Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Zweiter Zyklus:III. Weltüberlegenheit

Der königliche Mensch

Doch ehe wir weiter fortschreiten, müssen wir noch eine kleine Umschau halten. Die Staatstheoretiker unter den großen Denkern der Geschichte haben nämlich den Akzent meist umgekehrt oder doch anders als wir gelegt. So meinte Plato, die Philosophen als solche sollten herrschen. Wie weit der große Athener sich als Ratgeber des Tyrannen Dionys bewährt hat, ist aus der Geschichte nicht deutlich zu ersehen. Aber das Utopische seiner Staatsidee und die Engheit und das Zwangsverlangende des praktischen Gesichtskreises, den seine politischen Schriften offenbaren, legen die Vermutung nahe, dass er als Herrscher schwerlich besser gewirkt hätte, als sonstige Theoretiker und Intellektuelle, wenn sie zur Macht gelangen. Was Eisner und Landauer praktisch geleistet haben, dürfte symbolisch bleiben für alle Philosophokratie. Zum Überfluss ist Bertrand Russell, dem scharfsinnigen Mathematiker und Philosophen, als er in Sowjet-Russland weilte, die frappante Ähnlichkeit des bolschewistischen mit dem platonischen Staate aufgefallen. Deshalb irrte Plato wohl, wenn er sich selbst als Herrscher im Auge hatte.

Gewiss wären Philosophen, sofern sie der Anlage nach Staatsmänner sind, die berufensten aller Regenten, als Theoretiker und Intellektuelle sind sie es nicht, und wenn sie in jedem Falle richtig angeben könnten, wie man es machen soll; alle Philosophen des Westens seit der Frühantike, mit der einzigen Ausnahme vielleicht des gewaltigen Leibniz, waren aber Theoretiker, deren Fähigkeit der Sinnesverwirklichung über das Reich der Abstraktionen nicht hinausreichte. — Die Religionsstifter, im Gegensatz zu den Philosophen, waren nun häufig echte Herrschernaturen, denn sie gingen unmittelbar vom Sinn aus, keinem Zwischenreich, weshalb sie der Eigenart der Erscheinung unwillkürlich Rechnung trugen. Jesus war sehr praktisch, trotz des Radikalismus seiner Lehre, und so wenig er persönlich ans Weltliche dachte; nur deshalb hat jene im grandiosen Organismus der katholischen Kirche, der nichts ausschließt, wenn nicht einen unbedingt passenden Körper, so doch an sichtbarster Stelle Raum finden können. Mohammed, gleich Moses, war ein durchtriebener Politiker und Buddha gar eine Herrschernatur allerersten Ranges; ich kenne nichts Königlicheres, als den Geist, aus dem dieser seine milde Lehre formte. Aber den Religionsstiftern war es nie um diese Welt als solche zu tun. Deshalb gilt von ihrem Typus nicht, was vielleicht von den meisten einzelnen Persönlichkeiten gegolten hat. Auch er ist in bezug auf diese Welt exzentrisch eingestellt und bezeichnet daher nicht, was immer Ekklesiastiker geschrieben haben, den Typus des vollendet überlegenen Menschen. —

Bei den Ordensgründern braucht man auf das Politische ihres Wesens kaum überhaupt hinzuweisen. Was hätte der heilige Benedikt erreicht, wenn er die Menschennatur nicht von überlegener Warte gemeistert hätte? Alle großen Ordensgründer waren Staatsmänner, mit der einzigen Ausnahme vielleicht des Heiligen Franz, dessen Orden auch nicht dank ihm, sondern durch andere, und vielfach im Gegensatz zu seinem eigenen Geiste, das wurde, als was er sich später darstellte. Ignatius von Loyola stehe ich persönlich nicht an, als den größten aller Politiker zu feiern, denn was er erreicht hat, steht völlig einzig da: sein Orden hat sich nach seinem Tode beinahe ununterbrochen im Sinn der geistigen Führung und der Qualität der leitenden Persönlichkeiten auf gleicher Höhe erhalten, wo sonst schon der erste Nachfolger die dauernde Niveausenkung einleitet. Dies ist der Triumph einer psychologischen Genialität, welche Ignatius mit vielleicht keinem anderen Organisator der Geschichte teilt. Aber dieser war andererseits alles eher als ein Weiser, denn nicht tiefste persönliche Einsicht und letzte persönliche Verantwortung lenkten sein Tun, sondern Hingabe an ein blind übernommenes Dogma und an fremden Willen. Metaphysische Unaufrichtigkeit, welche persönliche Aufrichtigkeit freilich nicht ausschließt, ist die empirische Voraussetzung des Jesuiten. In geringerem Grade gilt Gleiches aber von jedem Glaubenstypus. Aus diesem grundsätzlichen Grunde können überhaupt Priester keinesfalls als Idealtypen gelten, so oft sie geherrscht haben, welche Erwägung die Theokratie als beste Herrschaftsform erledigt — diese artet unabwendbar, man fingiere an Stellvertretung, was man will, sintemalen Gott doch nicht persönlich regiert, zur Priesterherrschaft aus: Priester können, wo sie herrschen, nicht umhin, besonders kasuistisch, machiavellistisch (im üblen Sinn) und betrügerisch vorzugehen, weil sie starre Dogmen vertreten und dennoch weltklug vorgehen müssen.

So führt auch dieser Umweg zu unserer letzten Feststellung zurück. Diese aber deckt sich mit der Überzeugung aller Völker und Zeiten. Wie immer die jeweiligen Machtverhältnisse beschaffen waren — weder Religionsstifter noch Priester, noch Gelehrte, noch Künstler, noch auch Philosophen hat das Menschengeschlecht je als Idealtypen anerkannt. Als Ideal hat ihm zu aller Zeit der Staatsmännisch gesinnte Weise gegolten, mit dem Nachdruck auf dem Staatsmanntum, dieses aber hat es zu aller Zeit im Bilde des königlichen Menschen geschaut. Solches gilt von schlechthin allen Menschen. Es gilt vom Literatenvolk der Chinesen, als welches sein Ideal in den mythischen Kaisern der Vorzeit verkörpert sieht, es gilt vom Philosophen- und Priestervolk der Inder, das nicht in Yajnavalkya und Vyasa, sondern in Krishna, Manu und König Janaka seine höchsten Vorbilder verehrt. Gleichsinnig stellen sich alle Völker ohne Ausnahme ihre allwissenden Götter nicht als Weise oder Heilige, sondern als Könige vor. Warum nun wird der König als Typus des überlegensten und freiesten Menschen einstimmig anerkannt? — Mit der Beantwortung dieser Frage sind wir zum Endergebnis aller bisherigen Gedankengänge gelangt. Nicht weil er die äußere Macht hat. So sehr er dieser bedarf und so wenig man deren Prestige unterschätzen darf, bei ihm wird vorausgesetzt, dass sie zu ihm gehört, und in der Tat: dem innerlich Subalternen nützt keine Machtstellung; wer nicht zu solcher geboren ist, verträgt sie nicht. Nein, der königliche Mensch gilt als höchster Mensch, weil er der Ganzheit des Lebens innerlich überlegen ist. Weil er natürlicherweise über dem steht, was alle anderen bindet. Weil er den Höchstausdruck staatsmännischer Überlegenheit darstellt.

Es ist eine Niveaufrage. Dem König kann seinem eigensten Begriffe nach keine Gestaltung die letzte Instanz bedeuten. Er darf nicht einseitig sein, wie Doktrinäre, reine Praktiker und Fachleute, nicht subaltern, wie Arbeitstiere, Routiniers und gelehrte Rechner. Er darf aber auch nicht bloßer Taktiker sein, denn er hat dauernde Ziele vor Augen, nicht Ideolog, denn er hat es unmittelbar mit der Wirklichkeit zu tun, nicht tatsachengläubiger Realist, denn dann fehlte seiner Überlegenheit der Sinn. Um diesem das Primat zu wahren, kann er kein Faktum als letzte Instanz gelten lassen, muss er in jedem Falle davon ausgehen, was solches im Zusammenhang bedeutet. So muss er schon jenseits von Gut und Böse stehen, denn tagtäglich hat er vermittels des Bösen Gutes zu wirken. Nun, diese herrscherische Einstellung allein ist die der vollkommenen Überlegenheit. Deshalb ist der Herrscher-Weise als Typus in der Tat der höchste Mensch.

Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Zweiter Zyklus:III. Weltüberlegenheit
© 1998- Schule des Rades
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