Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Zweiter Zyklus:III. Weltüberlegenheit

Weltbejahung

Jetzt ist wohl vollkommen deutlich, inwiefern Weltüberlegenheit nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch möglich ist. Sie darzustellen, ist, äußerlich betrachtet, viel weniger schwierig, als die meisten voraussetzen, denn sie erfordert gar keine unmittelbare äußere Macht. Äußerlich der Welt überlegen sein zu wollen, ist ein widersinniger Wunsch: auf ihrer Ebene überwiegt nur Masse die Masse. Aber da der Sinn nicht der Natursphäre angehört und doch das Primäre ist, so beherrscht Bedeutung — ein grundsätzlich Nichtextensives — virtuell den Weltenraum. Als Gott die Welt erschuf, da setzte er auch keine Massen als solche in Bewegung; er wollte wohl nicht einmal, denn Wille ist ein mit physischen Vorgängen eng Verquicktes1 — er stellte sich bloß einen neuen Sinneszusammenhang vor im Rahmen von Raum und Zeit, und dieser realisierte sich alsdann von selbst. Deshalb bedeutet überlegenerwerden grundsätzlich ein fortschreitendes Absehenkönnen von materieller Realisierung, die sich von selbst erledigt. Ein Absehen nicht zwar im Sinn des indischen Weltverneiners, sondern im Gegenteil dessen, dass vollkommene Weltbejahung im Idealfall von einem überweltlichen Standort aus geschieht.

Weltüberlegenheit impliziert, in der Tat, vollkommene Weltbejahung, denn dem, welchem jene eignet, ist die gesamte Schöpfung zu einem Alphabet geworden, das er vom Sinn her meistert, vermittelst dessen er nur das sagt, was ihm selbst beliebt. Wer wollte zu diesem oder jenem Buchstaben vom Sinn her Stellung nehmen? Wer wollte einen verwerfen, welcher, richtig angewandt, die Ausdrucksmöglichkeit verstärkt? Der wahrhaft Tiefe braucht auch keinerlei Oberfläche zu verleugnen, denn von seinem Standpunkt ist alle Erscheinung gleich tief. Er kann auch in keinerlei Verstand mehr einseitig sein, denn er bedeutet von allen Differentialen des Menschenwesens das Integral. Alle Differenzierungen in ihrer festgelegten Einseitigkeit sind Bedingtheiten eines niedrigen Niveaus. Sehr viele der Probleme, über welche Fachgelehrte dickleibige Wälzer schreiben, stellen sich nur deshalb, weil deren Urhebern der Blick für die wesentlichen Zusammenhänge fehlt. Man mag freilich seine Fragen beliebig stellen, man wird auch jedesmal entsprechend richtige Antworten erhalten — nur sind diese überflüssig, sobald sie die Wirklichkeit in schiefer Perspektive zeigen, dies aber geschieht jedesmal, wo eine Nebensache als Hauptsache behandelt wird. Fachgrenzen sind praktisch notwendig; an und für sich bestehen sie aber nicht, ihr ganzer Seinsgrund liegt in der Unmöglichkeit, einen allseitigen Zusammenhang anders als einseitig in bezug auf einen bestimmten Blickpunkt zusammenzufassen. Je höher dieser nun, desto besser deckt sich das geschaute Bild in seinen Proportionen mit den realen Zusammenhängen, desto weniger beschränkte und verzerrte Perspektiven tun sich auf; deshalb ist schon der wahrhaft große Wissenschaftler über das eigentliche Fachmanntum hinaus. Desto mehr muss dies von jedem großen Menschen gelten.

Dass dem nun wirklich so ist, beweist allein schon die Erfahrungstatsache, dass ein Mensch, je höher er innerlich steht, desto Verschiedeneres kann oder könnte, und dass der höchste Menschentypus, der des Herrschers, allem Fachmanntum grundsätzlich und notwendig überlegen ist. Sein Vieles-Können bedeutet aber nicht Vielseitigkeit im dilettantischen Verstand, sondern Vertieftheit: je tiefer ein Mensch, durch desto mehr Anlagen kann er sich willkürlich ausdrücken, denn desto mehr übersieht er selbstverständlich von innen her. Den bisher normalen Menschheits­zustand typisiert am besten die indische Kastenordnung: ihr gemäß kann einer nur entweder Brahmane, oder Krieger, oder Händler, oder Bauer sein. Aber dieses entweder-oder beruht offenbar allein auf innerer Gebundenheit, wie denn der Wissendgewordene eben damit auch nach indischen Begriffen der Kastenbindung entwachsen ist. Wer im Sinn lebendig Wurzel gefasst hat, ist an keinen Ausdruckstypus gebunden, der kann sich daher beliebig typisieren, vorausgesetzt, dass er über die entsprechenden äußeren Anlagen verfügt, je nach der Situation. Dem entstehen die Gestaltungen ad hoc, wie der Amöbe ihre Pseudopodien, der ist ebenso wenig in einer bestimmten innerlich festgelegt, wie der wahrhaft große Geist in irgendeinem möglichen Fach. Die Vertiefung des Menschen bedeutet eben gleichzeitig seine Integrierung. Was an der materiellen Oberfläche differenziert auseinander liegt, das konvergiert im Reich des Sinns. Auf jener wird es immer Fächer und Kasten geben, man dekretiere an Reformen, soviel man mag. Aber sie hören ganz von selbst zu sein auf, wo immer ein Mensch sich innerlich über sie erhebt. Darauf allein kommt es an. Es sollten möglichst viele soweit kommen, dass sie über alle Bindung innerlich hinaus wären, das rein Fachmäßige sollten zuletzt überall Maschinen erledigen. Bis dahin aber müssen sich alle auf den wahrhaft Überlegenen abstimmen. In diesem erlebt das Menschenwesen nicht mehr und nicht weniger als eine Niveauverschiebung. Dies ist das Eine, was nottut, denn Fortschritt gibt es überhaupt nur in diesem Sinn, nach innen zu. Was früher letzte Instanz war, ist es beim Weltüberlegenen nicht mehr.

So wäre der höchste Mensch, den wir vorstellen können, der erdnächste und erdfernste zugleich. Für ihn gäbe es kein Oberflächlicheres und Tieferes, denn alle Erscheinung erschiene ihm gleich tief, keine Höher- und Minderwertigkeit in bezug auf Äußerliches, kein notwendig Auseinanderliegendes, denn alles sähe er, sich gegenseitig bedingend, im Ineinander; jeder Einseitigkeit wäre er physiologisch unfähig geworden. In ihm erfüllte sich persönlich die überall erforderliche Synthesis von Sein und Können, von Wesen und Erscheinung, Sinn und Ausdruck, er wäre vollkommener Sinnversteher und Realpolitiker zugleich, in ihm fiele Zeitliches und Ewiges jeden Augenblick zusammen. Und zwar durch den Kern seiner Persönlichkeit hindurch. Diesen letzten Punkt müssen wir noch näher betrachten. Es bedeutet nämlich den entscheidendsten aller Unterschiede, ob durch das Empirische hindurch das Persönliche oder ein Fremdes spricht. Im letzteren Falle handelt es sich um ein Medium, im ersteren dagegen um einen Meister, und nur dieser verkörpert das Ideal2.

Die allermeisten Menschen, entgegen der üblichen Annahme, sind Medien, denn aus den allerwenigsten spricht, außer in Ausnahmefällen, ihr eigenes Selbst. Medien sind alle Künstler, Medien die meisten sozial Eingestellten, denn ihr Persönliches vertritt zum überwiegenden Teil ein man. Im weiteren Sinne Medien sind die meisten Gelehrten und Intellektuellen, nämlich in bezug auf ihr System oder Programm; Medien alle Menschen schlechthin in bezug auf Zeitgeist und öffentliche Meinung. Was man gewöhnlich Medium heißt, ist nur die seltene Abart dieser häufigsten Gattung, durch deren Organismus sich Kräfte manifestieren, die sich durch ihre bewusstbestimmende Person nicht äußern können und mit dieser außer Zusammenhang stehen. Das Medium ist nun niemals höherer Mensch, gleichviel, was aus ihm spricht; die Botschaft oder das Werk, das es vermittelt, macht seine Person nicht größer, als die Benutzung durch einen großen Menschen das Telefon. Die Bedeutung des Menschen hängt ganz und ausschließlich vom Ausmaß dessen ab, was sich durch den Mittelpunkt der Person hindurch äußert. Medien, hinter denen höhere Mächte standen, mag es zu aller Zeit gegeben haben; der Fortschritt bemisst sich daran, wie weit jene Mächte im bewussten Menschen und durch dessen Persönliches wirksam wurden. Deshalb ist Aufgabe nicht, in anderen Welten zu Hause sein zu können, sondern zwischen diesen und unserer Sphäre einen lückenlosen Zusammenhang herzustellen, das heißt die Medialität zu überwinden. Nicht die ἔϰστασις, nicht das Heraustreten aus der Geistbestimmtheit ist Ziel, sondern die Durchgottung dieser.

1 Das bisher Beste über den Willen, der als solcher nichts Schöpferisches (s. hierzu auch Beaudouin l. c.), sondern vielmehr einen Hemmungsmechanismus darstellt, steht in Ludwig Klages Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, Leipzig 1921, zu lesen.
2 Vgl. hierzu auch den Beitrag Carl Happichs in der von ihm, Graf Hardenberg und mir gemeinsam verfassten Broschüre Die richtige Einstellung zum Okkultismus, Darmstadt 1922.
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Zweiter Zyklus:III. Weltüberlegenheit
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