Schule des Rades
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis
Vorrede
Grunderkenntnisse
Dieses Werk verkörpert meinen ersten großen Schritt über den Zustand, aus dem das Reisetagebuch entstand hinaus; es ist zugleich die Einführung in die Schule der Weisheit. — Rein theoretisch geurteilt, hätte ich zuerst ein anderes Buch schreiben sollen, das ich auch tatsächlich zuerst in Angriff nahm: eine streng methodisch gehaltene Lehre vom Sinn, zu der die Prolegomena zur Naturphilosophie, die in der ursprünglichen Gestalt nicht wieder erscheinen werden, durch den Anschluss einiger weiterer Kapitel ohne Gewaltsamkeit auszugestalten sind. Aber schon während ich diese Kapitel (im Frühjahr 1920) skizzierte, wurde mir klar, dass ich noch nicht imstande bin, den betreffenden Einsichten die Fassung zu geben, die ich als mein letztes kritisches Wort anzuerkennen vermöchte — methodische Arbeiten aber müssen endgültige Fassungen darstellen, sonst haben sie keinen Wert. So beschloss ich denn, vorerst gar nichts Größeres zu schreiben. Nun begann aber meine mündliche Tätigkeit, im Rahmen der Schule der Weisheit nicht allein, sondern auch im loseren öffentlicher Vorträge außerhalb Darmstadts, auf welche in der Regel persönliche Fühlungnahme mit vielen unter meinen Hörern folgte, und diese Tätigkeit brachte es mit sich, dass ich dauernd eben das zu vertreten in die Lage kam, was ich schriftlich noch nicht von mir geben wollte.
Nicht genug dessen: meine Gesichtspunkte und Grundgedanken fanden von vornherein so lebendigen Widerhall, dass ich ihnen schon heute allenthalben, freilich meist ohne Quellenangabe, wieder begegne. Da wurde mir denn klar, dass ich, trotz meines Entschlusses, schon jetzt schriftlich niederlegen müsste, soviel ich jetzt schon auszusprechen fähig bin. Um der anderen willen, auf dass ein authentischer Ausdruck dessen vorläge, was ohnehin als meine Lehre zirkuliert; um meiner selbst willen, um mir Wiederholungen zu ersparen. Solche bedeuten nämlich bei einem schöpferischen Geiste immer ein Selbstplagiat, welches der Seele dessen, der es verübt, zum Schaden gereicht. Und gleichzeitig wurde mir klar, dass ich ein entsprechendes Buch auch tatsächlich schreiben könnte, denn wenn meine Ideen in ihrer jetzigen Gestaltung im mündlichen Vortrag so wirken, wie dies der Fall ist, dann muss gleiches ihnen bei entsprechender Ausarbeitung auch in der Niederschrift gelingen. Nun stellte sich die Frage: wie sollte ich sie schriftlich fassen? Die verschiedensten Pläne gelangten zur Erwägung. Es siegte zuletzt der Entschluss, zur Grundlage des Buchs die Aufsätze und Vorträge zu nehmen, die ich seit 1919 im Geist meines neuen Wollens entworfen und gehalten habe, und zwar, im Ganzen, in der chronologisch richtigen Reihenfolge; diese entspricht hier nämlich ziemlich genau der organischen Entwickelung meiner Ideen selbst. Worin mich die Erwägung bestärkte, dass die quasi Tagebuchform offenbar die mir gemäßeste ist. Ich bin wesentlich Improvisator, Gelegenheitsdichter; eine gegebene praktische Situation, der ich mich gewachsen zeigen muss, beruft mein Tiefstes zu zielgewisserer Wirksamkeit als der beste abstrakte Plan; andrerseits lenkt dieses Tiefste meine Gedanken von innen her, lange bevor ich sie als solche zu fassen weiß. Dieses habe ich während der letzten Jahre noch deutlicher erfahren, als zur Zeit der Abfassung des Reisetagebuchs.
Die neue geistige Phase, in der ich mich befinde, ward mir zum ersten Male überhaupt bewusst, als mich die Kant-Gesellschaft aufforderte, über abendländisches und morgenländisches Denken zu reden; was die Schule der Weisheit eigentlich will, begriff ich ganz klar erst, als ich einen Vortragszyklus über dieses Thema halten musste, beinahe ein Jahr nach Gründung der Schule selbst. Jeder spätere Ausdruck, der von mir verlangt wurde, hat mich der Erfassung des Sinnes, welchen ich meine, einen Schritt näher gebracht. Nun, unter diesen Umständen konnte die zeitliche Reihenfolge in der Tat die beste Disposition des geplanten Buches abgeben. Dementsprechend habe ich es geschrieben. Selbstverständlich ist jeder einzelne Vortrag und Aufsatz bei dieser Gelegenheit neu verfasst worden (gar nicht geändert habe ich nur die Hinweise politischer Natur, die ich sämtlich so stehen ließ wie ich sie zum ersten Male gab, zum Erweise dessen, dass Sinneserfassung vorauszuwissen ermöglicht, was sich aus bloßer Tatsachenkenntnis nicht erschließen lässt); selbstverständlich habe ich an Wiederholungen soviel als nur irgend möglich ausgemerzt. Nichtsdestoweniger bleibt der Stil des Buchs, wegen seiner allgemeinen Anlage, ein ungewöhnlicher: er findet Vorgänger nur in der Musik, nicht in der philosophischen Literatur. Das Buch beginnt mit dem Vortrag, den ich am 15. Januar 1920 zu Berlin in der Kant-Gesellschaft hielt: hier klingen die meisten Leitmotive des Ganzen an, beinahe jedes spätere Thema wird kurz berührt, keins jedoch ausgeführt. Eine erste großzügige Ausführung bringt dann der zweite Vortrag, den ich im Herbst des gleichen Jahrs zuerst entwarf. Darauf folgt plötzlich eine Änderung der Tonart: der praktische Gesichtspunkt setzt ein, und der bestimmt bis zum Schluss. In den drei grundsätzlichen Betrachtungen, von denen die erste vom Frühling 1920, die zweite vom Herbst des Jahres und die dritte aus der gleichen Zeit des Vorjahres stammt, werden die allgemeinen Umrisse aller späteren Komposition skizziert. Darauf folgt deren Füllung und gleichzeitig fortschreitende Vertiefung. Der erste Zyklus, mit dem ich am 23. November 1920 die Schule der Weisheit eröffnete, gibt wesentlich Fläche und Farbe; im zweiten (gehalten auf der Tagung der Gesellschaft für Freie Philosophie zu Darmstadt vom 23. - 25. Mai 1921) zeichne ich die dritte Dimension ins musikalische Gesamtbild hinein; im dritten (gehalten ebendort vom 25. bis 27. September 1921) fasse ich die Gesamtheit der Themen zu einer letzten, fanfarenartigen Konzentration zusammen. Hieraus ergibt sich als bildhaftes Schema des Buchs ein keilartiges Gebilde, dessen Fläche dem ersten Vortrag, dessen Spitze dem letzten entspricht. Hieraus ergibt sich, sintemalen das Buch musikalisch, d. h. als Zeitfolge komponiert ist, weiter, dass es unbedingt in einem Zug, von Anfang bis zu Ende gelesen werden muss; auch die (übrigens gründlich umgearbeiteten) grundsätzlichen Betrachtungen, welche manche von anderen Zusammenhängen her schon kennen, dürfen dabei nicht überschlagen, sie müssen zum mindesten durchflogen werden, wobei keine Wiederholung anders beurteilt werden darf, wie die rhythmische Wiederkehr des Gleichen in der Musik.
Wer mein Buch nun auf diese Weise liest, der wird eben das erleben, was mir widerfuhr, als ich es in der gegebenen Reihenfolge schrieb: von Satz zu Satz wird ihm klarer werden, was ich meine und will; er wird es desto sicherer erleben, je weniger Intervalle und Fermates er einsetzt, die nicht von mir herstammen, je vollkommener er sich dem vorgegebenen Rhythmus hingibt und den besonderen Stil des Buchs, welcher in fortschreitender Aufstellung, Klärung und gleichzeitig Zuspitzung der Probleme besteht, in seiner Seele selbständig schaffen lässt. Wer mich nun ganz so, wie ich es meine, las, der wird am Schluss vielleicht nicht ganz genau mehr wissen, was ich gesagt habe, dafür wird ihm aber meine besondere Art, geistig zu leben, vielleicht selbstverständlich geworden sein, woraus die Selbstverständlichkeit für ihn der meisten Einsichten folgt, zu welcher die Betrachtungen dieses Buches führen, mochten sie ihm anfangs noch so neu erscheinen. Dies ist nun meine eigentliche Absicht. Ich will hier kein abgeschlossenes theoretisches Lehrgebäude, sondern lebendige Impulse geben. Ich will kein Bild vor meine Leser hinstellen, sondern sie verwandeln. Zu solchen nämlich, welche die Welt selbständig von höherer Warte aus betrachten, und von einem höheren Niveau aus leben als bisher. Dies setzt voraus, dass mein Wort in ihnen zu Fleisch geworden ist. Eben auf die Einleitung dieses Prozesses ist der ganze besondere Rhythmus der Schöpferischen Erkenntnis berechnet. Aber natürlich ist ihr Ziel, wie gesagt, dann allein zu erreichen, wofern sie richtig gelesen wird. Meine öffentlichen Vorträge leite ich gewöhnlich mit der Bitte an meine Zuhörer ein, sich ja nicht diskursiv einzustellen, nur ja nicht während des Lauschens nachzudenken, auf das Inhaltliche und Sachliche als solches am wenigsten zu achten, vielmehr einfach die Kraft, die von mir ausgeht, auf sich wirken zu lassen. Die gleiche Bitte richte ich an meine diesmaligen Leser. Nur mit dem Unterschied, dass ich mein Buch nur das erste Mal auf diese Weise gelesen wünsche. Dieses ist unbedingt nötig, damit es überhaupt verstanden wird. Nachher, wenn das allgemeine Verständnis da ist, sollen die Einzelprobleme desto energischer durchdacht werden. Von meinen künftigen Schülern werde ich solches unmittelbar verlangen, denn da die Grunderkenntnisse dieses Buches die allgemeine Grundlage jeder Einzelunterweisung darstellen, so muss ich genaue Bekanntschaft mit jenen, jetzt wo sie der Öffentlichkeit vorliegen, voraussetzen können — sie jedesmal mündlich neu auszuführen, nähme zu viel Zeit. Deshalb habe ich die Schöpferische Erkenntnis, welche einerseits eine musikalische Komposition ist, die in einem Zug gelesen werden muss, andrerseits so durchgearbeitet, dass gerade der Interessent für Einzelnes in ihr auf seine Kosten kommen wird. Der Text ist mit Hinweisen auf verwandte Betrachtungen durchsetzt, das Register ein ungewöhnlich ausführliches.