Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Erster Zyklus:II. Indische und chinesische Weisheit

Dharmagedanke

Aber wie ist die Vertiefung, die Verwesentlichung, auf die es ankommt, zu erzielen? Auch hier hat uns Indien vorausgedacht. Seine Schöpfung des Dharmabegriffs halte ich für eine der wichtigsten ethischen Ausdruckstaten der Weltgeschichte. Der (an sich wegen seiner Farbigkeit undefinierbare) Dharmabegriff, der alle nur erdenklichen Beziehungen zwischen Norm und individuellem Gesetz, zwischen Verpflichtetheit sich selbst und anderen gegenüber, zwischen religiöser und sozialer Gebundenheit und persönlicher Selbstbestimmung in einen Sinneszusammenhang hineinbezieht, ist, kurz gesagt, der begriffliche Ausdruck der praktischen Erkenntnis, dass jedem nur sein Weg gangbar ist. Jeder abstrakte Gedanke setzt, so lautet die Dharmalehre dem Sinne nach, zu seinem Verständnis, jedes Programm zu seiner Verwirklichung, jeder Ehrgeiz zu seiner möglichen Befriedigung einen entsprechenden Zustand voraus. Man muss zu dem, was man sich vornimmt, reif sein — was immer dieses sei; man hat letztlich ein Recht nur zu einem der Wirklichkeit korrespondierenden Ideal. —

Seinen äußeren Rahmen fand diese Erkenntnis zunächst im Kastensystem, das in Indien noch heute, trotz der wissenschaftlich unhaltbaren Voraussetzungen, denen es entspringt, trotz seines mechanisch-künstlichen Charakters, die Mehrzahl deshalb befriedigt, weil der Glaube eines möglichen Fortschritts von Leben zu Leben, der sich in der Hineingeburt in immer höhere Kasten manifestierte, den ihm sonst innewohnenden Ungerechtigkeitsgehalt annulliert. Gleichsinnig rief auch unsere mittelalterliche Kastenordnung, welche gleicher metaphysischer Ahnung ihren Ursprung dankt, so lange keinen Klassenhass wach, als die Weltanschauung, nach welcher jeder ein notwendiges Glied im übernatürlichen Zusammenhang darstellte und vor Gott alle gleich seien, unerschüttert da stand. Dass die Tage mechanischer Kastenordnung jetzt überall vorüber sind, versteht sich bei einer allgemeinen Verstandesentwicklung, dank der das Ich persönlich ergriffen haben muss, was zur lebendigen Macht werden soll, von selbst, und dies bedeutet nicht allein angesichts der empirischen Nachteile und Widersinnigkeiten des Kastenglaubens, sondern im absoluten Sinn einen Vorzug. Immer mehr löst sich der frühere Zusammenhang zwischen Materie und Geist. Eine neue Schichtung entsteht, so langsam dies geschähe, auf Grund welcher des Einzelnen persönliche Qualität allein entscheidet. Diese Wandlung führt aber keiner Aufhebung des Dharmagedankens zu, sondern dessen Vertiefung; unvollkommene Sinnverkörperung macht besserer Platz.

Nietzsche hat solche mit seiner Forderung vorbereitet, dass wieder Seinswerte, organisch abgestuft, bestimmen sollen, die Qualität also anstatt der heute herrschenden Quantität; die erste futuristische Skizze der aristokratischen Zukunftsordnung, wie jener sie forderte, stellt die des Bolschewismus dar, welcher Umstand besonders bedeutsam ist deshalb, weil dessen Führer persönlich an Zahl und Masse glauben und Sozialistische Ideale verwirklichen wollen. Es ist eben nur Qualitätsherrschaft möglich, wenn die Menschheit fortschreiten will. Qualität ist aber wesentlich Seins- nicht Könnensausdruck, und als Sein kann man nur geboren werden, nicht gemacht. Da wären wir denn beim alten Dharmagedanken wieder angelangt, demgemäß man zu dem, was man tun darf, geboren sein muss. Hier nun aber führt — dies wäre der dritte zu betrachtende Punkt von des Ostens Vorbildlichkeit — das indische Denken selbst über die Beschränkungen des Geburtsgedankens hinaus: es gibt nicht nur physische, sondern auch geistige Geburt; sie ist das Wesentliche; die physische stellt nur das Mittel zu dieser dar, und das einzig mögliche für die allein, die nicht die Kraft haben, ohne Durchgang durch den Tod zur Wiedergeburt zu gelangen. Grundsätzlich ist es möglich, im Laufe eines Lebens als Sein weiterzukommen, als man war. Über die besonderen Methoden dazu, welche Indien angibt, deren Äquivalente auch das Christentum kennt, und welche, soweit sie bewährt sind, in der Schule der Weisheit ihre individuell bestimmte Anwendung finden sollen, will ich hier nichts weiter sagen1.

Hier sei nur das Wesentliche noch einmal betont, dass es sich beim Weiterkommen grundsätzlich um Zustandsänderung, um Seinssteigerung handelt, nicht um Mehr- und Besserwissen. Deshalb darf die indische Lehre, dass Erkenntnis Erlösung sei, keinesfalls auf westlich-wissenschaftlich gedeutet werden. Richtig verstanden, ist sie jedoch durchaus wahr. Jede neue Erkenntnis im Sinn lebendigen Verständnisses — nur solche kommt für den Inder in Betracht — setzt einen neuen höheren Zustand voraus; das Sein ist die schlechthin letzte Instanz. Unter diesen Umständen erscheint — dies ist eine weitere Folge der indischen Grunderkenntnis — jeder Gleichheitsglaube grundsätzlich unsinnig. Die Menschen dürfen genau nur insoweit vernünftigerweise gleiche Rechte haben, als tatsächlich Gleichheit besteht, dies aber gilt einzig auf den Unterbau des eigentlich persönlichen Lebens hin. Sobald der Fragenkomplex der täglichen Notdurft und Nahrung, der elementaren politischen Betätigung und der Gelegenheit zur Höherbildung überschritten wird, steht man so großen Qualitäts- und Niveauunterschieden gegenüber, dass, falls die Erscheinung durch den Sinn bestimmt würde, in jeder Gemeinschaft, welche ein Organismus zu sein beanspruchte, kein bloßes Aggregat, mit jeder Generation ein Äquivalent des alten Kastensystems neu erstehen müsste, denn nur so könnte dauernd Qualität bestimmen. Wie bald sich der politische Organismus Europas dieser Erkenntnis gemäß erneuern wird, ist schwer zu sagen; dass er es tun wird, darüber besteht kein Zweifel. Nietzsche erhoffte, zum Zweck der Begründung der von ihm erträumten neuen Aristokratie, eine Ära sozialistischer Konvulsionen, und die durchleben wir jetzt … Doch dies nur nebenbei.

Bleiben wir beim grundsätzlich Wahren, welches die Weisheit des Ostens enthält, und beleuchten wir von ihm aus unseren eigenen Weg. Unsere letzte Erkenntnis lässt sich auch so fassen: Jeder hat ein Recht nur auf das, wozu er innerlich reif ist; die gleichen Ziele können nur Gleiche verfolgen. Da die Schule der Weisheit ihren ideellen Ort im Reich des reinen Sinnes hat, unabhängig von aller Sondergestalt, so muss der Dharmagedanke in ihrem Erziehungswerk in seiner schärfsten Ausprägung zur Geltung kommen; denn nur so kann sie den Weg zu einem höheren Zustand weisen, als solcher je früher die Geschichte bestimmt hat. Unbarmherzig, ohne jede Rücksicht auf Selbstliebe und Eitelkeit werden alle Ansprüche am Niveau und Wert des jeweiligen Menschen abgewogen werden. Jeder der Schüler wird sich zunächst seinen wahren Zustand rückhaltlos eingestehen müssen, mit allen Folgen, die sich für die mögliche Höherbildung daraus ergeben. Und da werden sie unüberbrückbare Unterschiede untereinander gelten lassen müssen. Ebensowenig wie Ausbildung eines Idioten zum Genie, des Unmusikalischen zum Musiker gelingt, ebenso wenig ist jeder zum religiös oder moralisch Höchsten reif. Auch hier handelt es sich um Anlagen, welche entweder vorhanden sind oder fehlen, nur mit dem Unterschied, dass lebendige Sehnsucht, wo genügend stark, das Nichtvorhandene schafft, was mit dem Satz Pascals zusammenhängt:

Tu ne me chercherais pas, si tu ne m’avais déjà trouvé.

Die Sehnsucht nach Besserem erwacht nun ihrerseits nur am Eingeständnis des wahren Zustands; nur wer den Mut zu diesem hat und zugleich die Kraft der Sehnsucht, nur der kann weiter kommen, als er sich vorfand. Der Gradmesser eines aufsteigenden Dharmas ist insofern die vorhandene Energie. Diese Bestimmungen schränken nun die Zahl derer, die von der Schule der Weisheit eine Seinssteigerung bis zur hier vertretenen Höhe mit Recht erwarten dürfen, auf einen engen Kreis ein. Er muss besonders eng erscheinen gerade deshalb, weil für die Aufnahme der Schüler keinerlei äußere Schranke besteht.

Die überwältigende Mehrheit aller Menschen ist leider von erbärmlichem Kaliber. Je tiefer man sie studiert, desto mehr erweisen sich Feigheit, Missgunst, Neid, Trägheit, Stumpfheit, persönliche Kleinlichkeit, Unfreiheit und Ungenerosität als typische Eigenschaften, so wenig dies im übrigen in ihrem öffentlich-sozialen Gebaren zutage treten mag. Grundsätzlich liegen die Dinge noch heute kaum besser als zu den Tagen Gomorrhas. Ich wüßte kaum eine groteskere Behauptung als die Rousseaus, dass der Mensch von Natur aus gut sei. Der Mensch erweist sich in der Regel, wenn nicht als gut, so doch als anständig genau nur insoweit, als gute Vorurteile ihn innerlich und heilsame Schranken äußerlich binden. Dieser, weist am schlagendsten das Beispiel der Parvenus im weitesten Verstand: nur ganz wenige vertragen eine günstigere Lebensstellung als die, in welche sie hereingeboren wurden. Nun lebt in jedem freilich der Keim zu Besserem, und die typische Erfahrung, dass Verbrecher sich leichter als Gerechte zu Heiligen entwickeln, beweist, dass es eben das Sicheingestehen der Schlechtigkeit ist, welches jenen zur Entfaltung bringt. Immerhin können nur die wenigen weit kommen, in denen entsprechende Sehnsucht lebt, und hieraus ergibt sich eine Hierarchie der Möglichkeiten (vgl. S. 103), welche nicht minder streng, vielleicht sogar noch strenger ist als die der indischen Kasten. Mit diesem Tatbestand wird sich der Weisheitsschüler als erstem grundsätzlich abfinden müssen. Zuerst muss er so weit kommen, dass er das innerliche Opfer gern bringt, ohne Ressentiment. Bevor er diese erste Stufe nicht erstiegen hat, kann vom Ersteigen höherer keine Rede sein.

Die Gesinnung, welche dieses innerliche Opfer ermöglicht, ist das moderne Äquivalent der christlichen Demut. Aber das Opfer wird bald reich belohnt. Bald erntet der, der es im rechten Geiste brachte, den Segen der verstandenen Lehre Krishnas aus der Bhagavad Gita:

Lieber sein eigenes, noch so niedriges Dharma erfüllen als das noch so erlauchte eines andern.

Mit der Lebenslüge, der Feigheit vor sich selbst, der Illusion, der Missgunst schwindet nämlich zugleich das Haupthemmnis inneren Fortschritts. Auf einmal befindet der Mensch sich frei. Und da entdeckt er, dass er von innen heraus gar kein konkretes Ideal erstreben kann, welches weit über seine Möglichkeiten hinaus liegt, dass Neid und Feigheit allein dazu verführen. Wenn er sich selbst richtig erkannt hat, dann ist der Mensch unbedingt auch mit der Stufe zufrieden, welche im Höchstfall zu ersteigen in ihm liegt. Hiermit zerschmilzt denn die ganze scheinbare Härte der hierarchischen Ordnung. Damit löst sich ihre scheinbare Starrheit zu dem auf, was die Religion als Gnadenordnung im Gegensatz zu der des Verdienstes kennzeichnet. Verbrecher haben sich wieder und wieder zu Heiligen verwandelt; das Christentum rühmt kleinen Leuten den Vorrang im Reich der Gnade ein: dies bedeutet nichts anderes, als dass durch das volle Aufsichnehmen des eigenen Dharmas Kräfte frei werden, die den Prozess inneren Wachstums bis zum Wunder beschleunigen. Wieder ist es eine indische Legende, die den Erkenntnisgehalt des Tatbestandes aufs schönste versinnbildlicht. Ich gebe sie so wieder, wie sie in meinem Gedächtnis weiterlebt — vielleicht hat mein Geist das vor langer Zeit am Ganges Vernommene im Geheimen umgedichtet.

Gott Indra wanderte durch den Wald. Dort begegnete er einem Büßer, der vor Länge der Kasteiung und Meditation schier selbst zum Baumstumpf geworden war. Dieser fragte ihn klagend: wie lange muss ich noch üben, um frei zu werden? — Noch zehn Jahre, erwiderte der Gott — Ganze zehn Jahre? seufzte jener auf. Wie er nun also geklagt hatte, da fuhr er zur Hölle hinab. — — Weiter wandernd begegnete Gott Indra einem Büßer geringer Geistigkeit, der sich das Heil dadurch zu erringen hoffte, dass er unaufhörlich um einen Baum herumtanzte. Des Gottes ansichtig werdend, fragte dieser nun: wie lange muss ich wohl noch üben, bis dass ich ins Nirvana eingehe? — Nun, bei dir dürften noch hunderttausend Jahre draufgehen, lächelte der Himmlische. — Nur hunderttausend Jahre?! jauchzte der Büßer auf. — Wie ihm nur aber dieser Freudenruf entwichen war, da fuhr er erlöst zum Himmel auf.
1 Hier verweise ich besonders auf das Buch meines Mitarbeiters Erwin Rousselle Mysterium der Wandlung, Darmstadt 1922; alles nähere die indische Yoga betreffend auf mein Reisetagebuch; ferner auf Annie Besants Einführung in den Yoga, Hannover, Otto Schwartz, Hartmannstraße.
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Erster Zyklus:II. Indische und chinesische Weisheit
© 1998- Schule des Rades
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