Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Was uns nottut

Verstehen des Sinns

Eine Synthese der verschiedenen Bestandteile des Menschen zur Totalität gelingt desto schwerer und seltener, je mehr einer derselben vorherrscht. Dies erweist die Geschichte mit großer Anschaulichkeit. Dass es den Slawen, deren Gesamtanlage von allen europäischen weitaus die reichste ist, so überaus schwerfällt, zur kulturellen Vollendung zu gelangen, liegt daran, dass die Gefühlsbegabung bei ihnen alle anderen so sehr überwiegt, dass ihre dank diesem Umstand flüssige Seele einer festen Gestaltung nahezu unfähig scheint. Der Idee nach müsste das europäische Menschentum im Slawen dereinst seinen höchsten Ausdruck finden, weil eben der Körper der Gefühle des Menschen unmittelbarstes Ausdrucksmittel ist, doch wird dies praktisch nicht früher möglich sein, als bis Jahrhunderte der Bildung und Tradition dessen Seele nicht einigermaßen gefestigt haben werden. Dennoch ist überwiegendes Gefühlsleben gegenüber einer Hypertrophie des Intellekts das geringere Hindernis. Diesem nämlich fehlt jede notwendige Bezeichnung zur Totalität des Lebens, er ist seinem Wesen nach zersetzend und erneuernd, und jeder nicht intellektualen festen Gestaltung feind. So haben die Griechen, gerade wegen ihrer wunderbaren, alle übrigen Bestandteile ihres Wesens übertreffenden Geistesbegabung, trotz des herrschenden Ideals der Kalokagathie, keinen vorbildlichen Dauerzustand ereicht und hätten solchen auch nicht erreichen können.

Eine kurze Zeit lang gelang ihnen allerdings eine einzig dastehende, weder früher noch später je wiederholte Synthese von körperlicher und geistiger Vollkommenheit, aber die griechische Seele ließ immer viel zu wünschen übrig, und gar bald ward deshalb aus dem Idealhellenen der windige Graeculus. Heute nun, wo kein Volk die sonstigen Gaben der Griechen besitzt, gilt von allen, welche dem westlichen Kulturkreis gehören, dank dem objektiven Fortschritt der Erkenntnis, eben das, was jene verdarb: der Intellekt mit seinen Gestaltungen überwiegt und überwiegt in einem Grade, wie im Fall von Völkern nirgends und nie zuvor. Dabei sind die Seelen der Mehrzahl nicht allein unentwickelter als jemals früher — deren Entwicklung wird überhaupt nicht mehr bewusst als Forderung gestellt. So kann es geschehen, dass unbefangene Menschen Fragen der Gattung aufwerfen, wie solche die feinfühlige Gattin eines Bolschewistenführers einmal einer baltischen Edelfrau gegenüber stellte: woher es wohl komme, dass die meisten, welche die richtige Weltanschauung bekennten, schlechte und so viele von verkehrter oder zurückgebliebener Lebensansicht gute Menschen seien. Gesinnungsadel, Bildung überhaupt, ist eben eine Eigenschaft der Seele, d. h. des Gesamtmenschen, wie er sich in seinen Leidenschaften, Hemmungen, Wollungen, Gefühlen und Entschlüssen darstellt, nicht des bloßen Intellekts. Für sie gelten die gleichen Forderungen wie für ein Kunstwerk, sofern es schön sein soll: jedes Element muss vom Ganzen seinen Ort und seine Bedeutung zugewiesen erhalten; in diesem Zusammenhang sind sittliche Vorzüge immer zugleich auch ästhetisch zu verstehen. Daher die ungeheure, immer wieder auf das grausamste sich erweisende Bedeutung alter Kultur, auf dem Gebiet der vornehmen Gesinnung nicht minder, als auf dem der schönen Form.

Innerhalb der alten Kulturschichten, soweit diese nicht degeneriert sind, wachsen edlere Seelen als unter dem Volk, so oft dieses sich jenen intellektuell überlegen erweisen mag, weil Tradition allein, der Atmosphäre der Kinderstube mitgeteilt, während der entscheidenden Wachstumsjahre als Forderung wirkend, die Organisierung der Psyche erzielt, welche diese sowohl wohlgestaltet an sich als im übrigen fähig macht, neue Geistesinhalte harmonisch dem Gesamtleben einzuverleiben. So danken die Franzosen jene Charakterüberlegenheit, die sich während des Weltkrieges wieder einmal erwies, vor allem dem Alter ihrer Kultur, das dank dem Umstand, dass Frankreichs eigentliche Lebensquelle ein konservatives, kerngesundes Provinzlertum ist, keine Entartung der Mehrheit bedingt hat. Der Organismus der französischen Seele kann seinen Stammbaum bis zur Antike zurückverfolgen, was von keiner anderen auf diesem Erdteil in gleichem Maße gilt. — Das vorbildlichste Menschentum ist bisher, was nach dem vorher Gesagten niemand wundern wird, in der Masse wenigstens, von unintellektuellen Völkern verwirklicht worden, sofern deren Seele ein günstiges — sowohl reiches als vor allem haltbares — Material bot. Dies galt von den Römern in beschränktem Maß, weshalb diese ein höheres Idealbild als das des vollkommenen politischen Menschen nie erschaffen haben; es gilt in sehr hohem von den Engländern. Intellektuell meist recht mittelmäßig, stehen diese auf einer in Europa sonst unerreichten seelischen Entwicklungshöhe, was hier nicht den Reichtum, sondern die ursprüngliche gefestigte Wohlgestalt der Seelenanlage zur Ursache hat, welche Anlage dann durch ein weises Erziehungssystem auf das wirksamste ausgebildet wird. Dieses, nicht auf größtmögliches Wissen oder spezialisierte geistige Meisterschaft bedacht, sondern auf die Heranbildung eines möglichst feinen Charakters, schafft aus dem Engländer in erster Linie einen Menschen, weshalb alles, was er betreibt, aus dem Zentrum seines Wesens stammt oder auf dieses zurückweist. Seine Instinktsicherheit auf jedem seiner Anlage gemäßen Gebiet ist der naturgemäße Ausdruck dieses Verhältnisses. —

Das bisher vollkommenste Menschentum als Normalerscheinung überhaupt hat China herausgearbeitet, und auch dieses Mal rührt der Erfolg zum großen Teil daher, dass es sich um ein Volk handelt, in dessen konservativer Gesamtanlage seelische Qualitäten über den geistigen überwogen, mochten diese noch so erheblich sein. Indem der nationale Vollkommenheitsstandard verlangte, dass die Weisheit als Anmut zutage träte, indem dort die Schönheit als Gradmesser der Tiefe beurteilt wurde und die Moralität als gebildete Natur, indem vor allem der Mittelpunkt des Lebens ins Moralische verlegt wurde, zentrierte es sich tatsächlich im Wesenszentrum, und Chinas werbende Kraft, welche diejenige Englands noch um ein Vielfaches übertrifft, beweist, dass es den Akzent auf die richtige Stelle gesetzt hat. — Doch was hilft uns China, hilft uns alle fremde oder vergangene Vollkommenheit? Wir haben mit dem Material unter den Voraussetzungen zu arbeiten, die uns gegeben sind. Und da gilt es, sich einzugestehen, dass dem überintellektualisierten Europa keiner der früher gewiesenen Wege zur Vollendung mehr weiterfrommt. Chinas Kultur beruhte wesentlich auf Autoritätenglauben, der nur auf dem Boden geistiger Unbeweglichkeit oder kritischer Unzulänglichkeit gedeiht; diejenige Englands zum großen Teil auf cant, der nicht zwar Unaufrichtigkeit bedeutet, wohl aber ein Nicht-sich-Eingestehen der seelischen Wirklichkeit, ein Voraussetzen für-gut-geltender Motive überall, was wieder auf Autoritätenglauben hinausläuft; die konservative Grundanlage, die sich zur Verewigung eines Vergangenen überall als unerlässlich erweist, kann heute nirgends mehr als Macht vorausgesetzt werden, denn die Massen, welche heute entscheiden, haben allgemein keinen Teil mehr an der Tradition. Alle vergangenen Autoritäten sind für das moderne Bewusstsein als tot zu betrachten, mögen sie im übrigen als retardierende Motive noch lange nachwirken. Die bloße Möglichkeit der Vollendung auf der Ebene des früheren unkritischen Zustandes besteht für dasselbe nicht mehr. Seine Ideale sind Urteilsfreiheit, Aufrichtigkeit, Bewusstsein, Verstehen des Sinns. Was der Kritik nicht standhält, wird nie mehr dauernd herrschen können. Allem Vorurteilsbedingten gegenüber hat der Bolschewismus leichtes Spiel, der bezeichnenderweise gerade im Orient eine stetig anwachsende Zahl von Anhängern wirbt. Was ist zu erwidern, wenn bewiesen wird, dass es sich bei dem, was dem Leben bisher Halt und Form gab, um Vorurteile handelt? Auf gleicher Ebene nichts. Daher das unwahrscheinlich schnelle Dahinsterben aller seelischen Bindungen überall. Man kann füglich behaupten, dass nicht allein die Massen ganz Europas, sondern alle jüngsten Vertreter des modernen Zeitgeistes die überkommene Kultur überhaupt nicht mehr verkörpern, sondern dieselbe als Außenstehende sich gegenübersehen — so wie dies, in etwas anderem Sinn, von Amerika gegenüber Europa schon lange galt.

Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Was uns nottut
© 1998- Schule des Rades
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