Schule des Rades
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis
Dritter Zyklus:III. Das Ziel
Niveauerhöhung
Das erste Ziel der Schule der Weisheit ist, der Erkenntnis praktisch die Bahn zu brechen, wie unbedingt schöpferisch wir Menschen sind; das zweite, unbedingte Selbstbestimmung und -verantwortung zu lehren. Das dritte und wichtigste aber ist, dem Menschheitsbewusstsein die Erkenntnis einzubilden, dass die letztentscheidende Frage bei allen, welche den Wert betreffen, die des Niveaus ist. Darauf kommt alles an.
Si duo faciunt idem, non est idem.
Es ist unmöglich, Werte ein für alle Male zu bestimmen, unabhängig von der Tiefeneinstellung, die sie jeweilig vertreten; Nietzsche würde sagen: unabhängig vom Rang. Ein niederer entwertet die äußerlich edelste Tat. Umgekehrt verleiht ein höherer jeder Sonderbetätigung einen höheren Wert. Der abstrakte Wert misst sich am Grad der konkreten Überlegenheit, nicht umgekehrt. So ist es, trotz aller Professorenphilosophie. Wäre es anders, so bedeutete Sein nicht mehr als Können, Gesinnung nicht mehr als Tüchtigkeit, Tiefe nicht mehr als Oberflächlichkeit. Dass die Anerkennung dieser Wahrheit gerade heute außerordentlichen Widerständen begegnen muss, ist klar: das Niveau der heutigen Menschen ist dermaßen niedrig, dass Selbsterhaltung sie zwingt, die richtige Fragestellung abzulehnen. Aber ohne dass sie siegte, gibt es für die Welt kein Heil. Ohnedem kann der Qualitäts- den Quantitätsgedanken nicht überwinden. Wenn die Entwicklung nach dem jüngsten Abstieg wieder aufwärts gehen soll, dann muss eine qualitativ bestimmte hierarchische Ordnung, entsprechend dem indischen Dharmabegriffe, wiederentstehen, wie solche ihre letzte europäische Verkörperung in mittelalterlichem Zustand fand (vgl. S. 214) — nur natürlich unserer höheren Einsichtsstufe gemäß. Vormals glaubte man, edles Blut als solches garantiere höhere Qualität. Demgegenüber lehrte Leo Tolstoi, nur der Bauer, lehrt der Bolschewismus, nur der Proletarier sei wahrhaft Mensch. In beiden Fällen handelt es sich um eine Verwechselung des Sinns mit seiner Erscheinung.
Wo edles Blut mit Recht als Erstes und Letztes gelten durfte, dort bedeutete dies, dass man physiologisch noch so weit gebunden war, dass es unmöglich schien, mit geistigen Mitteln Gleiches zu erreichen. Und wenn im Russland Tolstois tatsächlich nur der Bauer als höherer Mensch passieren durfte, so folgt daraus nur eins: wie tief der Russe noch stand; er stand noch so tief in seiner inneren Entwicklung, dass er nur die allerbeschränktesten Ausdrucksmittel vertrug. Wenn einer nichts mehr taugt, sobald er nur etwas Bildung genossen hat, so beweist dies einen erschreckenden Tiefstand. Heute sind die vorgeschrittensten Völker Europas soweit, das Problem jenseits aller empirischen Bindungen zu stellen. Die persönliche Qualität als solche soll fortan entscheiden, jede Rückversicherung in der Vererbung, von äußerlichen Beziehungen zu schweigen, soll entfallen, jedermann, gleichviel, als was er geboren sei, die ihm angemessene Stellung erlangen. Dies will allerdings auch die Demokratie. Aber wozu hat die Forderung der freien Bahn den Tüchtigen bisher geführt? Zur Vorherrschaft des Parteibonzen, des Demagogen und des Schiebers. Dies kann nicht früher aufhören, als bis die Niveaufrage in jedem einzelnen Fall mit äußerster Schärfe gestellt und als ausschlaggebend anerkannt wird, bis dass das öffentliche Urteil von der Erkenntnis ausgeht, dass das Sein über den Wert des Könnens, das wer
über den des was
, der Sinn über den des Tatbestandes entscheidet. Gegenüber dem heutigen Zustand war die auf die Vererbung aufgebaute Hierarchie entschieden der bessere, denn bis zu einem gewissen Grad vererbt sich das Niveau. Da nun eine Restauration des letzteren Zustands undenkbar und auch unwünschbar ist, denn die rein persönliche Qualität perpetuiert Vererbung nicht, so muss eben die Niveaufrage schärfer gestellt werden, als je vorher.
Dies geht, gegenüber früheren Gebundenheitszuständen, so weit, dass jede einfürallemalige Festlegung fortan als Subalternität beurteilt werden muss. Wenn einmal der Mensch erst beim Baron anfing, so wird die unterste Bedingung zur Führerschaft, auf welchem Gebiete immer, fortan in einem erreichten inneren Zustande bestehen, wo der Mensch selbstverständlich zum mindesten über Fachmanntum, Berufsbestimmtheit und Buchstaben, glauben hinaus ist, wo er voll verantwortlich aus seinem schöpferischen Selbst heraus lebt. Soviel galt implizite, von der geistigen Seite der Frage abgesehen, in jeder historischen Aristokratie. Was jetzt werden soll, ist die Begründung eines gleichsinnigen Zustands auf höherer geistiger Basis, befreit von aller Vorurteils, und Kastenwirtschaft, denn auf anderem Wege kann es keinen Aufstieg geben. Deshalb liegt in der obigen extremscharfen Stellung der Niveaufrage die dritte Hauptaufgabe, die das Ziel implizite einschließt, der Schule der Weisheit, und historisch wahrscheinlich ihre wichtigste. Indem sie sich selbst ganz auf Niveau einstellt, dessen Frage bei allen Sonderproblemen entscheiden lässt, vermittelt sie, durch das gegebene Beispiel und ihre Schülerschaft hindurch, die richtige Einstellung der ganzen Welt. Es ist natürlich ganz unmöglich, dass alle ein gleich hohes Niveau erreichten, soviel weiter jeder einzelne gelangen kann als es war, und so sicher das allgemeine, bei richtiger Erziehung nur weniger Generationen, dem höchsten typischen der obersten Kasten aller Völker gleichkommen könnte. Aber es ist auch nicht notwendig; Gleichheit ist nirgends und nie ein Glück, weil Ungleichheit allein die Spannungen erzeugt, welche den Rhythmus des Fortschritts im Gang erhalten, und spezifische Unterlegenheit überdies spezifischer Überlegenheit meistens korrelativ ist. Notwendig ist allein, dass alle Niveau als das Entscheidende anerkennten, denn hieraus allein schon ergäbe sich eine Umorganisation des Menschheitskörpers, die einer ungeheuren Niveauerhöhung der Gesamtheit gleichkäme. Tarde hat gezeigt1, dass nicht allein das kosmische, sondern auch das historische Geschehen zum allergrößten Teil in reiner Wiederholung besteht, welche in letzterem Fall auf Nachahmung beruht.
Unglaublich wenige originale Impulse sind vom Menschengeiste ausgegangen, vielleicht kann man solcher zwanzig, dreißig zählen, seitdem es Menschen gibt. Alle weitere Entwicklung beruhte auf Nachahmung — denn auch solche Weiterbildung, die nur in logischer Fortentwickelung, Differenzierung und Integrierung besteht, darf man füglich Nachahmung heißen, weil solche Geistesarbeit nicht die mindeste Ursprünglichkeit erfordert. Nun kommt offenbar alles darauf an, was nachgeahmt wird. Wird Äußerliches vor allem nachgeahmt, dann entsteht eine mechanische Zivilisation, wie es die jüngste war. Aber wenn Niveau an sich als vor allem nachahmungswert zu gelten begänne, nun, dann würde es sich auch fortpflanzen. Dann bestimmte nicht allein auf die Dauer das jeweilig Höchste, was schon einen ungeheuren Fortschritt bedeuten würde, es fände unwillkürlich und desto unaufhaltsamer eine stetige allgemeine Niveauerhöhung statt. Es bedeutet den historischen Vorsprung der angelsächsischen Völker vor den übrigen, dass ihnen insofern Niveau als vor allem nachahmenswürdig gilt, als jedermann Gentleman und unabhängig sein will, als jeder vor allem persönliche Initiative zu entfalten strebt — so erwächst jeder, ganz unabhängig vom Blut, wie die Einwanderer beweisen, vom Subalternen zum Herrn, so gelangen echte Führer höchster Qualifikation unvermeidlich an die Spitze; wogegen es Deutschlands allergrößter Nachteil ist, dass es die Niveaufrage am wenigsten von allen Völkern stellt, weil so keine allgemeine Höherentwicklung stattfinden kann: jeder will der bleiben, der er war, ganz im Geist des indischen Kastensystems; der höhere Mensch wird nie zum allgemeinen Vorbild. Ganz folgerichtig wird in Deutschland auch bei jeder Berührung des Niveauproblems die groteske Frage gestellt, woran man ein höheres Niveau denn erkennen könne, welches der Maßstab sei, an dem man messen müsse.
Man kann Niveau allerdings nicht beweisen
, etwa durch Rückbeziehung auf eine anerkannte Werteskala, weil jeder Wert erst, auf ein bestimmtes Niveau bezogen, von einer hohlen Abstraktion zur Wirklichkeit wird. Niveau ist eine unmittelbare Gegebenheit, eine Qualität, wie auf anderer Ebene Farbe und Form, welche man sehen lernen muss und die jeder auch ganz selbstverständlich sieht, soweit er sie hat. Menschen hohen Niveaus erkennen einander unmittelbar, während die niedrigen sich ihrerseits untereinander gut verstehen und nur höherem gegenüber im Urteil versagen. Woran es fehlt, ist also lediglich die Ausbildung des Verständnisses dafür, was einem ungleich ist, und dessen richtiger Einschätzung. — Die Schule der Weisheit öffnet allen, die sie besuchen, in erster Linie das Organ für das Niveau. Da nun die Welt so wird, wie man sie sieht, so genügt dieses Öffnen der Augen allein schon, um eine Umorganisation der Menschheit auf Qualität hin einzuleiten. Und da sie das höchste Niveau vor allem pflegt, ein Niveau, das historisch noch nie bewusstermaßen wirksam war, so tut sie damit das, was für den Fortschritt der Menschheit in deren heutigem Zustand vielleicht das Wichtigste ist.
1 | Vgl. seine Lois de l’imitation, Paris, F. Alcan. |
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