Schule des Rades
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis
Dritter Zyklus:III. Das Ziel
Die richtige Einstellung
Sie sehen also: obschon sie kein einziges unmittelbar praktisches Ziel verfolgt, kommt die Schule der Weisheit allen unmittelbar zugute, weil nur der, welcher den Sinn erfasste und diesen zu seinem Bewusstseins- und Schaffenszentrum erhob, dem bloßen Weltalphabet überlegen ist. Mehr über diese Fragen in abstracto zu sagen, hat keinen Zweck, denn nur konkrete Beispiele wirken verständnis- und lebensfördernd, vor allem aber möchte ich den Anschein vermeiden, dass ich mich auf ein bestimmtes Programm festlegte, das ich dann doch sofort zu desavouieren hätte. Die Schule der Weisheit will als solche, dies wiederhole ich immer wieder, nur das Eine: die richtige Einstellung vermitteln. Nur ergibt sich aus dieser eben ganz von selbst die richtige Lösung auch der praktischen Probleme, die sich jeweilig stellen, zu welcher gewiss nicht die Weisheitslehrer berufen sind, wohl aber die ihrer Schüler, deren Begabung und Tätigkeitsfelder entsprechend liegen. (Hier verstehe ich das Wort Schüler
natürlich nicht buchstäblich — ich meine die, welche so oder anders den Darmstädter Impuls in sich verarbeiteten.)
Zum Abschluss der vorhergehenden praktischen Auseinandersetzungen will ich nur noch kurz die neue Einstellung zu Beruf und Arbeit skizzieren, die sich aus unserer allgemeinen als notwendige abgeleitete ergibt. Was ich über beide im ersten und zweiten Heft des Wegs zur Vollendung ausgeführt habe, brauche ich wohl nicht zu wiederholen. Hier möchte ich das Problem vom Grundsatz der Schule der Weisheit her beleuchten, jede Sprache, jede Weltanschauung, jede Anlage zunächst als gleichwertig anzusehen. Der besagte Grundsatz bezieht sich selbstverständlich auch auf die Sonderstellung des Einzelnen im Leben. Doch seine Gültigkeit auf diesem Gebiete leuchtet anscheinend nicht so ohne weiteres ein: unter den Arbeitern, Handlungslehrlingen, Kaufleuten, Industriellen, welche mich hier besuchen, kamen nicht wenige zunächst mit dem geheimen Wunsche, umzusatteln und Philosophen zu werden. Sofern ihr Beruf ihrer Natur einigermaßen entsprach, riet ich ihnen dringend ab: philosophische wie künstlerische Leistung sei nur im Höchstfalle überhaupt wertvoll, im Gegensatz zu jeder praktischen, welche es immer ist; Philosophie als Beruf habe nur für solche entsprechend Begabte Zweck, die an deren wissenschaftlichem und historischen Material zeitlebens Beschäftigung zu finden geeignet sind; nichtwissenschaftliche Philosophie jedoch gedeihe als Nebenbeschäftigung am besten, weil Lebensweisheit nur erwachsen kann, und dies am besten gelingt, je weniger Zeit auf einmal das Bewusstsein auf sie aufwenden kann. Dann aber lehrte ich sie, die Frage des Berufes umzustellen. Nicht darauf kommt es an, welchen man technisch ausübt, sondern was man vermittelst desselben an inneren Werten zur Auswirkung bringt.
Man soll, anstatt Philosoph werden zu wollen, um Höherem leben zu können, unmittelbar sein Menschentum vertiefen, und dessen erhöhte Qualität alsdann mit den Mitteln auswirken, die einem gerade zur Verfügung stehen. Abstrakte Philosophie ist ihrerseits nur ein Ausdruck lebendiger Tiefe; ihre Sprache ist nicht allzu vielen verständlich, vor allem wissen nur sehr wenige das in ihr vielleicht Verstandene in andere, praktischere Sprachen zu übersetzen. Deshalb sind besonders viele noch so tiefe berufsmäßige Philosophen für ein Volk kein Glück. Viel wichtiger ist eine möglichst große Zahl tiefer Menschen in allen Lebensstellungen, weil nur durch solche das, was der Philosoph vielleicht am besten zu sagen weiß, als lebendiger Impuls in alle Schichten eindringt. Inwiefern der Sonderberuf selbst auf diese Weise zum Ausdruck tieferer Gesinnung werden kann, habe ich vorhin am Beispiel des Annoncengeschäftsinhabers, und allgemeiner in meinem Vortrag über Wirtschaft und Weisheit, auseinandergesetzt. Hier ist kein Rezept möglich; wer selbst tiefer geworden ist, wird ganz von selbst seinen Sonderberuf in tieferem Geist, auf höhere Ziele hin, betreiben. Aber auf ein anderes, entscheidend Wichtiges, sei hier noch hingewiesen: wer von Beruf ein Kaufmann, zur Sinneserfassung und -verwirklichung vorgedrungen ist, wird fähig sein, sein besseres Wissen seinen Berufsgenossen in solcher Sprache mitzuteilen, die sie verstehen können.
Praktischen Leuten Metaphysik zu predigen, hat selten Zweck; ihnen theoretische Vorhaltungen darüber zu machen, wie man’s im allgemeinen machen soll, noch weniger. Es fände aber ein Kaufmann die beste Lösung eines bestimmten praktischen Problems, die nur von tieferer Sinneserfassung her möglich war, und diese anderen werden sich bereit finden, ihrerseits tiefer zu werden. Weisheit ist eben keineswegs an die Philosophie als Beruf und Ausdrucksmittel gebunden. Worauf es für den Menschen in diesem Zusammenhange einzig ankommt, ist das, was ich im Reisetagebuch Vollendung nannte, und hier am besten wohl Erfüllung hieße. Gleichwie in jedem Menschen das ewige Leben pulsiert, so lässt sich auch durch jeden Beruf hindurch das Tiefste ausdrücken — nur muss ihn der Mensch mit seiner Tiefe füllen. — Und aus diesen Erwägungen nun ergibt sich eine neue Einstellung zu Beruf und Arbeitsart als Werten. Jede Arbeit ist grundsätzlich gleich wertvoll, jeder Beruf gleich edel. Nur darauf kommt es an, wer sie ausübt. Bis zum Ende der Zeiten, trotz aller nur möglichen Maschinen, wird es immer alle Arten von Arbeit geben; nur deren sogenannte höhere Arten dem Menschen aufzusparen, wird nie gelingen. Die bloße Hoffnung darauf ist missverständlich. Aber wenn alle Arbeit als gleich wertvoll und edel anerkannt wird — und das kann und muss sie werden —, dann wird auch das Bedürfnis schwinden, an diesem Buchstaben des Lebens viel zu ändern. Solche Auffassung von Beruf und Arbeit ist nun die einzig sinngemäße. Stellen Sie sich vor, was geschähe, wenn der Akzent allgemein darauf gelegt würde, wer Beliebiges tut — sofort sähe unsere Erde anders aus. Dann würde der Nachdruck nicht mehr darauf ruhen, dass etwa Schriftstellern edler als Schustern ist, sondern dass jenes ungleich größere Verantwortung impliziert und deshalb sehr viel vornehmere Gesinnung voraussetzt. Ein liederlicher Schuster schädigt hie und da einen einzelnen Fuß — ein leichtfertiger Schriftsteller vergiftet leicht ein ganzes Volk.
So wäre es ganz sinngemäß — nicht etwa sachliche Zensur, jeder Mensch mag denken, was er will, alle Parteien haben als Sprachen ihre Berechtigung —, sondern einen Persönlichkeitszensus für Schriftsteller einzuführen. Heute liegen die Dinge ganz verrückt. Je größer die Macht eines Menschen, desto mehr scheint er geneigt, sie zu missbrauchen. Dem gegenüber denken die meisten Schuster als Gentleman, denn sehr wenige halten sich für berechtigt, schlechte Schuhe zu machen. — So erschiene die ganze Frage umgestellt, wenn als Hauptsache gälte, nicht was einer, sondern wer etwas tut. Und entsprechende Antwort im großen brächte unsere Erde schneller dem Paradieseszustand nahe, als jede nur erdenkliche äußere Reform. Denn Fortschritt gibt es nun einmal nur nach innen zu. Am Alphabet der Welt wird niemals viel zu ändern sein. Alles kommt darauf an, was man vermittelst desselben sagt. Würde nun tiefere Sinneserfassung und entsprechende Gesinnung aller Arbeit und aller Berufe Hintergrund, wirkten in allen zuletzt ausschließlich überlegene Menschen, dann dürften wir von einem so gewaltigen Fortschritt reden, wie es deren noch nie einen gab. Dann drückte sich durchgehend Höchstes und Geistigstes durch das Medium der Menschennatur aus, kein Einsichtiger stellte mehr die Frage, das Äußere der Erde zu dem Ende zu verwandeln, damit das Himmelreich sich schließlich auf ihr verwirklichte, denn die Erde wäre schon so ein Geistesreich.
Hiermit hätte ich Ihnen schon mehr Greifbar-Praktisches über unsere Ziele gesagt, als ich zu sagen die Absicht hatte. Bevor ich mich dem dritten und letzten Grundziel der Schule der Weisheit zuwende, möchte ich noch auf eines hinweisen: mit der Akzentverlegung auf das Schöpferische und die persönliche Überlegenheit stehen wir, gottlob, schon lange nicht mehr allein; wir tun nur vom höchsten Erkenntnisstandpunkt aus, was unbewusst gleichsinnig auf den verschiedensten Ebenen bereits geschieht. Wer immer den Genius im Kinde in erster Linie pflegt, nicht die Vorstufe des erwachsenen Zweckmenschen, der handelt in unserem Geist und Sinn1. Am meisten grundsätzliche Einsicht unter den mir auf diesem Gebiet bekannten (über ihre praktischen Erfolge habe ich kein Urteil) beweist Maria Montessori2. Nach dieser gilt es beim Kinde vor allem die Initiative zu wecken; alles an dessen Betätigungen verfolge in Wahrheit kein äußeres, sondern ein inneres Ziel, das lebendige Wachstum — wer dieses verstehe und in der Erziehung den Nachdruck darauf lege, der wirke wahre Wunder, denn jedes Kind erwiese sich recht eigentlich als schöpferischer Geist; aus jedem könne ein seelisch so uns verbogenes, vornehm gesinntes Wesen gemacht werden, wie solche sonst nur unter den bevorzugtesten Klassen erwachsen; die Erziehung dürfe nicht auf Wissen und Können, nicht auf Inhalte und fertige Schablonen, sie müsse in erster Linie auf Gesinnung und innere Einstellung ausgehen: klingen diese Sätze nicht sämtlich wie Zitate aus meinen Vorträgen und Schülergesprächen? Was die Montessori mit dem physiologisch angehenden Menschen ausführt, eben das erstreben wir mit dem, der die bisher als höchste geltende Erziehung hinter sich hat. Denn uns beginnt die Menschenbildung erst auf der Stufe, welche der überwältigenden Mehrzahl leider noch als durchaus befriedigender Abschluss gilt.
1 | Man studiere in diesem Zusammenhang Gustav Hartlaubs überaus lehrreiches Buch Der Genius im Kinde (Breslau 1922, Ferdinand Hirt), in dem über die betreffende Pflege eingehend berichtet wird. In ihm finden sich auch alle Hinweise auf sonstige hierher gehörige Literatur. |
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2 | Vgl. Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter. Deutsche Ausgabe, Stuttgart 1913, Julius Hofmann Verlag. |