. über deren Begriff meinen Eingangsvortrag Weltanschauung und Lebensgestaltung
im Leuchter 1924). Er geht weiter davon aus, dass in dieser Welt des Werdens und Vergehens jede Situation das Gesetz ihrer Verwandlung in sich trägt. Wenn heute etwas so erscheint, eben deshalb muss es morgen anders aussehen. Die jeweilige Richtung der Verwandlung sowie ihr nächstes Ziel lehrt nun der I Ging grundsätzlich bestimmen. Und dies in so vollendeter Kenntnis des Weltgesetzes, dass das Erfassen dieses Grundsätzlichen allein genügt, um Zusammenhänge zu verstehen, die jeder beschränkteren Schau — und dies war alle europäische bisher — unentwirrbar erscheinen müssen. Der I Ging setzt nämlich das Zeitlose und das Geschehen in der Zeit in das gleiche notwendige Verhältnis, die sie tatsächlich haben. Nicht immer gelingt Gleiches. Nicht immer sind die Zeiten zu allem reif. Manchmal gilt es schnell handeln, ein andermal jahrelang bedächtig abwarten. Es gibt Perioden der Blüte und des Niedergangs, der Zusammenziehung und der Ausweitung. In jedem Fall nun stellt sich das zeitlos Richtige in Gestalt einer anderen zeitlichen Aufgabe dar. Dass dem im allgemeinen so sei, dies wissen wir freilich alle. Aber erst wo das Gesetz des Zusammenhangs von Makro- und Mikrokosmos, des zeitlos Gültigen mit dem praktischen Problem des Augenblicks in der Erscheinung notwendiger Wandlung erkannt wird, beginnt die Weisheit. Insofern kann der Westen, wo er weise werden will, an nichts Förderlichern anknüpfen, als an dem Urquell der Weisheit des fernen Ostens. So ohne weiteres wird er aus diesem gewiss nicht trinken können. Doch nicht umsonst ist der eine lebende Meister des I Ging, Richard Wilhelm, uns wiedergewonnen: dank ihm wird, hoffentlich, Chinas Urweisheit, in ihrer Heimat sterbend, in Deutschland wiedergeboren werden.