Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Erster Zyklus:I. Seins- und Könnenskultur

Seelenlosigkeit

Wer das moderne Japan mit dem alten vergleicht, das sich von Jahr zu Jahr immer mehr in die Abgelegenheit zurückzieht, gelangt unweigerlich zum Urteil, dass dieses jenem überlegen ist. Das Können der Schüler Europas im östlichen Inselreich hat das der Lehrerin vielleicht bereits erreicht; ihr Sein hingegen wirkt desto unzulänglicher, je mehr seine Art sich der unsrigen angeglichen hat; schlechthin oberflächlich wirkt es, verglichen mit dem der Träger altjapanischer Tradition. Der gleiche Eindruck überkommt den Reisenden, verstärkt, in China, dessen verwestlichte Bewohner den Vergleich mit den wurzelechten in keiner Weise aushalten. Und er steigert sich bis zur Schmerzhaftigkeit, wenn der Reisende den anglisierten Hindu, oder gar den Eurasier mit dem Verkörperer der besten indischen Kulturüberlieferung vergleicht. Jener versteht sich in der Regel selbst nicht mehr, sobald er englisch denkt; er urteilt oberflächlicher über die Weisheit seiner Väter, als beschränkte europäische Philologen. Hat er den Briten manche technische Griffe abgelernt, dank welchen er mit ihnen äußerlich in Wettbewerb treten kann, so steht er als Geist, als Seele, als Mensch tief unter denen, welche jener kraft höheren Könnens mühelos beherrscht. So scheint es kein unbedenkliches Unterfangen, eines anderen Wesens Können zu übernehmen; bei solcher Kreuzung wirkt anscheinend ein ähnliches Gesetz, das den Mulatten und Mestizen zum Träger nur der Fehler seiner verschiedenartigen Vorfahren macht. Keinesfalls scheint noch so hohes Können als Beweis wahren Fortschritts gelten zu dürfen, das nicht von entsprechendem Sein getragen wird. Was heißt nun Sein? Sehen wir von allen metaphysischen oder erkenntnistheoretischen Bestimmungen ab: wer Können und Sein an Erlebtem unterscheidet, weiß, was er, und dass er Reales meint. Man suche nie erst durch Definitionen zu erfahren, was sich von selbst versteht. Unter dem Sein eines Menschen verstehen wir alle selbstverständlich sein unmittelbares Wesen, im Körper seiner Gedanken, Gefühle und Wollungen ausgedrückt; diese weisen, wo Sein bestimmt, unmittelbar auf den Kern der Persönlichkeit zurück, in dem sie organisch verankert sind. Demgegenüber ist Können zunächst ein bloß Äußerliches, welches jeder sich, wo die entsprechenden Anlagen nicht fehlen, aneignen mag, ohne dass hierdurch ein Zusammenhang mit seinem Wesen hergestellt wäre.

Nun, diese kurze Betrachtung vermittelt bereits das Verständnis des unerfreulichen Eindrucks, den der modernisierte Osten gegenüber dem alten macht: dort besteht kein Zusammenhang zwischen Wesen und Äußerungsart. Da nun das Wesen ein überaus langsam Geformtes und entsprechend Langlebiges ist — von Volk zu Volk verschiedene, besonders eingefahrene Nervenbahnen vererben sich durch die Geschlechter fort —, so folgt praktisch aus der geschilderten Zusammenhanglosigkeit, dass sich das Wesen dort, wo entsprechende Ausdrucksmittel fehlen, nicht manifestieren kann; der anglisierte Hindu gleicht, übertrieben gesprochen, einem Raffael ohne Hände. Hieraus folgt, logisch genug, weiter, dass das Wesen, da es sich nicht ausdrücken und folglich ausbilden kann, allmählich verkümmert, welcher Umstand seinerseits, ganz natürlich, Ressentiment-Gefühle entstehen und wachsen lässt, bis dass zuletzt die schlechtere Seite der Natur das Übergewicht erlangt. Sachlich und nach außen zu folgt aber aus dem gleichen Verhältnis, dass die westlichen Ausdrucksmittel, von Asiaten noch so gewandt verwendet, nicht das sagen, was sie sagen können; noch hat der Orient auf den Gebieten unserer Wissenschaft und Technik nur ausnahmsweise gleichwertiges geleistet, obgleich es sich hier um ein Äußerliches handelt, welches grundsätzlich zu jedem Wesen in Beziehung zu setzen ist; und er hat vollkommen versagt überall, wo er sich mit dem Westen entlehnten Ausdrucksmitteln geistig schöpferisch versuchte. Aus diesen Erwägungen ergibt sich nun ein Grundsätzliches, dessen Bedeutung über die betrachteten Beispiele weit hinausreicht: nämlich die Unzulänglichkeit des üblichen Fortschrittbegriffs. Fortschritt wird gewöhnlich in Funktion des Könnens definiert. Dass dies nicht angeht, beweist eben das Beispiel des modernisierten Ostens.

Gleiches beweist aber auch, und vielleicht noch schlagender, das des jüngsten Westens. Hier hätte es zu keiner Diskrepanz zwischen Sein und Können zu kommen gebraucht, denn schließlich ist dieses ursprünglich aus jenem hervorgewachsen. Aber nachdem einmal der rein das Können betreffende Fortschrittsbegriff die bewusste Entwicklung bestimmte, wurde dieses zum so ausschließlichen Ziel, dass jeder Sinn sogar für Seinswerte immer mehr entschwand; so sehr kommt es auf die Gedanken des Menschen an. Nachdem bloßes Wissen lange genug als Ideal gegolten, nachdem man es lange genug gewohnt ward, die Persönlichkeit an ihrer Tüchtigkeit, die Gesinnung an der Parteizugehörigkeit oder dem Programm zu messen, kurz den Menschen als Sache zu beurteilen, erfolgte im Westen eine recht eigentlich künstliche Aufhebung des Zusammenhangs zwischen Sein und Können, und zwar mit genau dem gleichen Erfolg, welchen die Übernahme unverstandener Ausdrucksmittel den Asiaten eintrug. So konvergieren Ost und West im schlechthin-Schlechten. Im vorgeschrittensten Westen gibt es nur mehr Könnenskultur: dies ist der wahre Sinn der modernen Seelenlosigkeit, welche gesteigert auf den sich mechanisierenden Osten übergreift. — Wohl leben auch unter uns noch Verkörperer echter Seins-Kultur; aber diese gehören dem Geist der Vergangenheit an und vermögen das moderne Leben nicht mehr zu bestimmen. Ihre Ausdrucksmittel sind den Jungen unverständlich geworden, die überdies den neuen Aufgaben tatsächlich nicht mehr gewachsen erscheinen. Ein Ritter, ein Katholik des Mittelalters, ein Protestant der Reformationszeit, ein Zeitgenosse Goethes — sie alle kommen noch vor, denn Kulturtypen sterben so schnell nicht aus und die Geschichte besteht aus so reinlichen Ablösungen nicht, wie die Historiker dies gern konstruieren — kann seiner Mentalität nach, wie er sich auch stelle, heute nicht mehr Gutes wirken, denn ihm fehlt der innere Kontakt mit den Kräften der veränderten Wirklichkeit. Dank diesem Umstand befinden sich auch die tiefgebliebenen Alten, sozial und historisch betrachtet, in einer ähnlichen Lage, wie verwestlichte Asiaten und mechanisierte Europäer.

Bedarf es eines weiteren, um den bolschewistischen Zug dieser Zeit auf der ganzen Erde zu erklären? — Die Unzeitgemäßen verzweifeln, verfallen entweder in Passivität oder sie verschreiben sich reaktionärer Katastrophenpolitik. Unter den Zeitgemäßen aber wird immer mehr Einzelnen, Gruppen und Völkern die traurige Wahrheit bewusst, dass die moderne Kultur zu einer solchen des reinen Könnens geworden ist, in welcher das lebendige Wesen, anstatt sich auszuleben, erstickt. Dies führt denn naturgemäß zu einem krampfhaften Befreiungsdrang, welcher sich deshalb so radikal und rücksichtslos äußert, wie keiner zuvor, weil tatsächlich der ganze Kulturkörper zur Äußerlichkeit geworden ist. Der ganze Osten steht im Zeichen der Erhebung gegen die Errungenschaften des Westens, die dort als Weg zur eignen Seele zurück erscheint. Die auf Innerliches bedachte Jugend Europas urteilt ähnlich: fort mit allem, was unsere Entwicklung hemmt! Hier fassen wir den eigentlichen Sinn jener Konvergenz mit Russland, die sich zuerst in der Tolstoi- und Dostojewski-Verehrung manifestierte und seither in der unaufhaltsamen geistigen Bolschewisierung der begabtesten Jugend aller Länder äußert1. An und für sich sind die Probleme Russlands und des Westens grundverschieden; als dort der Nihilismus aufkam, bedeutete er für den Westen nichts und konnte es nicht tun. In Russland hingegen hatte er seinen guten Sinn. Mittelalter, Renaissance und Aufklärung hat dieses nie erlebt; gewaltsam wurde einer Masse, welche geistig und seelisch dem 9. Jahrhundert angehörte, einer Oberschicht, deren Charakter über den des 15. und 16. Jahrhunderts im allgemeinen nicht hinausentwickelt war, die Moderne äußerlich oktroyiert. Da nun das russische Volk ein innerlich gesinntes ist, so merkte es früh den Widerspruch zwischen Sein und Können, gelangte es früh zur Einsicht, dass es das, was es auf westlich ausdrückte, so nicht meine. Und so begann, aus den gleichen Beweggründen wie die Bewegung Gandhis im heutigen Indien, der Wille zum Abbau des Übernommenen geschichtlich zu bestimmen, ein Wille, der unter der ehernen Führung der Bolschewisten sein Ziel seither nahezu erreicht hat. An und für sich ist der Nihilismus demnach ein ausschließlich russisches Phänomen. Aber sein Geist ist zu dem der übrigen Welt geworden, weil die Hypertrophie des Könnens und seiner Gestaltungen in allen Weltteilen einen ähnlichen Zustand herbeigeführt hat. Die begabtesten Jungen fühlen gar keinen Zusammenhang mehr zwischen ihrem Wesen und den überkommenen Formen. So streben sie zunächst nach dem Naturzustande zurück: Wissen und Können hätten sich ad absurdum geführt.

Haben sie das wirklich? — Nun, dass Können und Wissen genügten, um ein hohes Kulturniveau zu beweisen, dieses Missverständnis hat das Schauerbild des Weltkriegs widerlegt. Dieses hat über allen Zweifel hinaus erwiesen, dass der moderne Mensch viel hemmungsloser dasteht — und dies im üblen Sinn — als alle seine Vorfahren; heute kennzeichnet die Völker Europas als politische Wesen das, was man bei Individuen moral insanity heißt. Nichts illustriert dies deutlicher, als die jüngste Neigung der Völkerrechtsgelehrten, den Krieg als Rechtsbruch schlechthin zu definieren, weshalb alle Friedensbindungen, so lange er währe, ipso facto als aufgehoben zu denken wären. Anders dürfte der moderne Ausrottungskrieg, der nun einmal Tatsache ist, allerdings nicht zu rechtfertigen sein … Zweitens hat der Weltkrieg mit seinen Folgen erwiesen, dass das Können den Menschen nicht mächtiger, sondern ohnmächtiger gemacht hat, als er’s früher war. Noch nie, seit Menschengedenken, war der Gegensatz zwischen der Größe der Ereignisse und der Kleinheit der Menschen, die sie zu lenken suchten, auch nur annähernd so groß. Wohl waren die materiellen Mächte, welche in Wahrheit den Weltkrieg führten, von den Sprengstoffen bis zu den Massenaufgeboten und den erdballumspannenden Interesseverknüpfungen, von Menschen in die Welt gesetzt. Aber einmal erschaffen, erwiesen sie sich dem Schöpfer als überlegener noch, als gleiches von den Geistern des Goethe’schen Zauberlehrlings galt. Der Mensch war reiner Sklave seiner Sachen geworden. Deren Zusammenhang ballte sich zu so ungeheuerlicher Macht zusammen, dass man der Wiederauferstehung des antiken Schicksals beizuwohnen glaubte, jenes schlechthin irrationalen, übermächtigen Schicksals, welchem sich Götter wie Menschen gleichmäßig beugen mussten.

Der Fortschritt des Könnens hatte es also zunächst dahin gebracht, dass das Leblose über das Leben schier unbeschränkte Macht gewann; wenn auf Grund einer Rechnung Millionen sinnlos sterben können, so bedeutet dies, dass der Geist von den Zahlen beherrscht wird und nicht umgekehrt. — Drittens aber beweisen die geistigen Hintergründe des gleichen Weltkriegs, dass überall ein offenbarer Gegensatz zwischen innerem Wollen und äußerem Tun besteht. Dieser Krieg sollte den Krieg als solchen beenden, eine bessere Welt begründen, den Völkern Freiheit bringen — und was geschah? Was geschieht weiter? Was wird aller Voraussicht nach noch jahrzehntelang unabwendbar weitergeschehen? Das genaue Gegenteil. Das Können an sich ist offenbar völlig ohnmächtig; es folgt mechanischen, ungeistigen Gesetzen, welche den tragisch schuldigen Menschen zu dem zwingen, was er am wenigsten will. So liegt es freilich nahe, dem modernen Können als solchen den Krieg zu erklären, und sich aufs Urtümliche, das man sich irgendwie auch unschuldig denkt, zurückzuziehen.

1 Die Bedeutung Russlands in diesem Zusammenhang beleuchtet am besten Hermann Hesses kleine Schrift Blick ins Chaos, Bern 1920, Verlag Seldwyla.
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Erster Zyklus:I. Seins- und Könnenskultur
© 1998- Schule des Rades
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