Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Erster Zyklus:III. Antikes und modernes Weisentum

Eros der Erkenntnis

Ich sagte: Der metaphysische Moment wird durch das jeweilige Verhältnis von Verstehensorganen, objektiviertem Sinn und vorhandener Sehnsucht definiert. Aus dem Hinzutreten des letzteren zu den ersten Faktoren ergibt sich für gerade heute die Wiedergeburt der Aufgabe des Sokrates. Nur ist diese heute zu lösen. Heute vermag der Geist von sich aus das Leben neu aufzubauen. Heute ist der Logos der Erscheinung so tief schon eingebildet, dass vom Menschen her bestimmt werden kann, was früher nur durch Fügung geschah. Wir kennen die Grenzen der Vernunft, verstehen den Sinn unseres Strebens, beherrschen die Natur. Außen- und Innenwelt übersehen wir auf einmal. Da wir wissenschaftlich feststellen können, was wir wirklich wollen, so brauchen wir keiner Selbsttäuschung anheimzufallen; wir sind von aller Moira grundsätzlich unabhängig geworden. Jetzt muss diese Möglichkeit zum bewussten Lebensmotiv werden. Das war sie bisher noch nicht. Darauf aber kommt alles an, denn das Bewusstseinszentrum bestimmt den Ausgangspunkt des Menschen. Wohin er den Akzent in sich verlegt, dort ruht es tatsächlich; dementsprechend organisiert sich nachher das ganze Menschenwesen um1. Deshalb bedarf es neben der theoretischen Belehrung, neben der praktischen Ausbildung, oder vielmehr nicht neben sondern über beiden, der Erziehung zur Synthesis von Verstehen und Tat, zu erkenntnisbedingtem Leben. Dies ist eben das Ziel der Schule der Weisheit.

Da diese durch diesen Zyklus allererst eröffnet wird und noch keinerlei Erfahrung hinter sich hat, so will ich über das, was sie erzielen soll, zunächst nicht mehr sagen, als ich im Laufe dieses Zyklus und den die Gründung vorbereitenden grundsätzlichen Betrachtungen gesagt habe.

An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.

Nur noch soviel, zu engerer Verknüpfung der heutigen allgemeinen Betrachtung mit unserem besonderen Ziel. Wer dieser aufmerksam gefolgt ist, der muss wohl zugeben, was ihm nach Kenntnisnahme von Was uns nottut vielleicht noch Zweifel hinterließ, dass ein wesentlicher Fortschritt heute nur aus dem Geist des Logos heraus erfolgen kann. Aber sehr viele behindert im eigentlichen überzeugt werden das alte Vorurteil, dass es sich beim Logos um Verstand und Vernunft im üblichen Sinne handeln muss, welchen Schöpferkraft rechtmäßig abgestritten wird; deshalb könne, so urteilen die Betreffenden, eine Schule der Weisheit das unmöglich leisten, was ein neuer Glaube vermöchte; deshalb könnten lebendige Impulse unmöglich von ihr ausgehen, sie müsse ihrem Wesen nach eine die Tatkraft lähmende Objektivität erzeugen. — Zunächst sei noch einmal das Missverständnis zurückgewiesen, als mache errungene Klarheit unfruchtbar: diese erledigt jeweilig nur bestimmte Probleme, schafft dafür aber neuen und höheren freie Bahn. Dann aber stellt sich die Frage überhaupt nicht, den Eros durch Logos zu ersetzen, denn das ist nicht möglich; das Schöpferische an sich wird immer die Sache des Eros, also jeweilig des Glaubens, der Liebe, der Tatkraft bleiben. Nur kann das Schöpferische eben durch den Logos einen tieferen Sinn erhalten, und da es unter allen Umständen der Sinn ist, von dem die Leistung jenes abhängt, so geht das, was die Schule der Weisheit anstrebt, grundsätzlich und tatsächlich als Ziel jedem Werk des Glaubens und der Liebe vor, denn nur, wenn ein tieferer Logos diese beseelt, können sie Besseres wirken als bisher. Der häufigste Einwurf gegen unsere Ziele wäre durch diese kurze Betrachtung, die im übrigen nur schon Gesagtes zusammenfasst, wohl erledigt. Aber ein anderer, den vielleicht die meisten meinen, wenn sie den ersteren aussprechen, ist ernster zu nehmen: damit der Logos den Eros beseelen kann, muss er doch seinerseits schöpferisch sein — und gerade das sei er nicht. Darauf ist zu antworten, dass der Eros eben auch auf der Ebene des Logos wirksam ist, weshalb es nicht nur tote, sondern auch lebendige und deshalb schöpferische Erkenntnis gibt. Wir nannten Metaphysik Leben in Form des Wissens (vgl. S. 134); der Weise ist der, welcher ganz zur Initiative des Geists geworden ist (vgl. S. 145): bei ihm ist eben der Eros wirksam, welchen Platon als höchsten pries, und deshalb vermag seine Erkenntnis in den Seelen im gleichen Sinn zu zeugen, wie dies sonst nur Glaube und Liebe tun. Seine Erkenntnis sterilisiert nicht, sondern sie befruchtet. Deshalb bedeutet seine Objektivität ein grundsätzlich anderes als die des kalten Verstandesmenschen: sie tötet nicht die jeweilige Subjektivität, sondern sie verleiht dieser einen tieferen Sinneshintergrund. Vielleicht werden Sie mich am besten verstehen, wenn ich an dieser Stelle einiges Persönliche sage.

Der Plan der Schule der Weisheit erwuchs aus der Wirkung meines Reisetagebuchs: dieses wirkte auf viele so belebend, dass daraus vielfältiger Wunsch entsprang, die Belebungsmöglichkeit, die sich in meiner Person verkörpert hat, der Allgemeinheit zugänglich zu machen; natürlich wurde er zuerst von solchen ausgesprochen, die mich persönlich kannten. Wie kann nun ein, äußerlich betrachtet, so grenzenlos objektives Werk, wie mein Reisetagebuch, das nie und nirgends Partei nimmt, beleben? Weil der Eros der Erkenntnis in ihm wirkt und deshalb nicht das Nebeneinander vieler Weltansichten sein Wesentliches ist, sondern die Durchdringung jedes einzelnen durch tieferen Sinn. Der eigentliche Sinn dieses Buchs hat mit der Weltreise an sich nichts zu tun; grundsätzlich gesprochen, hätte ich es, auch ohne Rayküll zu verlassen, schreiben können, wie denn manches schon vorher und das meiste erst lange nachher entstand — sein eigentlicher Sinn ist der, dass ein im tiefsten Selbst verwurzelter Mensch sich gleichsam um die eigene Achse dreht und so aus gleicher Tiefe heraus die verschiedensten Kultursprachen spricht. Die Belebung (vgl. S. 184) alles jeweilig Besonderen aus gleicher Sinnestiefe her ist sonach sein Wesentliches. — Nun, unter diesen Umständen kann es freilich jedem Sonderdasein, das sich an irgendeiner Stelle gespiegelt findet, Belebung bringen. Unter diesen Umständen besteht kein Widerspruch zwischen der universellen Objektivität dieses Werks und der praktischen Aufgabe, welche ich mir jetzt gestellt habe, nicht zu reden von meiner nur allzu subjektiven und in ihrer Eigenart durchsetzerischen Persönlichkeit: es ist der gleiche Logos, der sich in allen Fällen äußert. Es sind oft schlichte Frauen, welche das Wesentliche am klarsten fassen. So sagte eine strenggläubige Katholikin nach einem Vortrag von mir, der, nebenbei bemerkt, kein religiöses Thema behandelte, nur aus dem Gefühl für mein Wesen heraus:

Sie nehmen einem nichts, sondern Sie geben einem etwas hinzu. Und eine andere bemerkte: Ihre Hauptkunst ist, alles Oberflächliche, das Sie als solches bestehen lassen, tief zu machen und im Oberflächlichen tief zu bleiben.

Es handelt sich eben bei der Sinneserfassung, die ich lehre, um schöpferische Erkenntnis, um den λόγος σπεϱματιϰὸς, nicht den Logos des modernen Verstandesmenschen. So wird an der Schule der Weisheit nicht weniger Eros am Werk sein als an irgendeiner religiösen Stätte, nur eben ein Eros anderer Art; es ist an sich kein tieferer Eros, sondern ein tieferem Logos dienstbarer. Der Logos und er allein aber bietet uns die Handhabe am Weltenschicksal: deshalb, noch einmal, geht ihr Ziel dem aller andern Stätten vor. So wird die Schule der Weisheit den Täter beleben können — obwohl sie selbst nicht Tatförderung zum Ziel hat; sie wird jeden Religiösen vertiefen — doch der besondere Glaube in seinen Auswirkungen geht sie nichts an. Sie wird zu Ansichten als solchen niemals Stellung nehmen. Auch sie muss einseitig sein. Das, was als ihre Farblosigkeit schon im voraus beanstandet wird, bedeutet gerade ihr Farbebekennen. Jener tiefere Sinn, auf dessen Erfassung und Verwirklichung es ankommt, liegt nun einmal jenseits aller Sondergestaltung — was aber nicht bedeutet, dass er sich allen entzöge, sondern vielmehr alle von innen her zu beleben fähig ist. So wird jetzt deutlich, inwiefern die Schule der Weisheit zur Synthesis von Verstehen und Tat, zu erkenntnisbedingtem Leben erziehen kann und wird: indem sie alle jeweiligen Tatbestände auf tiefere Sinneszusammenhänge zurückbezieht und von diesen aus neu belebt (vgl. S. 185). Solches kann natürlich nur konkret, von lebendigem Fall zu lebendigem Fall geschehen, weil es sich in jedem recht eigentlich um einen neuen Schöpfungsvorgang handelt. Wer ihr Wesen in abstrakten Lehren auch nur theoretisch sucht, verkennt es völlig, denn ohne den platonischen Eros vermag ihr Logos nichts. Der persönliche Zusammenhang zwischen Lehrer und Schüler wird alles in ihr bedeuten, jede abstrakte Wahrheit jeweilig die Konkretisierung erfahren, deren sie bedarf, um lebendig zu wirken, denn der Mensch versteht nur durch schon Verstandenes hindurch2, weshalb alles Neue jedem, sofern es ihn befruchten soll, in seiner Sprache mitgeteilt werden muss. Die Lehre, welche die Schule der Weisheit vertritt, liegt eben jenseits der empirischen Gestaltung. Deshalb wird der, welcher an ihr lehrt, zur Befolgung und Verwendung alter Begriffe und Normen genau nur so weit ein Recht haben, als er sie jedesmal ad hoc neu erschafft, und zwar aus dem Verstehen heraus. Dieser scheinbar geringfügige Umstand bedeutet alles; er unterscheidet unseren Weg grundsätzlich von allen anderen. Alle Lehren des Altertums, alle Praktiken, ja alle Riten verkörpern tiefen Sinn und sind als solche nur selten veränderungsbedürftig; sie gehören mit zum Weltalphabet. Aber dadurch, dass sie hier aus ihrem Sinn heraus jeweilig neu geboren werden, werden sie zum Ausdruck eines anderen Bedeutungszusammenhangs; der alte Buchstabe offenbart nun tieferen Sinn.

Im gleichen Zusammenhang lehnt die Schule der Weisheit alles Okkulte, alles Mysterienwesen als solches ab, obschon sie vieles von dem zu vertreten haben wird, was bisher dazu gerechnet wurde: auch das, technisch betrachtet, Geheimnisvolle kann im Geist der Klarheit betrieben werden. Das Geheimnis gehört nie zum Wesen einer Sache, sondern allenfalls zum Weg, und das Ideal liegt auf jedem Stadium in restloser Aufklärung, weil so allein fortschreitend tiefere Schöpfungsgründe dem Geiste fassbar werden. Hier wären wir denn wieder zum Grundmotiv dieses Vortrags zurückgelangt, dass Klarheit unser Ziel ist. Ebendeshalb steht die Schule der Weisheit grundsätzlich allen offen. Ebendeshalb steht sie durchaus auf dem Boden der heutigen historischen Gegebenheit. Ebendeshalb vertritt sie genau die Aufgabe, welche dem metaphysischen Moment entspricht. Die gleiche Aufgabe konnten sich — von der Lösungsmöglichkeit ganz abgesehen — die Alten nur in kleinstem Kreise stellen, weil die damals anerkannte Scheidewand zwischen Herren und Sklaven, zwischen Griechen und Barbaren die Stellung von Menschheitsproblemen nicht zuließ. Damit der Geist wirklich Völker ergreifen konnte, mussten die künstlichen Schranken erst niedergerissen sein. Dies geschah zum ersten Male durch das Christentum, geschieht jetzt, in der nächst bedeutsamen Wende, die mit der französischen Revolution begann, durch die Weltrevolution. Deshalb ist die Aufgabe der Weisheit — wieder von der Lösung ganz abgesehen — heute viel größer, als sie es in der Antike sein konnte. Heute ist Weisheit kein Ziel enger Zirkel, sondern der ganzen Menschheit. Deshalb, noch einmal, ist das Symbol unserer Schule nicht der geschlossene Kreis, sondern der offene Winkel. Nun möge sie wachsen und gedeihen. Wächst sie im rechten Geiste fort, so wird sie ohne Zweifel, trotz ihrer äußeren Geringfügigkeit, zur Keimzelle des Neuaufbaus inmitten des allgemeinen Abbaus werden. Stellt sie sich, dem Ergebnis des ersten Vortrags entsprechend, ganz auf Sein ein, trachtet sie konsequent, im Sinn des zweiten, das Äußere von innen her zu formen, geht sie im Sinn des heutigen auf höchstmögliche Klarheit aus, indem sie sich bei keinem Dunklen bescheidet, nichts Schwüles duldet, keinen Kompromiss mit chaotischen Zeitströmungen eingeht, so wird die Schule der Weisheit, des bin ich gewiss, ihr Ziel erreichen. Sie wird erweisen, dass Johannes wahr sprach mit seinem Eingangswort:

Im Anfang war der Logos.

1 Vgl. Erscheinungswelt und Geistesmacht in Philosophie als Kunst.
2 Diesen Gedanken habe ich genau in der Vorrede zur dritten Auflage meiner Unsterblichkeit ausgeführt.
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Erster Zyklus:III. Antikes und modernes Weisentum
© 1998- Schule des Rades
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