Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Anhang:Die Schule der Weisheit in Darmstadt

Rhythmus zwischen Hochspannung und Entspannung

Die Schule der Weisheit kann und soll, wie aus dem Inhalte des Buchs in dessen Gesamtheit hervorgeht, nur ein Mittelpunkt persönlichen Einflusses sein. Hieraus ergibt sich, dass aller Nachdruck in Darmstadt nicht auf der Sache, sondern den Personen liegt. Jene kann genau nur solange und nur insoweit bestehen, als Persönlichkeiten entsprechender Einstellung, Fähigkeit und Sehnsucht sie als Ausdrucks- und Selbstverwirklichungsmittel nutzen. Dies besagt keineswegs, dass die Sache sterblich wäre: wenn sie zunächst nur dank mir und meinem Mitarbeiter Erwin Rousselle bestehen kann, so werden sich, je weiter die Zeit fortschreitet, desto häufiger weitere Persönlichkeiten gleicher Einstellung finden, welche als Lehrende in Frage kämen, denn eine solche ist niemals ein Individuelles, sondern ein Typisches. Wohl aber besagt es, dass die Sache eben nur als Ausdrucksmittel von jeweilig lebenden Menschen, als Tatsache, wie als Wert, betrachtet und behandelt werden darf, unter welchen Menschen Lehrer und Schüler zusammen zu verstehen sind. Deshalb muss sich aller äußere Betrieb an der Schule der Weisheit aus dem inneren Bedürfnis und der lebendigen Notwendigkeit ergeben. Deshalb kann nichts Besonderes daran in abstracto festgelegt werden. Im allgemeinen kennt die Schule der Weisheit bisher drei Auswirkungsarten. Deren erste stellen die je eine Woche ungefähr dauernden Tagungen der Gesellschaft für Freie Philosophie dar. Die auf diesen gehaltenen Vorträge haben ein gemeinsames Grundthema, das von verschiedenen Rednern, entsprechend deren Persönlichkeit und Weltanschauung, dabei aber von einer vorgegebenen Einstellung abgewandelt wird, so dass die verschiedenen Vorträge unwillkürlich als Koordinaten wirken, die auf einen tieferen Sinnesmittelpunkt hinweisen, als solcher sich aus einem Einzelvortrag erschließen ließe.

So war das Grundthema der Herbsttagung 1921 das Problem des Verhältnisses vom Ewigen Sinn zur notwendigen räumlich-zeitlich bedingten Wandlung seiner Äußerungsarten, das ich zunächst grundsätzlich, entsprechend dem letzten Zyklus dieses Buchs, Erwin Rousselle darauf durch das Medium der allgemeinen Religionsgeschichte hindurch, Professor Dibelius am Beispiel des Verhältnisses vom geschichtlichen zum übergeschichtlichen Christentum behandelte und zuletzt Richard Wilhelm aus dem Geist der chinesischen Urweisheit heraus. Der Erfolg war der, dass den meisten Hörern eine Ahnung dessen aufging, dass es ein Tieferes gibt, als bestimmte Weltanschauung, und die besondere Einstellung der Schule der Weisheit einer großen Zahl so deutlich wurde, wie dies wahrscheinlich durch kein Studium meiner bisherigen Schriften der Fall gewesen wäre. Gleichsinnig war zum Grundthema der Herbststagung 1922 das der Spannung erwählt — das Ideal liegt nicht in der Ausgelöstheit der Gegensätze, sondern deren richtiger Kontrapunktierung —, welches Thema in seiner neunfachen Abwandlung durch das Medium gleich vieler selbständiger Persönlichkeiten hindurch geeignet schien, der Mehrzahl den Sinn alles westlichen Idealismus und Heroismus, durch alle Vielfalt seiner Sondergestaltungen hindurch, zum erstenmal ganz deutlich zu machen. Doch die Vorträge erschöpfen den Sinn der Tagungen nicht: vor allem findet auf diesen auch persönliche Fühlungnahme zwischen den Vortragenden und den Besuchern statt, und zwar in der lebendigen Atmosphäre der Schule der Weisheit, die der besondere Stil der Veranstaltung (Diskussionsverbot, allgemeine Einstellung auf Qualität, Niveau und Persönlichkeit, gegenseitiges Sich-Aufschließen; vgl. S. 464 dieses Buchs und die Angaben in den verschiedenen Heften des Wegs zur Vollendung) zu einem mächtigen Kraftfelde steigert.

Dass die Tagungen die beabsichtigte Wirkung tatsächlich erzielen, kann auf Grund der bisherigen Erfahrungen mit Bestimmtheit versichert werden: über Erwarten viel vom Geist des Darmstädter Zentrums ist durch diese bereits in die Welt hinausgeflogen und wirkt dort weiter. — Aber selbstverständlich kann die beste Massenveranstaltung ihren Teilnehmern nur ein Bruchteil des Geistes mitteilen, der in der Schule der Weisheit am Werke ist. Wohl ruft gerade solche, richtig eingestellt und geleitet, wie jeder Gottesdienst beweist, einen magischen Strom ins Leben, welcher viele ergreift, die auf andere Weise unergriffen blieben. Aber sobald große Zahlen überhaupt in Frage kommen, tritt unabwendbar die Psychologie der Massen mit ins Spiel, weshalb die geistigsten Einflüsse vielfach unwirksam bleiben (S. 454). Deshalb legen wir auf die Tagungen den geringsten Nachdruck und den größten auf die Individualbehandlung der Schüler. Zu dieser leiten die Exerzitienkurse (die zweite Auswirkungsart der Schule der Weisheit) über. Was diese bedeuten, steht auf S. 437 ff. auseinandergesetzt, ausführlicher ferner in Rousselles Mysterium der Wandlung. Hier nur so viel: sie finden dreimal jährlich statt, für höchstens 35 Personen auf einmal, und dauern ihrerseits ungefähr eine Woche. Ich führe sie durch zwei Vorträge und ein Colloquium über Meditationstechnik ein, wie ich denn auch das den Sinn zusammenfassende Schlusswort spreche. Die Exerzitien selbst leitet Dr. Rousselle. Dieser hält sich dabei, was die Symbole und deren Zusammenhang betrifft, an uralte Menschheitstradition, der geistige Urquell ist aber auch bei diesen Übungen der besondere Impuls der Schule der Weisheit, wie er sich durch dieselben denn auch erfahrungsgemäß den meisten Seelen unwillkürlich mitteilt. —

Nun zur Individualbehandlung. Über dieses Wichtigste lässt sich in abstracto eigentlich gar nichts sagen, da ihre Art ganz und gar von derjenigen der jeweiligen Schüler abhängt. Da diesen eine tiefere Einstellung und ein neuer Lebensrhythmus vermittelt werden soll, die sie zu einem höheren Seinsniveau hinauf heben, und solches nur auf suggestivem Weg gelingt (S. 448), so ist das, was jeweilig geschieht, das Unwesentlichste, keinesfalls mehr wie ein Übertragungsmittel. Die Hauptsache ist, dass der Schüler sich in richtiger Einstellung in das Kraftfeld eines begibt, der in der fraglichen Richtung weiter ist als er. Dann mag äußerlich über beinahe Beliebiges geredet werden: der Einfluss wirkt sich aus, denn der Lehrende verharrt bei der Behandlung aller Fragen in der besonderen Weisheitseinstellung, und der Schüler will diese vor allem empfangen. Im ganzen Weltall wirkt Gleiches auf Gleiches ein, hängt alles, was einer gleichen Daseinsebene angehört, innigst zusammen. Wie der Einfluss jedes physischen Vorgangs in seinen Nachwirkungen die Erde umspannt, wie alles Tun und Können durch Nachahmung schließlich allgemein wird, wie Gedanken und Gefühle unmittelbar anstecken, genau so unmittelbar wirkt Sein auf Sein. Dementsprechend wirkt ein Höhergeartetes unmittelbar erhebend, gleichwie umgekehrt ein Niederes unmittelbar herabziehend. Die einzige Bedingung zur Beeinflussung durch den Geist der Schule der Weisheit ist die, dass der Schüler die entsprechende Haltung einnimmt, d. h. sich beeinflussen lassen will. Er muss sich ebenso vollkommen dem Lehrer hingeben, wie der Patient dem Arzt. Fehlt ihm das Vertrauen dazu, dann bleibe er fort, denn ohne solches ist nichts zu erreichen. Er muss jede Anregung rückhaltlos hinnehmen, sich vollkommen öffnen, gleich vollkommene Offenheit vertragen.

Von aller Auseinandersetzung über Ansichten muss er grundsätzlich absehen, nichts anderes von uns verlangen, als was wir geben wollen, denn jeder falsche Gedanke, jede schiefe Stellungnahme, ja jede Stellungnahme überhaupt verbaut den Weg zum Wesen1. Überdies muss er die natürliche Trägheit überwinden, mit seinem ganzen Wesen mitarbeiten. Tut er dieses alles, dann bleibt die Wirkung niemals aus. Hier walten ebenso gewisse psychologische Gesetze, wie solche für Lernen im sachlichen Verstande gelten. Die besondere Seinsqualität des Weisheitslehrers wirkt, richtig ausgestrahlt und empfangen, im gleichen Sinn und Maße steigernd auf die des Schülers ein, wie die Könnensqualität des Fachlehrers das Können steigert. Nur spielt bei der Unterweisung, die hier in Frage kommt, da kein Inhaltliches, sondern Leben selbst, als Einstellung und Rhythmus qualifiziert, übertragen werden soll, die Zeit kaum eine Rolle; sie wird geringer proportional der Begabung und Empfänglichkeit des Schülers. Bei den wertvollsten genügt oft ein einziges Gespräch, sogar ein kurzes Zusammensein, während dessen nichts Bestimmtes verhandelt wurde.

Länger wie acht Tage hintereinander ist kaum einer der für die Schülerstellung erforderlichen Anspannung, länger kaum je der Aufnahme fähig. Den wenigsten hat es gefrommt, wenn ich mich mehr als drei Tage hintereinander intensiv mit ihnen beschäftigte; die gewonnene Förderung hat sich erfahrungsgemäß am größten dann erwiesen, wenn einer nach ganz kurzem, aber desto voller ausgenütztem Aufenthalt in Darmstadt heimreiste, den empfangenen Impuls, ohne zuviel in abstracto nachzudenken, in sich nachwirken ließ, und dann erst wiederkam, wenn er sich soweit vorgeschritten fühlte, dass sich ihm von neuer Basis her neue Probleme stellten. Doch die Beschränkungen für die Dauer eines Aufenthalts in Darmstadt, die ich hier angebe, gelten selbstverständlich nur unter Voraussetzung des heutigen Darmstädter Zustands, wo der Besucher der Schule der Weisheit außerhalb der Sprech-, Vortrags- und Exerzitienstunden ganz auf sich selbst angewiesen ist. Sind wir einmal so weit, über eigene Wohn- und Gasträume, vor allem einen Park oder Garten zu verfügen, so dass es möglich wird, ihre Besucher ganz in ihrer Atmosphäre leben zu lassen, dann werden zweifelsohne gerade längere Aufenthalte in Darmstadt empfehlenswert werden. Schon jetzt tragen solche den allgemeinen Charakter einer Retraite.

Wer immer nach Darmstadt pilgert, tritt insofern aus seinem gewohnten Kreise heraus, lebt eine Weile ganz sich selbst, hält innere Einkehr. Der friedliche Charakter der Stadt, ihre schöne, waldige Umgebung begünstigen die entsprechende Stimmung in ungewöhnlichem Maß. Aber einmal muss die Schule der Weisheit als solche der inneren Einkehr den erforderlichen äußeren Rahmen bieten können. Ihr eigenster Rhythmus verlangt die Abwechslung von Spannung und Entspannung. Die Tagungen, Exerzitien und Sprechstunden erzeugen einen Zustand höchster Gespanntheit oder setzen solchen voraus. Dieser Systole muss die Diastole der Ruhe und des Schweigens in angemessener Atmosphäre folgen. Alles Meditieren erfolgt ja im Zustande der Entspanntheit; dessen Erfolg hängt in hohem Grad von der angemessenen Umgebung ab: deshalb wird die Schule der Weisheit, noch einmal, auf die Dauer unbedingt ihre eigene, eigens dazu eingerichtete Retraite besitzen müssen. Aber dabei wird es sich eben um eine Retraite im eigensten Wortsinne handeln, kein Gemeinschaftszentrum im üblichen Verstand. Die Weisheit verlangt außerhalb der Stunden der Anspannung an erster Stelle Schweigen. Schweigen als solches macht weiser als das klügste Reden, es macht auch stärker und gesünder, denn ihm wohnt eine geheimnisvolle Tugend inne. Deshalb wird das Diskussionsverbot in Darmstadt für alle Zeit bestehen bleiben, und ein Bekanntwerden seiner Besucher untereinander, und möchten später noch so viele gleichzeitig hier weilen, niemals begünstigt werden. Wer herkommt, soll im Sinn der Weisheit weiterkommen. Dies gelingt nur, wenn der Rhythmus zwischen Hochspannung und Entspannung, welche letztere das Schweigen zur Grundstimmung hat, streng eingehalten wird.

1 Vgl. meinen Aufsatz Von der einzig förderlichen Art des Aufnehmens im 3. Heft des Wegs zur Vollendung.
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Anhang:Die Schule der Weisheit in Darmstadt
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