Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
12. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1926
Fortschrittliche und rückständige Völker
Es ist hohe Zeit, dass der Fortschrittsbegriff in allen seinen Dimensionen mit der Wirklichkeit in Einklang gebracht werde. Nachdem ich dies in der Schöpferischen Erkenntnis in bezug auf den wesentlichen Fortschritt getan und in der Neuentstehenden Welt in bezug auf den historischen, will ich Gleiches jetzt in Hinsicht auf den landläufigen Rückständigkeitsbegriff unternehmen.
Die Kulturgeschichte bewegt sich nicht geradlinig, sondern in Zyklen. Daraus folgt, dass gerade Linien einerseits nur oberhalb des organischen Kulturwerdens, andererseits nur innerhalb eines gegebenen Zyklus sinnvoll zu konstruieren sind, und hier jeweils nur eine kurze Strecke entlang. Sobald Kultur zur Zivilisation wird im Spenglerschen Verstand, handelt es sich nicht mehr um Fortschritt, sondern um Erstarrung. Soviel zum zweiten Punkt. Was aber den ersten betrifft, so liegen die Dinge so, dass das Fortschrittsmotiv, sobald ein neuer Zyklus begonnen hat, nicht in der noch so hohen Vollendung des überlebenden Alten liegt, sondern beim noch so barbarischen Jungen. So lag es am Ende der Antike nicht bei den Alexandrinern, sondern den Germanen.
Heute durchleben wir eine äquivalente Wende. Deshalb fällt es auch den wenigst philosophischen Beobachtern auf, dass der aus dem vorigen Jahrhundert überkommene Fortschrittsbegriff den Tatsachen nicht mehr gerecht wird. Und daraus ziehen sie zumeist die Konsequenz, dass dieser immer falsch war. Darin irren sie aber. Er war richtig und sinngemäß, solange er als Sinnbild aufsteigenden Lebens gelten konnte. Dies ist er ja auch heute bei den meisten Völkern des Ostens, die deshalb mit den gleichen Kategorien gut arbeiten, die bei uns versagen. Im Westen ist er’s aber allerdings nicht mehr. Eben darum, weil er keinem lebendigen Wachstum mehr zum Sinnbild dient. Bei uns hat ein Zyklus seinen Abschluss erreicht. Und daraus folgt: was vor noch zwanzig Jahren höchstes Fortgeschrittensein bedeuten konnte, ist heute unverkennbar Stagnationssymptom.
Einige Beispiele, die ich, meiner Art gemäß, der Verdeutlichung halber übertrieben hinstelle. Die fortgeschrittensten Länder im Sinn der Ideale des 19. Jahrhunderts sind heute, soweit ich urteilen kann, Neuseeland, Schweden und die Schweiz. Dort ist der größten Zahl das fortgeschrittenste
Leben gewährleistet. Dort herrscht auch die konsolidierteste soziale Moralität. Aber in Neuseeland, wo die soziale Fürsorge ihr heutiges Höchstmaß erreicht hat, kommt keine Initiative mehr auf; dort ist über Wohlstand und Wohlleben hinaus nichts mehr zu wollen. Ähnlich steht es mit Schweden. Das Volk hat daselbst auf so hoher Stufe ein so vollkommenes inneres Gleichgewicht erreicht, dass alle mögliche Dynamik in Statik eingemündet ist. Und nun zur Schweiz. Materiell mag es dort wechselnd gehen. Institutionell und moralisch ist sie dermaßen saturiert, dass ihren Bewohnern jeder grundsätzliche Fortschritt über ihren Zustand hinaus recht eigentlich widersinnig erscheint. Keinem einzelnen Schweizer mag ich zu nahe treten. Ohne weiteres gebe ich auch zu, dass viele schweizerische Institutionen nicht nur für heute, sondern zeitlos vorbildlich sind. Endlich erkenne ich dankbar an, dass dieses Land dank der Vollendung seines Zustands die beste Erziehungs-, Heil- und Erholungsstätte für andere ist, und insofern das berufene Wirtsland dieser Zeit. Aber geschichtlich und folglich fortschrittlich in dem Verstand, wie die Schweizer selbst es verstehen, gehört die Schweiz nicht mehr zu den vorgeschrittenen Ländern. Das lässt sich psychologisch unmittelbar beweisen. Unfehlbares Symptom inneren Stillstands ist die Selbstgerechtigkeit. Man lese nun einmal, wie die Schweizer Zeitungen allen Völkern von selbstverständlich eingenommener höherer Tribüne aus Lektionen erteilen; man höre sie als entscheidend die Tatsache proklamieren, dass Zürich oder Genf von Russlands Zukunftsmöglichkeiten nichts hält; man lese zumal, wie Genfer Blätter in wirklich oft anmaßendster Form die Ansprüche beraubter Minoritäten ablehnen und ihnen allenfalls zugute halten, dass der Ton ihrer Eingaben beweise, wie viel ihnen am Genfer Urteil liegt: so denkt und spricht allein der Pharisäer. Und das ist der eine Mensch, für den es kein Weiterkommen gibt. Mit der Schweiz ist es nun im Sinn möglicher historischer Weiterentwickelung wirklich aus, und insofern mag man es ihr gönnen, wenn sie den Tatsachen gegenüber überschwengliche Ausgleichsvorstellungen schafft, die schließlich niemand schaden. Im innig zusammenhängenden Europa von morgen kann sie nicht mehr bedeuten, wie eine einzelne, besonders gut verwaltete Stadt, und zwar wird sie wohl weniger bedeuten, als manche künftige Großstadt, weil es ihr immer schwerer fallen wird, einen wirklich eigenen weil ursprünglichen Geist zu entwickeln. Sie wird immer mehr von Fremdenindustrie leben. Bald wird zumal Genf ein einziges Organisations- und Stellenvermittlungsbureau geworden sein. Und da die ursprüngliche Schweizer Rasse unaufhaltsam abnimmt und der Zuwachs in immer höherem Prozentsatz durch Naturalisierung von Ausländern erfolgt, so wird auch der Schweizer Typus auf die Dauer dieser Endrolle angepasst erscheinen. Aber worauf es in unserem heutigen Zusammenhange ankommt, ist nicht dies, sondern der Umstand, dass das Schweizervolk, gerade wegen der Vollendung seines Zustandes, vom Standpunkt des Menschheitsfortschritts zu den zurückbleibenden gehört. Im gleichen Sinn wie das schwedische und das neuseeländische. Hier weht keine Zukunftsluft. Hier gilt noch der sterbende Liberalismus als letzte Losung. Seine Vollkommenheit ist die des Endes. Allerdings bringt die Schweiz, wie auch Schweden, wieder und wieder besonders bedeutende weil unmittelbar menschheitsbedeutsame Einzelne hervor. Doch dies geschieht ausschließlich im Rahmen der liberalen Berufe, die grundsätzlich außerhalb der historischen Bewegung stehen, und dies tat seinerzeit Alexandrien auch. Aber mit der Bedeutung des Schweizer Volkes haben diese Einzelnen nichts zu tun. Ein großer Mann als Volksführer ist dort fortan ausgeschlossen. Der Neid der Ausgeglichenen ließe ihn niemals aufkommen, und dies mit Recht, denn die Schweiz, wie sie geworden ist, steht und fällt mit ihrer konsolidierten Ausgeglichenheit.
Insofern ein neuer Zyklus begonnen hat, sind die sogenannten vorgeschrittenen
Länder in Wahrheit die rückständigsten des Westens. Dies beweisen völlig eindeutig der Widerstand gegen jede Erneuerung und der Pharisäismus. Es kommt eben auf beste Einrichtungen nicht alles an. Letztinstanzlich entscheidet die Frage, wo die Erneuerung der Menschheit statthat. Diese beginnt nun, wie alles Leben, keimhaft, und ihre Anfangsstadien gestatten gar oft keine Rückbeziehung auf absolute Menschheitsideale. Heute bedeuten das fascistische Italien und der bolschewistische Osten zweifelsohne ein Fortschrittlicheres als die überlebenden saturierten Demokratien, und doch verleugnen sie die besten Errungenschaften der liberalen Ära. Aber wenn man fortschrittlich denkt, dann hat die Jugend gegenüber dem Alter immer recht. Jedes Leben ist wertvoller als der Tod. Und versteht man, aus dem Keim die kommende Reife vorauszuerschließen, so nimmt man den zeitweiligen Prestigeverlust auch allgemeingültiger Ideale nicht tragisch. Wer diese Wendezeit verstehen will, muss nun lernen, von den Keimen aus zu denken. Wer immer sein Urteil an früherer Vollendung orientiert, geht ebenso notwendig fehl, wie der späte Römer, der in der Germanisierung der Welt nur Barbarisierung sah.
Neuseeland, Schweden und die Schweiz sind heute die rückständigsten Länder des Westens. Dies gilt aber nicht von Frankreich. Gewiss ist auch dort viel, gar vieles totgeweiht. Das letzte Jahrzehnt entlang hat sich sein Geist auch zu sehr vergangenen Idealen verschrieben, als dass sich dies nicht bitter rächen sollte. Ferner ist seine Geistigkeit so exquisit geworden, dass natürlicher Drang sie dazu antreibt, ein reines Eigenleben zu führen und auf historische Bedeutung zu verzichten — das schlimmste Verkennen seiner Rolle, das dem Geist passieren kann. Jede Einstellung im Sinn eines l’art pour l’art ist Sterbesymptom. Aber nur die verhältnismäßig geringe Zahl welche solche einnimmt, ist deshalb historisch totgeweiht. Nicht umsonst ist Frankreich der schönste Erdstrich Europas, und das ihn bewohnende Volk nicht allein eins der geistig und moralisch begabtesten, sondern auch der wurzelechtesten und deshalb vitalsten der Welt. Deshalb wird es sich ganz gewiss aus sich selbst heraus erneuern. Und dies durchaus nicht allein durch Aufkreuzung oder Einwanderung. — Nicht viel anders steht es mit Deutschland. In seinem wilhelminischen Zustand war es freilich rückständig; dies bewies allein schon völlig eindeutig sein Pharisäismus. Auch alle die Deutschen, die an der bitteren Erfahrung nichts gelernt haben und nach wie vor von Tüchtigkeit, Organisation und Wissen alles erwarten — wozu leider auch noch viele Hochschuljahrgänge seit dem Krieg gehören — sind zum Erledigten zu zählen. Aber ob es nun daraufhin auch einige Jahrzehnte später, als sonst möglich gewesen wäre, zum Neuaufstieg kommt — dieser bleibt nicht aus. Das deutsche Volk ist eines der jugendlichsten der Erde. Wie ich’s schon oftmals schrieb und sagte: seine größte Zeit steht erst bevor, wenn es nur will, dass heißt wenn es sich bewusst auf die Zukunft und nicht die Vergangenheit einstellt.