Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

11. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1926

Bücherschau · Buch der Ehe

Obgleich vom Sinn des Ehe-Buchs schon im letzten Heft dieser Mitteilungen ausführlich die Rede war, möchte ich diese Bücherschau doch mit einem neuen nachdrücklichen Hinweis auf dasselbe einleiten. Weniger deshalb, weil es sich bei ihm um den Ausdruck des Impulses der Schule der Weisheit handelt, welcher die größte Anzahl Menschen persönlich angeht, als weil am Ehe-Buch denen, welche nicht öfters in Darmstadt waren, zum erstenmal ganz klar werden dürfte, was es mit der Orchestrierung des Geistes und der polyphonen Behandlung von Problemen in Wahrheit für eine Bewandtnis hat. Für die Tagungen sowohl als für das Ehe-Buch ist wesentlich, dass das Ganze vor den Teilen erfunden war. Die Sonderart der Einzelvorträge und derer, welche sie halten sollen, ergibt sich mir aus dem von mir primär gewollten Geist des Ganzen nicht anders, wie ein Musiker sein Werk nachträglich instrumentiert. Meist konzipiere ich den Tagungsschlussvortrag zuerst, da er ja die Hauptsache ist; noch kam es keinmal vor, dass ich diesen, auf Grund der anderen Vorträge, deren genauen Inhalt ich keinmal vorher kannte, irgendwie wesentlich zu ändern gehabt hätte; die Rückbezüge auf die Redner bedeuten mir einzig Erfordernisse der musikalischen Technik. Da ich mit meinen Mitarbeitern nicht proben kann, so kommt es freilich vor, dass der eine oder andere die ihm gestellte Aufgabe nicht ganz so behandelt, wie es der Sinn des Ganzen verlangt. Aber dann fällt es mir nie sehr schwer, in späteren Vorträgen die Dissonanz zur notwendigen Vorstufe späteren Einklangs umzukomponieren, so dass die, welche unsere Tagungen so mitmachten, wie allein sie sinngemäß zu erleben sind, d. h. nicht intellektuell eingestellt, nicht reflektierend, rein aufnehmend, schon gar nicht die einzelnen Vorträge miteinander vergleichend und einzeln kritisierend, (das eine Absurde, was ein Darmstädter Hörer vornehmen kann), alle, mal den Eindruck wesentlicher Einheit haben mitnehmen müssen. Aber bei unseren Tagungen handelt es sich um ausgesprochen mündliche Ereignisse. Wo sie einmal als solche konzipiert wurden, ist es ausgeschlossen, dass ihr Abdruck im Leuchter mehr als eine Kopie bedeutete. Das Ehe-Buch nun ist von vornherein schriftlich konzipiert. Hier habe ich versucht, in der Schrift eben das zu erreichen, was in Darmstadt die lebendige Tagungsatmosphäre als Ganzes schafft. Damit die zirka 400 Seiten so würden, wie das Ganze es verlangte, habe ich kaum weniger Papier an Briefen verschreiben müssen. Dieses Buch hat mir, in der Tat, mehr Arbeit gekostet, als je ein allein geschriebenes, denn es ist schwerer als man denkt, in der Zusammenarbeit mit anderen zu sagen, was man letztlich allein genau weiß. Denn auch hier war das Ganze vor den Teilen da. Wenn ich im Fall des Ehe-Buchs den einzelnen Mitarbeitern nur wenig Direktiven zu geben brauchte, bis auf die Fragestellung und die Grenzen des zu behandelnden Gebiets, so lag dies einzig daran, dass ihre geistige Qualität Falschverstehen ausschloss und ihre Vornehmheit zusammen mit ihrem Bewusstsein vom Ernst der Aufgabe sie von selbst dazu antrieb, alles Persönliche dem gemeinsamen Ziele unterzuordnen. Wieder einmal erlebte ich’s: nur kleine Leute sind auf letzte Selbständigkeit erpicht. — Am Buch der Ehe ist nun, weil hier das Geschriebene das Eigentliche ist, der besondere Sinn des polyphonen Denkstils, so, wie dessen, was er allein zu erkennen ermöglicht, ohne weiteres zu erfassen. Das Ganze war nicht nur vor den Teilen da, es ist auch nicht nur mehr als die Summe seiner Teile: dank ihm ist jeder Teil von ihnen ein anderes, als er für sich allein wäre. Genau so wie das gleiche Gesicht in verschiedenen Farben erscheint, je nach dem Hintergrund, von dem es sich abhebt, so sagen die einzelnen Mitarbeiter des Buchs der Ehe dem, der es im Zusammenhang der richtigen Reihenfolge richtig liest, anderes und mehr, als für sich allein genommen. Denn jeder hat so den Sinneszusammenhang des Ganzen zum Hintergrund, und dieser höhere Sinn, um dessentwillen allein das Einzelne aufgenommen wurde, gibt diesem nun eine neue Dimension. Auf der letzten Tagung sagte ich in bezug auf das Freiheitsproblem, es sei nur in vieldimensionaler Betrachtung zu lösen, auf der Fläche der bisherigen Philosophie hingegen überhaupt nicht. Ebenso behandelt das Ehe-Buch die Ehe vieldimensional und erhebt ihr Problem damit auf ein neues höheres Niveau, auf dem es erstmalig der grundsätzlichen Lösung fähig wird. Selbstverständlich keiner abstrakt-theoretischen Lösung: wer dies auch nur erwartet, trotz meiner Einführungsworte, der missversteht mich ganz. Sondern im einzig wesentlichen Sinne dessen, dass jeder, der das Buch in sich verarbeitete, wissen kann, wie er sein lebendiges Problem zustellen hat. Für jeden Einzelnen kommen in bestimmter Gewichtsverteilung, alle Fragen in Betracht, die das Buch der Ehe stellt. Die Instrumentierung dieses nun zeigt das rechte Verhältnis. Vergleichen wir das Ganze mit einer zweioktavigen Skala, so entsprechen Eingangs- und Schlussaufsatz (die auch besonders genau aufeinander abgestimmt werden) dem gleichen Grundton; diesen schlägt, in der Mitte, mein zweiter Aufsatz noch einmal an. Zum Grundton verhält sich im zweiten Teil der Beitrag des Grafen Thun, im dritten der der Fürstin Lichnowsky wie die Quinte, während derjenige Baecks zu Bernhart im Terzverhältnis steht. Vom Standpunkt des Ganzen sind die Aufsätze Tagores und Wilhelms nur dazu da, das im Thunschen Aufsatz fanfarenartig behauptete vom Über-Privaten der Ehebeziehung in anderer Klangfarbe zu bekräftigen, hat dagegen Ricarda Huchs nur den einen Sinn, das Unsinnige der reinen Neigungsheirat zu erweisen; ebenso versinnbildlichen Wassermann und Frau Karlweis, die einzigen Mitarbeiter, die nicht vom vorausgesetzten wahren Sinn der Ehe ausgehen, die Unsicherheit dieser Zeit. Vom Standpunkt des Ganzen ist es wirklich vollkommen gleichgültig, ob jeder Einzelne nun allein das sagt, was dieses verlangt, oder auch anderes und mehr. Wird das Buch richtig gelesen, so wird sich die intendierte Symphonie in der Seele des Lesers unter allen Umständen selbsttätig auswirken. — So hoffe ich denn, dass der Sinn alles Darmstädter Strebens dank dem Buch der Ehe besser verstanden werden wird, als dies bisher geschah.

Was nun die Bücher betrifft, die ich während der Arbeit las, so wüßte ich leider nicht viele zu empfehlen. Keinem kann die Lektüre des Sammelbandes Wen soll man heiraten (Frankfurt a. M., H. Bechold Verlag), der zirka dreißig Antworten berufener Ärzte und Staatsbeamter enthält, schaden; nicht vielen wird sie nützen. Immer anregend und fein ist Havelock Ellis, dessen Gattenwahl und Moderne Gedanken über Liebe und Ehe (Leipzig, Kurt Kabitzsch Verlag) weite Verbreitung verdienen. Aber Ellis denkt, wie die meisten Engländer, nicht scharf und präzis genug, um in seinen Büchern Deutschen viel zu geben. Gelernt habe ich einzig von denen der Ärztin Matilde von Kemnitz Erotische Wiedergeburt und Die Bestimmung des Weibes (Verlag Die Heimkehr, Pasing bei München): sie enthalten das Tiefste, was meines Wissens bisher überhaupt über die Psychologie der Frau und der Liebe von ihrem Standpunkt geschrieben ward; sie sollte jeder Mann lesen, der sich mit Heiratsgedanken trägt. Frau von Kemnitz hält persönlich freilich mehr noch von ihren philosophischen Schriften Schöpfungsgeschichte und Triumph des Unsterblichkeitswillens; aber hier handelt es sich wohl um ein ähnliches Missverständnis, wie bei Groddeck und Paul Ernst (siehe Heft 8/9 dieser Mitteilungen). Die Verfasserin ist ohne Zweifel eine metaphysisch wissende Frau. Vom Hintergrund aus Licht spendend, wie beim Aufsatz im Buch der Ehe (ihrem bisherigen Meisterwerk), verhilft ihr metaphysisches Wissen dem, was sie auf anderer Ebene behandelt, zur Tiefenwirkung. Aber an sich ist Frau von Kemnitz als Philosophin nur sehr bedingt ausdrucksfähig. Hier behindert den Denker die Frau. Was echt gemeint ist, klingt im Ausdruck oft nur rhetorisch; das letzte Begriffs- und Wortgewissen fehlt. Oft bricht als Gefühlswallung hervor, was nur als klarstes Geisteslicht einen Wert verkörpern würde; von kritischer Durchdringung der Probleme, deren Sinn sie oft tief ahnt, ist zu wenig die Rede. Ich weiß wohl, was Frau von Kemnitz, die Metaphysikerin, meint, und dass sie Tiefes meint. Aber ihre Philosophie hat, soweit sie bisher vorliegt, keinen selbständigen Wert. Vorläufig missversteht sie sich selbst, sofern sie rein philosophische Werke schreibt, anstatt von tieferem Wissen her die Probleme, die ihr wirklich liegen, zu behandeln. Ja, vorläufig schadet sie sich selbst auch in ihren anderen Schriften, nicht zuletzt in ihrem Beitrag zum Ehe-Buch, gar oft durch Hinweise auf ihre Metaphysik. Denn so begründet sie Richtiges und auf seiner Ebene klar Erschautes mit Unerwiesenem oder bloß Erdichtetem, nicht viel anders dem Sinne nach, wie indische Historiker Geschehnisse auf Erden mit Legenden aus dem Himmel zu dokumentieren pflegten. Eine rechte Frau kann wohl nicht selbständige Philosophin sein; so groß ihre Weisheit sei, beim spezifischen Ausdruck des Denkers handelt es sich offenbar um ein ebenso spezifisch Männliches, wie trotz aller Amazonenleistung, dem des Kriegers. Die metaphysisch bewusste Frau ist wesentlich nicht Erkennerin, sondern Seherin. Und Sehertum ist nicht besonders leicht, sondern besonders schwer in Form klaren Denkens zum Ausdruck zu bringen.

Es scheint wirklich keine Bücher zu geben vor dem Ehe-Buch, die dem richtig verstandenen Eheproblem gerecht würden. Und es konnte sie wohl auch nicht geben, weil Probleme nur auf der Ebene ihres Höchstausdrucks, im Schnittpunkt ihrer geistigen Koordinaten, grundsätzlicher Lösung fähig sind, und alle bisherigen Bücher über die Ehe das Problem zu einseitig bestimmt gesehen haben; zu einseitig bestimmt vor allem in bezug auf sein Niveau. Kein Wunder. Wo das Eheproblem praktisch gelöst erschien, dort fehlte der persönliche Anlass, über dasselbe zu schreiben. Der gegebene Anlass aber war fast immer Leiden an empirischer Unzulänglichkeit. Aus dem Geist des Ressentiments heraus ist nun Allgemeingültiges und Vorbildliches nicht zu schaffen. Letzteres gelingt einzig durch Hinstellung des Hochwertigen als des einzig Möglichen, unter Ignorierung des Niederen. So wird das Ehe-Buch, so hoffe ich, nicht nur als Positiv, sondern auch als Negativ heilend und höherbildend wirken. Es wird zeigen, welche Fragen anstandshalber nicht gestellt werden dürfen.

Dies bezieht sich nicht allein auf die Probleme der Ehe von Menschen niederen Niveaus, die allenfalls durch das schriftliche Äquivalent eines Achselzuckens Berücksichtigung finden. Es bezieht sich auch auf vermeintliche Grundprobleme. So findet die sexuelle Frage im üblichen Verstand im Buch der Ehe überhaupt keine ausdrückliche Behandlung; hinsichtlich dieser wird einfach auf das gleichnamige Buch Auguste Forels und Magnus Hirschfelds Geschlechtskunde (Stuttgart, Verlag Julius Püttmann) verwiesen, welche Hinweise für Interessenten hier empfehlend wiederholt seien. Warum nun findet die sexuelle Frage im Ehe-Buch keine ausdrückliche Behandlung? Weil es sie anstandshalber nicht geben dürfte; hier entspricht die traditionelle Tabu-Auffassung tieferem Sinnverstehen, als der jüngste Aufrichtigkeitsfanatismus. Erstens gehört, was die Natur unten hält oder im Verborgenen sich abspielen lässt, nicht zufällig, sondern wesentlich in die Region des Verborgenen. Wie das Kind nur in dunklem Mutterschoß, und nicht auf dem Präsentierteller, ausgetragen werden kann, so gehört das Geheimnis zum Wesen alles dessen, was mit Liebe zusammenhängt; sobald es gezeigt wird, wirkt es obszön, was im Gefühl jedes Menschen innerer Kultur von der ostentativen Zärtlichkeit Verlobter oder Vermählter fast noch mehr gilt, als vom eigentlichen Exhibitionismus. Zweitens aber gibt es in Wahrheit keine sexuelle Frage, weil der Weg der Fortpflanzung der eine ist, den seit Adam und Eva, oder vielmehr Eva und Adam, jeder kennt; dort, wo der Grundtrieb des Lebens am Werk ist, bedarf es wahrhaftig keiner Aufklärung. Gewiss kennt das Bewusstsein den Weg nicht von Hause aus; aber heute wissen wir, wie wenig dies im psychologischen Zusammenhang bedeutet. Das Verhalten gerade jedes unschuldigen Mädchens, sofern es nicht entartet ist, beweist, dass es über das Wesen der sexuellen Frage wenigstens ebenso gut Bescheid weiß, wie der routinierteste Mann. Und daraus folgt, dass die Frage der Aufklärung, wie sie meist gestellt wird, falsch gestellt ist. Das seelische Gleichgewicht jedes Menschen beruht auf dem jeweils richtigen Verhältnis von Bewusstsein und Unbewusstem. Deshalb ist es verfehlt, Unerwachsenen zu sagen, was nur der Bewusstseinsebene Erwachsener gemäß erscheint. Aber andererseits kann man keinen wirklich darüber aufklären, was er von sich aus nicht kennt. Insofern ist praktische Aufklärung vollkommen harmlos. Man vergleiche die Jungfrauen der Länder, welche selbstverständlich wissend aufwachsen — der Naturvölker, der Japaner, mancher Kreise des neuesten Europas — mit behüteten Jungfrauen im traditionellen Sinn: sie unterscheiden sich überhaupt nicht voneinander; allenfalls wirken die selbstverständlich Bescheid Wissenden unschuldiger. Gleich unschuldig sind sie unter allen Umständen, weil beide, ob sie noch so Verschiedenes äußerlich wissen, Gleiches verstehen. Das Problem der Aufklärung wird bedeutsam erst dann, wo sie die Verschiebung des normalen Zusammenhangs von Bewusstsein und Unbewusstem zur Folge haben kann oder soll. In diesem Fall ist Aufklärung rundweg zu verwerfen, denn nur durch Einleitung eines pathologischen Prozesses kann sie gelingen. Hiermit gelangen wir denn zur prinzipiellen Erkenntnis, dass die bloße Problemstellung der sexuellen Aufklärung ungesunden Instinkt beweist. Sie entspringt der Auffassung, dass es sich beim Sexuellen um nicht Normales handele. Wer immer Aufklärung so versteht oder betreibt, der ist ganz eindeutig ein Schwein. Da nun der bloße Begriff aus dem Geist des letzteren heraus erfunden ist, so möchte ich anraten, ihn aus der künftigen Pädagogik einfach auszuschalten. Auf der heutigen Bewusstseinsstufe mag es besser sein — ich weiß es nicht — dass der junge Europäer grundsätzlich über alles Sexuelle ebenso Bescheid wüßte wie der junge Wilde. Aber dann nur zwecks Begründung einer neuen Form der Unschuld.

Noch einen Hinweis muss ich im Zusammenhang des Buchs der Ehe bringen: auf die Bücher zur Rassenkunde, die mein Beitrag Von der richtigen Gattenwahl gemeinverständlich verarbeitet. Es ist erschreckend, wie sehr sich die Rasseneinheiten im Lauf der letzten Jahrhunderte, dank negativer Zuchtwahl, verschlechtert haben. Die weiße Menschheit kann ihre Stellung auf unserem Planeten fortan überhaupt nur dadurch erhalten, dass sie sich von eugenischen Gedanken leiten lässt. Deshalb empfehle ich jedem die folgenden Werke zu lesen, von denen ich persönlich viel gelernt habe. In erster Linie Günthers Kleine Rassenkunde Europas (München, J. F. Lehmann’s Verlag), die nur 6 Mark kostet und jedem verständlich ist (auch des gleichen Verfassers ebendort erschienenes größeres Werk, Die Rassenkunde Europas, ist natürlich lesenswert). Zweitens den zweibändigen Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene von Baur, Fischer und Lenz (ebenda). Drittens Grants The passing of the great race, auch deutsch erschienen. Viertens die ebenfalls auch deutsch erschienenen Bücher Lothrop Stoddards The Revolt against civilization und The rising tide of colour against white world supremacy, auf die ich in früheren Heften dieser Mitteilungen ausführlich hinwies. Endlich die hochinteressanten Schriften Ludwig Flügges Die rassenbiologische Bedeutung des sozialen Aufsteigens und das Problem der immunisierten Familien (Göttingen, Vandenhoek & Rupprecht) und Rassenhygiene und Sexualethik (Berlin W 35, Deutsches Literarisches Institut).

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
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