Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Dritter Zyklus:I. Was wir wollen

Verwirklichung des Möglichen

Die Schule der Weisheit hat es unmittelbar mit der Pflege der Einstellung zu tun, sowie mit dem, was sich aus dieser unmittelbar ergibt. Mit nichts anderem, weil sie das letzte geistig Fassbare an unserem Wesen bedeutet, weil sie über alles Tatsächliche entscheidet, recht eigentlich die Angel der Welt für uns bedeutet. Jetzt fragt es sich: lässt sich Einstellung als solche verständlich pflegen? Denn auf der Ebene der Tatsachen ist sie ja niemals festzustellen und dem, welcher keinen unmittelbaren Zugang zum Reich des Sinnes hat, nicht mitzuteilen, wie allein schon das fortdauernde Missverstehen Kants beweist. — Vor unserer Zeit war das Ziel der Aufgabe der Schule der Weisheit allerdings unerfüllbar. Bis zu unserer Zeit war der Verstand zu undifferenziert, um eine Fragestellung zu fassen, welche den Sinn aus den jeweiligen Buchstaben herauszulösen gestattete. Und da entsprechende Fragestellung den einzigen Weg darstellt, durch das denkende Bewusstsein hindurch auf die Einstellung einzuwirken, so war das lebendige Ziel, das sie verfolgt, als allgemeines nicht herauszustellen, so viele einzelne Große es schon im Laufe der Jahrtausende erreicht haben — denn sein Sinn ermangelte der Übertragbarkeit.

Allen Zeiten bis zur heutigere war Platos Wahrheit mit deren zeitlicher Fassung1, diejenige Jesu mit einer bestimmten Dogmatik identisch, das als erstrebenswert erkannte Niveau mit der Tatsächlichkeit des großen Menschen, der es einmal verkörperte. Anstatt, um den letzteren historisch besonders wichtigen Fall zwecks größerer Verdeutlichung herauszugreifen, einzusehen, dass die Bedeutung eines großen Menschen für andere in der Vertieftheit seines Wesens als solcher besteht, einer Vertieftheit, welche grundsätzlich jedem erreichbar ist und welche jener nur zuerst als erreichbar erwies, weswegen jeder auf seinem Wege nach ihr streben soll, frönten alle früheren Zeiten dem Wahn, der bestimmte einmalige Mensch sei eben das ewige Vorbild. Hieraus ergab sich, logisch genug, die Forderung, diesem nachzuahmen. Doch man stelle sich an wie man will: man kann keinem andern wirklich nachahmen; jedermann muss doch sein eigenes Leben leben. Deshalb hat buchstäbliche Nachfolge auch der Allergrößten, wo sie tatsächlich stattfand (meist beugte Selbsttäuschung dem Verhängnis vor), Verbildungen und Rückschritte verursacht. Heute nun ist die westliche Menschheit in Gestalt ihrer Vorhut der Unfähigkeit, Sinn und Buchstaben zu trennen, objektiv entwachsen.

Heute sind die Verstehensorgane der zur geistigen Führerschaft berufenen Schicht bis zu dem Punkte ausgebildet, dass der tiefere Sinn, der hier vertreten wird, einleuchten, mehr noch: zum Verstehensmittelpunkte des Bewusstseins werden kann. Unsere Zeit hat grundsätzlich das vierte Sprachenstockwerk erstiegen (S. 31). Demgemäß ist eine neue Grundeinstellung zu allen Problemen des Lebens historisch möglich, was praktisch besagt: es genügt, dass die betreffenden Möglichkeiten und Notwendigkeiten von irgend jemand klar gefasst werden — und bald vertritt alle Welt sie als Selbst­verständlich­keiten; es genügt, dass irgend jemand zur Verwirklichung des Möglichen das Beispiel gibt — und diese beginnt bald allenthalben. Aber das Beispiel muss eben gegeben werden; ohne Kolumbus wäre auch das Kolumbusei unaufgestellt geblieben. Diese eine Erwägung erweist die historische Notwendigkeit der Schule der Weisheit. Die erforderliche neue Grundeinstellung wird dadurch in ihr begründet und gepflegt, dass grundsätzlich die ihr entsprechende Fragestellung und sie allein bei allen Einzelproblemen angewandt wird. In der Schule der Weisheit wird niemals gefragt: was denkt einer, sondern was bedeuten seine Gedanken; nicht was tut einer, sondern was bedeuten seine Taten; nicht was ist jemand, sondern was bedeutet, d. h. wer ist er? Entsprechend anders stellen sich die praktischen Probleme. Es handelt sich um eine grundsätzliche Verschiebung des Niveaus.

1 Vgl. über diesen besonderen Punkt die Vorrede zur ersten Auflage meiner Unsterblichkeit.
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Dritter Zyklus:I. Was wir wollen
© 1998- Schule des Rades
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