Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

10. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1925

Bücherschau · Willy Schlüter · Die Mission des Mittelstandes

Die politisch-soziale Literatur hat seit Erscheinen des letzten Heftes dieser Mitteilungen eine unmittelbare Sensation aufzuweisen: das Buch Die Mission des Mittelstandes, 99 Thesen für das schaffende Volk von Dr. Wilhelm und Willy Schlüter (Dresden 1925, Oskar Laube Verlag). Schlüter — ich rede nur von ihm, denn welcher Art immer die Verdienste Dr. Wilhelms seien, jeder Satz des Buches trägt nach Gehalt und Stil den Stempel von Schlüters Geist, so dass dieser jedenfalls als der alleinige Schreiber gelten muss — Schlüter ist eine der merkwürdigsten Erscheinungen Deutschlands. Aus kleinen Verhältnissen stammend, sein Lebtag praktisch nie über solche hinausgelangend, seinem ganzen Wesen nach Volk, im Guten wie im Schlimmen, seinem Typus nach Sakralstrolch, wie er sich selber heißt, hatte er mit seinem Deutschen Tatdenken (Dresden, Oskar Laube Verlag) schon vor Jahren eine Leistung vollbracht, deren philosophische und schriftstellerische Genialität nicht abzustreiten ist. Es enthält Intuitionen über das schöpferische Wesen des Lebens, die zu den tiefsten aller Zeiten gehören; und diese sind mit einer Sprachgewalt gefasst, über die seit Nietzsche wohl kein Philosoph verfügt hat. Diese ist allerdings nicht vorbildlich. Schlüter schreibt deutsch, als hätte es vor ihm keine deutsche Sprache gegeben; er benutzt nicht nur eine ihm allein eigentümliche (puristische) Terminologie, er arbeitet in großem Maßstabe mit selbsterfundenen Worten und Wortverbindungen, von denen nicht viele in den allgemeinen Sprachgebrauch überzugehen verdienen. Aber eben dies beweist bei Schlüter nicht Künstelei sondern naivste Ursprünglichkeit; er schreibt, als wäre er der erste Deutsche. Und er ist wirklich ein echter Sprachschöpfer, was immer dieses sein Schöpfertum anderen bedeuten möge. Und da er ebenso echt als Denker ist, so braucht man sich darüber nicht zu wundern, wenn man hie und da einen Satz von geradezu herakliteischer Wucht in seinen Schriften findet. Das Deutsche Tatdenken gehört unter allen Umständen zu den interessantesten und bedeutendsten Leistungen der modernen philosophischen Literatur.

Nun aber dieses Mittelstandsbuch! Äußerlich wirkt es bibelartig; beim Durchblättern stößt man wieder und wieder auf Sätze, über deren Naivität man lächeln muss. Dann verdrießt einen die Zurückführung alles wirklichen und möglichen Guten ausgerechnet auf den Begriff des Mittelstandes… Aber liest man das Buch in einem Zuge durch, so wie’s geschrieben ward, so geht der Verdruß in Überraschung über. Das Befremdende an diesem Buch ist befremdlich in äquivalentem Sinn, wie es seinen Zeitgenossen dasjenige Walt Whitmans war. Hier äußert sich ganz naiver moderner Volksgeist; hier bekennt deutsches Kleinbürgertum sich begeistert zu sich selbst. Und dieses Kleinbürgerliche wirkt volkhaft elementar, weil das, was Schlüter mittelständisch heißt und was vom europäischen Standpunkt kleinbürgerlich genannt werden muss, eben zum Urcharakter eines großen Teils des deutschen Volks gehört. Diesem fehlt die kraftvolle Weite des Whitmanschen Amerikaners; er bedeutet den Gegenpol zur russischen Antiphilistrosität. Aber ihm eignet statt dessen ein Ethos des Werks und der Werkgemeinschaft, welches kein anderes Volk besitzt. Dieses Ethos nun bedingt, lebendig erlebt, elementares Standesbewusstsein. Hiermit erledigt sich denn das Befremdliche des Schlüterschen Mittelstandsbegriffs: dieser bedeutet vom Standpunkt von Schlüters Selbst, und Volkserlebnis ein ebenso Ursprüngliches, wie dem Inder sein Kastenbegriff.

Hieraus ergibt sich denn die mögliche Bedeutung dieses Buchs. Es bedeutet einen merkwürdigen Versuch, das Bewusstsein der deutschen Massen aus den Abstraktionen marxistischer Ideologie zu erlösen, indem es ihnen ihre eigene Wirklichkeit ins Bewusstsein ruft. Kann es dadurch zum Bewusstmacher der eigentlichen Volkheit werden? Ich enthalte mich des Urteils. Hier hängt alles davon ab inwieweit Schlüter als repräsentativer deutscher Mittelständler gelten kann, d. h. inwieweit seine Art und sein Ausdruck einer Mehrheit einleuchten.

Schlüters Absicht ist jedenfalls die denkbar beste; denn es ist hohe Zeit, dass sich das deutsche Bewusstsein vom Bann der Abstraktionen löst. Inwiefern sozial-politisch ein neues konkretes Zeitalter beginnt, habe ich zuerst in meinem Aufsatz Das dritte Italien (im vorhergehenden Hefte dieser Mitteilungen) anschaulich zu zeigen versucht. Ihm lasse ich jetzt einen zweiten, zur Jahreswende zuerst erschienenen, folgen, der den allgemeinen Rahmen dafür schafft, was Schlüter in der Erweckung völkischen Standesbewusstseins, des Heres designatus der Internationale, günstigenfalls bedeuten kann1. Dieser Aufsatz heißt: Eine Vision der kommenden Weltordnung

1 Nach Niederschrift dieser Zeilen erhalte ich von August Winnig seinen Aufsatz Der Glaube an das Proletariat (erschienen im Jahrgang 1924 der Süddeutschen Monatshefte, als Separatdruck vom Verfasser, Potsdam, Am Bassin 1, erhältlich): dies ist die bedeutendste Auseinandersetzung der wahren Ursachen des Verfalls der Sozialdemokratie, die je geschrieben wurde, und bedeutet zugleich die erste theoretische Fundierung des Arbeitertums als Stand im Gegensatz zur Arbeiterklasse. Hätte ich von Winnig in diesem Sinn schon 1923 gewusst, ich hätte ihn, nicht Zickler, um die Übernahme des Vortrags Die Welt des Arbeiters gebeten. Wer immer wissen will, was damals gesagt werden sollte, der lese diese kleine Schrift von Winnig.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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