Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Sinn und Ausdruck in Kunst und Leben

Expressionismus und Theosophie

Vergleichen wir die Meisterwerke wahrhaft spiritueller Kunst, der mittelalterlich-christlichen, vor allem der chinesischen, der tiefsinnigsten aller Zeiten1, mit der modern-expressionistischen, und andererseits die Höchstausdrücke spirituellen Wissens, die wir kennen, die Aussprüche eines Jesus, Buddha, Lao Tse, mit der Weltanschauung der modernen Theosophie, so entdecken wir eine unverkennbare Proportionalität. Wenn der Expressionist Naturwidriges- oder fremdes malt, so bewegt ihn dazu keine Willkür: er stellt richtig dar, was sein inneres Auge schaut — ein Organ, welches Goethe in hohem Grade besaß, das allen Kindern ursprünglich zu eignen scheint —, dieses aber schaut, wie jedermann im Traum, keine äußeren Begebenheiten, sondern Sinnbilder des eigenen Innenlebens2. Der radikale Expressionist ahmt also grundsätzlich nicht nach: er verleiht in seinem Schaffen den unbewussten Regungen seiner Seele symbolischen Ausdruck. Daher das Gefühl der Befreiung (der Abreaktion), wenn er sich ausgesprochen hat, die Unverständlichkeit seiner Schöpfung für jeden, dem sie nicht Ähnliches bedeutet; daher die prinzipielle Möglichkeit, jedes exzentrische und dennoch echte Expressionistenbild auf psychoanalytischem Wege richtig zu deuten. Nicht anders liegen die Dinge im Fall der verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit, deren Dasein die Theosophen behaupten: auch hier handelt es sich um andere, tiefer gelegene Bewusstseinsschichten, welchen eine andere Art von Phänomenen entspricht, als wir sie normalerweise kennen, und die auch hier als Sinnbilder verstanden werden müssen. Liest man von den Geistern der Form, der Weisheit usw. in den Vorträgen Rudolf Steiners, so gewinnt man zunächst den Eindruck von primitivem Animismus, und zwar formal mit Recht. Tatsächlich ist der Eindruck aber unrichtig, gleichviel ob es die genannten Geister außerhalb des Bewusstseins Rudolf Steiners gibt oder nicht; er ist deshalb unrichtig, weil hier der Sinn nicht willkürlich in die Erscheinungen hineingelegt wird, sondern solche umgekehrt aus sich heraus gebiert. Nun, Expressionismus und Theosophie sind beide höchst interessant; sie weisen den Zugang zu noch kaum erforschten Seelenschichten. Nur handelt es sich bei der Wirklichkeit, von der sie künden, entgegen ihrer Behauptung, um keine geistige Wirklichkeit.

Man mag gewiss die Worte wählen wie man will; aber wenn der Gegensatz von Natur und Geist aufrechterhalten und einen kritischen Sinn haben soll, dann ist alle Gestaltung als solche nicht Geist. Diese gehört, welcher Sonderart sie immer sei, der Welt der Phänomene an, die nach Gesetzen zusammenhängen, sonach einer weit genug verstandenen Natur3, zu deren Bestande die unterbewussten Schichten der Seele genau so zählen, wie die oberbewussten; gleiches gilt, soweit diese wirklich sind, von den verstiegensten Ebenen der Theosophie. Es sind die Bereiche bestimmter Arten von Erscheinungen, denen freilich Geist zugrunde liegen mag, den sie aber als solche nicht darstellen. Das Wort geistig darf füglich auf das allein bezogen werden, was der Region des Sinnes angehört. Man erinnere sich der Ergebnisse der vorhergehenden Betrachtung: alles Geistige gehört dem Reich der Bedeutung an; ein irdischer Ausdruck ist aber unter allen Umständen materiell, weshalb in diesem Zusammenhang kein Unterschied zwischen Buchstaben, Worten, Ideen, Menschen und Göttern besteht — sie alle sind als Ausdruck Erscheinungen der Natur. Deshalb kommt, wer von der Außen-Welt in die des Unterbewussten und des Okkulten hinabsteigt, dem richtig verstandenen Geist dadurch nicht näher — er wechselt bloß von einer Erscheinungsebene auf andere hinüber. Also öffnen expressionistische Kunst und Theosophie wohl den Zugang zu tieferen Schichten der Natur — den Geist, dessen Wesen Bedeutung ist, helfen sie nicht erschließen. — Dass es sich bei dieser Deutung um keinen Willkürakt handelt, zum besten einer vorausgesetzten Definition des Geistes, über deren Gültigkeit sich streiten lässt, beweist die Gegenprobe, die sich an jeder großen, als solcher anerkannten spirituellen Kunst anstellen lässt, sowie an den Lehren sämtlicher ganz großer Heiliger und Weiser: diese künden sämtlich unmittelbar vom Sinn, und zwar von ihm allein.

Aus den besten chinesischen Buddha-Bildern spricht unmittelbar der Sinn der Buddha-Religion, aus den tiefsinnigsten Erzeugnissen der mittelalterlichen bildenden Kunst, denen der frühesten Malerschule von Siena z. B. unmittelbar der Sinn des Christentums; hier wirkt alle Gestaltung nur als Ausdrucksmittel, durch die hindurch man ebenso unwillkürlich den Geist erfasst, wie man beim Lesen eines Satzes die Buchstaben nicht beachtet. Und hier handelt es sich nicht etwa um ein Allegorisches, wie im Fall der idealistischen Kunst, sondern um einen ebenso unmittelbaren Ausdruck des transzendenten Geistes, wie in der Landschaft eines großen Naturalisten um den der Natur. Genau ebenso drücken die tiefsten Aussprüche der großen Heiligen und Weisen unmittelbar Wahrheiten des Sinnes aus, unabhängig von aller Phänomenalität. Jene waren sich dieses Umstandes auch so bewusst, dass sie genau bestimmte Lehren, d. h. raum-zeitlich beschränkte und deshalb sterbliche Verkörperungen dessen, was sie meinten, absichtlich nicht hinterließen, und gegen den Okkultismus, als welcher tiefere Naturschichten für geistig hält und deshalb deren Erkenntnis anstrebt als Weg zum Sinn, ausdrücklich Stellung nahmen. Christus donnerte gegen das ehebrecherische Geschlecht der Wundersüchtigen, Buddha warnte davor, sich mit Göttern und ähnlichen Erscheinungen abzugeben, weil deren Betrachtung zum Heil nicht nützt, nicht weil es sie nicht gibt; kein echter Heiliger stand je innerlich positiv zur Wirkung der ungewöhnlichen Kräfte, welche von ihm ausgingen, soweit diese Wirkung, was nur zu leicht geschieht, die Erkenntnis des Wesentlichen beeinträchtigte.

Und nun gelangen wir zum entscheidend Charakteristischen: die Darstellung tiefsten Sinns hat in keinem der ganz großen Fälle je auch nur ungewöhnlicher oder abliegender Ausdrucksmittel bedurft. Wie Christus und Buddha durch Worte, Wahrheiten und Bilder des Alltags hindurch Impulse aus göttlicher Tiefe dem Leben einverleibt und unerschöpfliche Wirkungen erzielt haben und weiter erzielen, so trägt die große spirituelle Kunst, ich meine die, welche nicht allein aus dem Kosmischen stammt, sondern dessen Erlebnis zuführt, bei aller nur möglichen Vereinfachung und Stilisierung wesentlich normales und verständliches Gepräge. Sie ist objektiv verständlich, genau wie die Lehre eines Jesus, nicht bloß deshalb, weil man sie gewohnt ist. Dies aber rührt eben daher, dass sie unmittelbar Sinn zum Ausdruck bringt, nur diesen meint. Entsprechend ausgedrückter Sinn ist dem, der die angewandte Sprache überhaupt kennt und verständnisfähig ist, wie der vorhergehende Vortrag lehrte, ohne weiteres fassbar. Unverständlich ist immer nur das Phänomen an sich, und zwar aus dem einfachen Grunde, dass Phänomene als solche überhaupt nicht zu verstehen sind: Verstehen geht immer nur auf Geist. Deshalb spricht es gegen die Geistigkeit eines Kunstwerks, wenn es nicht nur einmalig und einzig, sondern auch unverständlich ist, denn es beweist seine wesentliche Gebundenheit an empirischen Zufall; der radikale Expressionist kann der Mehrzahl deshalb nichts sagen, weil der Urgrund seiner Kunst nicht im Geist, sondern in unterbewussten Seelenschichten liegt und es sich bei diesen um einmalig Empirisches handelt. Aus dem gleichem Grunde spricht es gegen eine Kunst, wenn sie nur eine Zeit erfreut (von Modeschwankungen sehe ich hier selbstverständlich ab). Der Sinn ist zeitlos, grundsätzlich immer gleichverständlich; er lebt jenseits von Sonderart und Zahl. Wie der Sinn eines Buchs in beliebig viel verschiedenen Exemplaren der gleiche bleibt, so ist aller echte Sinn von den Beschränkungen des Raumzeitlichen unabhängig. Deshalb wirkt er durch alle Veränderung hindurch. Dies vermag aber der tiefste in unauffälligster Gestalt. Er benötigt keine technischen Ausdrücke; nichts Okkultes, nichts Rätselhaftes haftet seiner Erscheinung an. Je schlichter sein Ausdruck, desto eindringlicher wirkt er. Kein Wunder: desto unmittelbarer und deshalb leichter wird er erfasst.

Doch ist dies nur die eine Seite: die tiefsten Sinneswahrheiten bringen die Grundtöne des Lebens zum Ausdruck. Diese schwingen unbewusst in jedem; sie klingen leichter wie alle anderen an, weil alle anderen sie mitschwingen lassen, weshalb sie öfter und lauter als alle anderen das Gehör treffen; sie klingen ferner desto leichter an, je ärmer die sonstige Tonskala jeweilig ist. Und dann geht Verstehen unter allen Umständen auf Geist allein, so dass ein Sinn desto eher einleuchtet, auf je Geistigeres er sich bezieht. Er braucht freilich nicht verstandesgemäß einzuleuchten, aber er tut es intuitiv. Hier liegt der Schlüssel zum Problem der erfahrungsmäßig leichtesten Übertragbarkeit gerade der höheren Religionen, hier der zu dem der Genialität der Sprache als solcher, die soweit geht, dass man vielfach bloß die Bedeutung von Worten zu meditieren braucht, um tiefste philosophische Einsicht zu gewinnen: die Sprache ist unmittelbarer Sinnesausdruck und als solche entstanden, ohne jedes Hinschielen auf Äußerliches; also muss sie den Sinn reiner zum Ausdruck bringen, als jede spätere Theorie, die unter allen Umständen umschreibt. Jetzt ist wohl vollends klar, dass es sich beim Geistigen um keine besondere Schicht des Phänomenalen handelt. Handelte es sich bei ihm um solche, wie der Okkultismus wähnt, dann müsste das Tiefste am schwersten zu fassen sein. Statt dessen kann man sagen, dass es desto schwerer zu übersehender Ausdrucksmittel bedarf, je mehr der Ort eines gemeinten Sinns der Oberfläche zu liegt, denn die Eigenart der Erscheinung, nicht die Tiefe des Sinns, ist die Ursache aller schwerverständlichen Komplikation.

Dem widerspricht nicht, dass Tiefstes nur Wenige ganz verstehen, weshalb die tiefsten Bücher als schwerste gelten: sie sind schwer, insofern das Verstehen an sich versagt, nicht um des schwierigen Ausdrucks willen; selbstverständlich kann der geistig Unbegabte, dem metaphysische Wahrheit wohl gefühlsmäßig einleuchtet, solche verstandesgemäß ebensowenig fassen wie der Blinde Farben sehen. Noch einmal: Schwerverständlichkeit und Oberflächlichkeit, nicht jene und Tiefe hängen normalerweise zusammen. Millionen leuchtet Christi Weisheit unmittelbar ein, die keinen Essayisten je verstehen könnten. Jene leuchtet eben deshalb am leichtesten ein, weil sie Tiefstes ausspricht, den spirituellen Kern unseres Wesens zum Ausdruck bringt. Nun, was vom Spirituellen gilt, entscheidet letztlich. Dieses bezeichnet den Grundton aller menschlichen Sinnesmelodie. Religion und Philosophie inspirieren letztlich alle Kunst. Jede lebendige Oberfläche setzt das Vorhandensein ihr entsprechender Tiefe voraus, mag diese noch so unbewusst bleiben. Ohne metaphysisches Leben könnte kein Fingernagel wachsen. Keine Mode-Äußerung ist zu verstehen ohne Kenntnis des tiefsten Geists der Zeit. Also muss grundsätzlich von allem Geistigen gelten, was vom Tiefsten gilt.

1 Vgl. hierzu, außer den betreffenden Stellen des Reisetagebuchs (s. dessen Register), die Studie Die Bedeutung der chinesischen Kunst in Philosophie als Kunst (in deren zweite Auflage neuaufgenommen).
2 Vgl. hierzu Gustav Hartlaub, Der Genius im Kinde, Breslau 1922, Ferdinand Hirt. Sehr lesenswert als Ergänzung zu unseren Betrachtungen ist auch des gleichen Verfassers Kunst und Religion, München 1919, Kurt Wolff Verlag.
3 Vgl. hierzu mein Reisetagebuch, S. 383 und 5.
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Sinn und Ausdruck in Kunst und Leben
© 1998- Schule des Rades
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