Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Zweiter Zyklus:III. Weltüberlegenheit

Eigensinn der Gestaltung

Denken wir von hier aus nun daran zurück, dass nicht der Philosoph, nicht der Künstler, sondern der Staatsmann das Prototyp des Sinnesverwirklichers ist, weil sich in dessen Tätigkeit zugleich das Primat des Sinns und die Kontingenz der Ausdrucksmittel am reinsten darstellen. Je näher der Oberfläche ein Sinn, desto eindeutiger ist er, an desto bestimmtere Gestaltungen gebunden. Deshalb konnte vormals der bildende Künstler als Prototyp des Geistesverwirklichers gelten, er, der, je bedeutender er ist, desto mehr, in der Regel, nur auf eine Weise kann. Bei der Vertieftheit nun, die ein Bejahen und Lenken aller Erscheinung ermöglichte, kann von einer apriorischen Festlegung der Ausdrucksmittel nicht mehr die Rede sein; hier gilt bei aller Betätigung das, was an der Oberfläche nur taktische Realpolitik charakterisiert. Warum? Weil in diesem Falle alles auf die letzte Bedeutung ankommt. Wohl hat jede Gestaltung als solche, gemäß dem Korrelationsverhältnis von Sinn und Ausdruck, wie die Sprache in ihrer lexicographischen Bedeutung und nächst dieser die formale Wissenschaft am besten illustriert, einen ihr allein gemäßen unmittelbaren Sinn. Aber dieser kann seinerseits als Sinnbild von tieferen verstanden werden, und wo solcher Tiefere bestimmt, dort ist der Eigensinn der Gestaltung nicht mehr letzte Instanz: dort ist diese grundsätzlich vieldeutig, wie wiederum die Sprache als solche am besten illustriert, denn das eigentlich Gemeinte liegt in einer anderen Region, welche die Sondersinne ihrerseits nur ausdrücken. Jedem Vertieften ist also alle Gestaltung im gleichen Sinne vieldeutig, wie dem Staatsmann, der sein ideales Ziel vermittels der gerade vorhandenen beliebigen Kräfte verwirklicht. Aus diesem Grunde muss es praktisch wohl das erste Kennzeichen des Vertieften sein, dass er Gestaltungen als solche nicht mehr ernst nimmt. Dies erwies sich schon früher in jedem Fall, wo letzte Tiefe unmittelbar bestimmte. Die indischen Weisen waren in bezug auf Dogmen und Systeme Relativisten. Gleichsinnig verleugnete Jesus jegliche Gesetzesgerechtigkeit als Wert, lehrte Lao Tse:

Der große Sinn ward verlassen, da gab es Sittlichkeit und Pflicht.

Wer den Sinn des Moralischen erfasst hat, für den kann es in der Tat keine unbedingten Gebote und Regeln mehr geben. Das moralische Gesetz an sich ist gar nichts Tiefes (vgl. S. 234); bei ihm handelt es sich um nicht mehr als eine Naturgesetzlichkeit, und zwar eine dem physikalischen Satz von der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung nahe verwandte1, welche die indische Karmalehre (die den Indern eben auch nur als Naturlehre gilt) bisher am besten, wenn auch ihrerseits noch unbefriedigend fasst. Darum kann die moralische Erscheinung eine durchaus verschiedene Bedeutung haben, je nach den Umständen. Das Moralische versteht sich in dem Verstand von selbst, dass es das Minimum dessen darstellt, was dem Menschen, sofern er über dem Tiere stehen soll, wirklich zu sein hat. Gerade deshalb ist aber jeder einigermaßen Tiefe übermoralisch, steht der ganz Tiefe selbstverständlich jenseits von Gut und Böse. Auch das Böse ist eine notwendige Kraft in der Weltökonomie.

Zu allen kritischen Zeiten ist das Böse und nicht das Gute Träger des Prinzips der Erneuerung, wie denn das Kainsmal von der Esoterik als Gnadenzeichen gedeutet wird, wie Luzifer die erste Erleuchtung brachte, wie die teuflischen Gestalten der Bolschewisten trotz aller Tatsachen in vorderster Reihe für eine bessere Zukunft stehen. Das Böse wirkt Unheil nur dort und nur so lange, als der Mensch ihm dienstbar ist, anstatt es zu beherrschen. Deshalb ziemt dem Subalternen freilich, es zu meiden. Wenn jedoch Nietzsche den Menschen zurief, wieder böse zu werden, so wusste er wohl, was er tat: höheres Menschentum beginnt erst oberhalb des moralischen Gegensatzes. Es kann erst dort beginnen, weil der Sinn einer Handlung niemals nach starren Regeln zu verstehen ist: je nach dem Zusammenhang kann Gleiches Gutes und Böses bedeuten.

Und von hieraus — ich greife noch einmal auf das Sondergebiet der Politik zurück, um den letzten Betrachtungen mehr Farbe zu verleihen — von hier aus begreifen wir vollends die Verachtung, die jeder große Staatsmann dem politischen Ideologen zollt: für ihn gibt es selbstverständlich nur konkrete, keine abstrakten Probleme, denn der gleiche Sinn verlangt in jeder Situation einen anderen Ausdruck, um sich als wirksam zu erweisen. Was sich in diesem Zusammenhang zu widersprechen scheint, ist in Wahrheit identisch. Deshalb äußert sich echte Überlegenheit praktisch allezeit, wie theoretisch in Relativismus bezüglich der Gestaltung, in extremem Rechnung tragen der jeweiligen Lage. Kein Großer war jemals Drauf- und Durchgänger um jeden Preis; der Große geht nur dann drauf und durch, wenn diese Taktik gerade zweckmäßig ist. Da er sieht, bis zu welchem Grade und in welcher Form der Sinn, den er meint, jeweilig verwirklicht werden kann, so sagt und tut er nur, was frommt, was der Verwirklichung näher bringt. Insofern bedeuten Bismarcks Kurzsichtigkeit — er unternahm nie mehr, als sich gerade erreichen ließ — und Buddhas Pragmatismus — er sprach nur aus, was die Mehrheit fassen konnte — Gleiches. Aus den gleichen Gesichtspunkten gingen Sokrates und Christus in den Tod: sie wussten, dass das Martyrium ihre Ziele förderte. Gewiss waren sie keine politischen Opportunisten im üblichen Wortverstand, aber reiner Idealismus als Bekenntnisdrang und praktischer Blick für die Lage deckten sich in ihrem wie in jedem großen Fall. Deshalb lieferte sich Christus erst aus, als er die Stunde dazu gekommen fühlte: nur beim Subalternen schließen Idealismus und Machiavellismus sich aus, beim überlegenen bedingen sie einander vielmehr. Dieser verträgt einen Grad der Bewusstheit, der geringere um ihre innere Sicherheit brächte.

Oft wurde und wird die Frage aufgeworfen, warum der doch allmächtige Gott so viel Übles und Unglück geschehen lässt. Nun, dies hat wohl die gleiche Ursache, die es Jesus unmöglich machte, dem widerstrebenden Schächer zu helfen, welche Konfuzius davon abhielt, seine Aussprüche, falls sie nicht gleich verstanden wurden, zu wiederholen (vgl. S. 235), die jedem Tiefen verbietet, irgend jemand überreden oder zwingen zu wollen. Der Tiefe weiß, dass alles Verstehen, als ein Schöpferisches, von innen her kommt, demzufolge ein schlechterdings Freiwilliges ist und nie erzwungen werden kann. So künden die nördlichen Buddhisten vom strengen Weg der Bodhisattvas, der zu bestimmten Wendezeiten darin besteht, die Zertrümmerung der Welt bewusst und absichtlich zu betreiben. Ein Gläubiger dieser Lehre möchte meinen, gerade heute seien solche am Werk, denn seit Menschengedenken hat sich jede vernünftige, der Katastrophe vorbeugende Entscheidung im letzten Augenblicke nicht so regelmäßig durch irgendeinen Zufall vereitelt erwiesen. Die Bodhisattvas lassen Europa sich zertrümmern, dieweil sie wissen, dass die Einsicht zu gering ist, als dass eine vernünftige Lösung dem wahren Zustande entsprechen könnte. Nur persönliche Erfahrung — sowohl im Sinn der Erkenntnis des wahren inneren Zustands, als dem der verderblichen Folgen, welche dieser zeitigt — macht von Hause aus Unweise leider schließlich weise. Deshalb bedeutet ein Mitansehen können des Leids, nicht allein beim Bodhisattva, sondern schon beim mächtigen Menschen, unter Umständen ein menschenfreundlicheres, als ein Nachgeben gegenüber dem natürlichen Mitgefühl. Deshalb war kein Großer jemals sentimental. Deshalb scheute keiner erforderlichenfalls vor Gewaltanwendung zurück. Die Gebundenheit, Trägheit und Blindheit sind Naturtatsachen, die sich von selbst nicht ändern. Fehlt der Antrieb, der dies von innen her bewirkt, so können nur leidvolle äußere Erfahrungen helfen. Wer andere wesentlich vorwärts bringen will, wird ihnen selten Erfahrung ersparen.

1 Vgl. hierzu meine Betrachtungen in der Bücherschau des 3. Hefts des Wegs zur Vollendung.
2 Vgl. den 5. Vortrag meiner Prolegomena zur Naturphilosophie.
3 Vgl. besonders Beaudouin Suggestion et Autosuggestion. Neuchâtel 1921.
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Zweiter Zyklus:III. Weltüberlegenheit
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