Schule des Rades
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis
Sinn und Ausdruck in Kunst und Leben
Passivismus
Wer diesen Entwicklungsprozess indes von überlegener Warte überschaut, dem drängt sich auf, dass er von seinem Ziel noch weit entfernt ist und vorläufig augenscheinlich Irrwege geht. Wohl ist der expressionistische Typus seinem Vorgänger in mehreren Hinsichten überlegen, wie gleiches in anderen vom naturalistischen gegenüber dem idealistischen galt: indem er die Bewegtheit der Ruhe voranstellt, das Sein nach der Wirkung beurteilt, ist sein Bewusstsein dem Sinn des Lebens zweifelsohne näher; ferner liegt seine Bewusstseinsschwelle typischerweise tiefer, ist sein subjektiver wie sein objektiver Gesichtskreis weiter; er fühlt sich unmittelbar als Glied des Alls. Doch wo es offenbar gilt, das freilich veräußerlichte Leben von größerer Tiefe her neu aufzubauen, findet faktisch vor allem Abbau statt; der Aufbauwille setzt erst bei dessen Ergebnis ein. Deshalb herrscht in Kunst und Leben überall, wo nicht Routine noch das Fortleben der alten Ordnung vortäuscht, ein Chaos, das nicht allein an Urzustände gemahnt, sondern tatsächlich ein Zurückfallen ins Urtümliche bedeutet. In der Politik gelten Ideale als zukunftbestimmend, welche dem Gruppenbewusstsein des Urmenschen entsprechen; die Kunst schlägt ins Negerhafte, ins Kryptographische zurück, im Dadaismus klingt das magische Reden der Urzeit wieder an und auf religiösem und philosophischem Gebiet erleben sämtliche Gestaltungen eine Auferstehung, welche die verflossenen Jahrzehnte und Jahrhunderte als Aberglauben für immer erledigt glaubten.
Diese Zeit erinnert, wie keine seither, jener der ersten Jahrhunderte nach Christo. Wie damals der Staatsbankrott auf Teilgebilden des Weströmischen Reichs ähnliche Zustände auslöste, wie wir sie heute in Russland erleben, so wimmelt das jüngste Europa von Religionsstiftern, Magiern, Erlösern, genau wie damals das Mittelmeergebiet. Jeder findet ohne Mühe blindgläubige Anhänger, wofern er nur überzeugt genug tut; die echten Weisen und Heiligen werden trotz allen Protests auf Postamente hinaufgehoben, die kein Sterblicher bei Lebzeiten verträgt. Jede Wunderglaubenepidemie wird bald endemisch; von der Exaktheit des naturwissenschaftlichen Zeitalters ist nur noch soviel übrig, dass jede Glaubensbewegung die Maske der Wissenschaftlichkeit trägt. Die überwiegende Mehrzahl der Spiritisten, Theosophen und Anthroposophen gehört ihrem Typus nach in jene längst verjährt scheinende Zeit zurück. — Nun soll nicht geleugnet werden, dass das Urtümliche tatsächlich ein tieferes Wirklichsbewusstsein exponiert, als alle intellektualistische und naturalistische Konstruktion. Hier handelt es sich um Oberbauten, dort um Untergründe. Der Kunst der Urvölker eignet die ganze Tiefe der Natur. Allein ein Geistesbewusstsein bringt sie nicht zum Ausdruck1, und wenn anders der Mensch mehr sein soll als Pflanze und Tier, dann entscheidet der Grad bewusster Geistigkeit (vgl. S. 18); denn in allen anderen Hinsichten sind jene nicht schlechter ausgestattet und vielfach vollkommener ausgebildet. Deshalb liegt das Zurückgehen auf die Natur keinesfalls auf der Linie des Fortschritts; es mag zeitweilig unvermeidlich, ja günstig sein, wie dies von manchen Kinderkrankheiten gilt, sofern es Verjüngung bedingt, mag es wirklich sogar das Heil bedeuten — als solches führt es nicht weiter.
Als Rousseau zur Kultur, in die hinein er geboren ward, die Beerdigungsglocke zog, da meinten wohl viele, das ersehnte Höhere werde von ihm ausgehen. Dies geschah aber nicht; nachdem die Zeit des Abbaus vorüber war, als es an den Neuaufbau ging, da knüpften die Fortschrittsfreudigsten an den Höhepunkten des Alten an, und Goethe, der Nichtsverneiner, nicht Rousseau, ward zum Sinnbild des ersten großen Schritts über das 18. Jahrhundert hinaus. Der ganze Weg der Geschichte, alles instinktive Werten des strebenden Menschen beweist, dass das Chaos nicht Ziel, sondern bestenfalls ein unvermeidlicher Übergangszustand ist. So trägt denn das dem Chaos Zustrebende am Schaffen dieser Zeit durchaus den Charakter des Vorübergehenden. Man erkennt dies schon an den Typen, die sie vertreten. Nur was den höchsten Möglichkeiten einer Zeit entspricht, gehört erfahrungsgemäß einer Aufwärtsbewegung an. Von den Expressionisten gilt dies, mit seltenen Ausnahmen, nicht. Man höre nur ihre Lehren: der schwache Mensch allein sei auserwählt, Kunst sei Erleiden, ihr Hauptziel Überwindung der Persönlichkeit; sie predigen absoluten Passivismus. Wohl gibt es unter ihnen das aktivistische Gegenstück: den Bolschewisten und den Marinetti’schen Futuristen. Aber dieses Gegenstück ist bezeichnenderweise mechanistisch, mechanistisch bis zur Automatenhaftigkeit; der Bolschewismus mit seiner straffen Zucht bedeutet die Apotheose der Materie und des Toten; er ist insofern tatsächlich das bisher stärkste historische Sinnbild des Antichrist; Marinetti aber lehrt nahezu, dass das Leben weniger sei als Granate, Flugzeug und Blitz. Kein Einsichtiger kann mehr daran zweifeln, dass die neue Bewegung, so wie sie sich heute darstellt, in Sackgassen einmündet. Der Bolschewismus schlägt, bloß um weiterzuleben, in eben das um, was er vernichten wollte, die passivistische Kunst- und Lebensart stirbt, in einer wieder ehern werdenden Zeit, an Bleichsucht und Blutarmut aus; was aber den Expressionismus als bestimmte Kunstgattung betrifft, so hört man deren ursprünglich stärkste Verehrer immer einstimmiger bekennen2, dass es mit ihm zur Neige geht. Also muss es sich auch bei diesem jüngsten besonderen Ausdrucksstreben, aus so richtigem Instinkt es hervorgehe, letzthin um ein ähnliches Missverständnis handeln, wie bei Idealismus und Naturalismus. — Nur Aufklärung dieses Missverständnisses kann den Weg zu wesentlichem Fortschritt weisen. Um auf übersichtlichem Wege zu dessen Problem zu kommen, deshalb allein warf ich die vorhergehende historisch-kritische Skizze hin. Jetzt sind wir gerüstet, sehenden Blicks in die Tiefen metaphysischer Problematik unterzutauchen.
1 | Vgl. hierzu mein Reisetagebuch I, S. 104 ff. |
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2 | Vgl. hierzu besonders W. Worringers Künstlerische Zeitfragen, München 1921. |