Schule des Rades
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis
Sinn und Ausdruck in Kunst und Leben
Sinn an sich
Wovon hängt nun der geistige Wert einer Erscheinung ab? — Jetzt können wir zu dieser Frage die angemessene Antwort geben: er hängt von dem Grad ab, in dem der Sinn sich im Ausdruck manifestiert. Ich sprach gerade von den Höhepunkten der Völker: jedes erscheint dann groß und dann allein, wenn sein Körper als Verkörperer eines Geists erscheint, also unmittelbar als Sinnbild wirkt gemäß dem Ergebnis des vorhergehenden Vortrags. Dieses ist seinerseits aber dann allein der Fall, wenn Sinn und Ausdruck sich genau entsprechen, wenn also im Falle eines Volkes ewiger Geist die Eigenart desselben ganz durchdringt. Übernahme und Vertretung fremden, noch so vollkommenen Geistes nützt erfahrungsgemäß nichts1. Hier wären wir denn genau an dem Punkte beim Problem des Sinnes wieder angelangt, an dem wir es das letztemal verließen. Es gilt, so erwies es sich, alle Bilder als Sinnbilder lesen zu lernen. Übersetzen wir diesen Satz nun ins Aktive, so lautet er: es gilt alle bloßen Tatsachen zu Sinnbildern umzuschaffen, sie vom Geist her zu erobern, den an sich erfassten Sinn vermittelst ihrer entsprechend auszudrücken.
Dieses ist deshalb möglich, weil der Sinn das Primäre ist. Dass er dies ist, beweist abschließend die bloße Tatsache der Sprache. Diese ist, wie wir vorhin sahen, unmittelbarer Sinnesausdruck; sie hätte, so wie sie ist, niemals entstehen können, wenn die Verhältnisse anders lägen, wenn etwa Nachahmung bei etwas Bildung eine erhebliche Rolle spielte; sie ist das bisher genialste Produkt des Menschengeists, weil das Geistige sich in ihr mit der zielsicheren Unbefangenheit der aufblühenden Pflanze äußert. Gleiches beweisen alle Tatsachen, die uns im Lauf der vorhergehen, den Beobachtung begegneten: der Weg des Entstehens einer Erfindung, einer Kunstschöpfung, die fortschreitende Durchgeistigung eines Gesichtes. Eben deshalb versteht das Kind den Sinn von Worten in der Regel vor diesen selbst, ist Verstehen bei genügender Intuitionskraft von der genauen Kenntnis der Sprache nahezu unabhängig; Verstehen ist ein a priori deshalb, weil der Sinn dem Ausdruck überall schöpferisch zugrunde liegt. Nur deshalb vermag der Geist die Natur zu verändern; deshalb allein sind Kultur, Kunst, fortschreitendes Leben überhaupt möglich. Alles Leben ist insofern Expressionismus
, ganz unabhängig davon, ob sich der Mensch darüber klar ist oder nicht. Was immer ein Leonardo, ein Dürer persönlich vertreten haben mögen: der Maler kopiert nicht die Natur, sondern vermittelst deren Material drückt er ein Geistiges aus, sei es den Geist seiner selbst, oder den der Dinge.
Was immer über die Erfahrung
als Quelle aller Erkenntnis theoretisiert werden möge: der Philosoph beseelt selbsttätig durch seine Deutung die Welt. Sogar der Forscher schreibt der Natur ihre Gesetze vor
, wie schon Kant feststellte, er entnimmt sie ihr nicht. Der Sinn ist eben wirklich überall das Primäre. Alle naturalistische Kunsttheorie führt sich selbst ad absurdum, weil sie diesen Umstand verkennt, aller erkenntnistheoretische Empirismus; und gleiches gilt von aller einseitigen oder einschichtigen Lebensdeutung, weil das Leben nur in seinem geistigen Zentrum zu fassen ist. Deshalb versagt schon alle mechanistische Theorie, die das bloß-physische Leben betrifft. Kein Chemisches und Physikalisches im Organismus ist ohne Voraussetzung eines Sinneszusammenhangen zu verstehen, der dessen Ablauf von sich aus regelte; die sogenannte Zweckmäßigkeit der Organisation hat keinen anderen Sinn, wie die Artikulation der Sprache, wie Grammatik und Syntax: nicht die Organe sind das Primäre, sondern ihr Zusammenhang ist es als unmittelbarer Sinnesausdruck. Das Leben physikalisch-chemisch begreifen zu wollen, bedeutet gleiches, wie die Bedeutung eines Satzes aus den Buchstaben als solchen herauslesen zu wollen. Dieser Sachverhalt würde seltener missverstanden werden, wenn der Begriff Sinn
nicht gewohnheitsgemäß zu eng gefasst würde. Sinn
ist die letzte geistige Verstehensinstanz; hinter der Bedeutung an sich eines Gedankens ist vernünftigerweise nichts mehr zu suchen, weil nichts mehr zu finden — mag die gegebene Bedeutung im übrigen hunderttausend weitere Bedeutungshintergründe haben. Deswegen steht man dem Verständnis nur im Weg, wenn man nach einer Definition des Sinnes sucht: definieren lässt sich nur Vorläufiges oder Äußerliches; die letzte Instanz ist unmöglich weiter zu bestimmen.
Gewiss mag man weiter spekulieren, aber davon sehe ich in diesem Zusammenhange grundsätzlich ab, und möchte auch allen andern davon abraten, weil nur Gewisses für die Erkenntnis Bedeutung hat. Der Sinn, den ich meine, lässt sich nur soweit näher, als bisher geschah, bestimmen: es handelt sich weder um logischen noch um ethischen oder besondern ästhetischen Sinn, sondern alle diese Sinne
sind nur Teilausdrücke dessen, was man Sinn an sich heißen mag; dieses Wort nicht etwa als metaphysische Substanz gemeint, sondern als Gattungsausdruck. Große Musik ist wunderbar sinnvoll, aber weiter erläutern lässt sich ihr Sinn verstandesmäßig nicht. Programmusik bedeutet ein Missverständnis; wenn Richard Strauss, wie erzählt wird, bei allen Bildern und Eindrücken musikalische Entsprechungen hört, so beruht dies auf einer besonderen, nicht übertragbaren Korrespondenz in seinem Gehirn und Geist, die keinen überpersönlichen Hintergrund hat. Ein rein chromatisches Gebilde kann auf seine Art tief sinnvoll sein — aber in anderer Sprache, als eben der der Farben, ist dieser Sinn nicht zu fassen. So entrinnt schon die Sinngemäßheit der Natur aller Verstandesbestimmung. Sogar wo ein Menschenantlitz sich fortschreitend durchgeistigt, so dass der Stoff immer mehr zum Ausdrucksmittel der Seele wird — sogar hier, wo die eigene Seele am Werk erscheint, vermögen wir dieses Geistige in keine Verstandesformel zu zwängen. Im Logischen drückt sich Sinn
eben auch nur aus, es fällt mit ihm nicht zusammen. Dass wieder und wieder der Fehler begangen wird, den Sinn der Welt mit der Vernunft zu identifizieren, liegt an der Allgemeinheit der logischen Gesetze, die den Weg aller nur möglichen Sinnesverkörperung abgrenzen. Hier ist das pythagoräische Missverständnis typisch: Welt, Sinn und Zahl seien eins. Mag nun die Welt noch so rhythmisch geordnet sein2, ihr Sinn liegt in einer anderen Dimension; das Logische ist überall das Äußerliche, denn es handelt vom Zusammenhang der Ausdrucksmittel; insofern sind auch die Expressionisten äußerlich, welche im Rhythmus die Geistigkeit der Kunst zu fassen glauben. Was drückt sich vermittelst des Rhythmus aus? so sollte die Frage lauten. Dieses Was ist aber in jedem Fall ein anderes. Mehr noch; es ist in jedem Fall, trotz aller Gattungsverwandtschaft, ein Einziges. Jedes Wesen hat letztlich seinen eigenen Sinn. Deshalb ist jeder Anthropomorphismus, jedes von sich auf andere Schließen grundsätzlich verfehlt. Deshalb ist es nicht allein praktisch unfruchtbar, sondern auch methodisch falsch, nach einem letzten Ursinn zu suchen. Solchen mag es freilich geben — niemals wird festzustellen sein, wer von den beiden letztlich recht hat, der Alleinsgläubige oder der Monadalog, weil beide in bestimmten Hinsichten recht haben —, da es sich beim Sinn um ein Qualitatives handelt, so versagt ihm gegenüber jeder Zusammenfassungsversuch, als welcher nur bei quantitativen Zusammenhängen dem Verständnis zuführt.
Nur soviel sei hier noch gesagt. Beim Sinn an sich
handelt es sich um das letzte Geistige, das wir zu denken vermögen, jenes letzte, das mit dem Quell des Lebens selbst zusammenfällt, was immer dieser sei; die Sinne
, die man diesseits seiner feststellen kann, stellen schon Gestaltungen dar, die jener von innen heraus erschuf. Und ferner: was immer der Sinn an sich sei — am Werk betrachtet und beurteilt, stellt er ein ewig Bewegtes, Schaffendes, Wirkendes, eine Dynamis, nichts Statisches dar. Es ist nicht nur wahr, dass der Sinn nur im Ausdruck wirklich wird: er strebt unaufhaltsam nach Ausdruck. Auf der Ebene der Natur tritt dies in der Zweckmäßigkeit aller Gestaltungen zu Tage; von diesen ist jede in ihrer Art so vollkommen, wie nur der größte Künstler sie erschaffen könnte. Auf der des freieren Menschenlebens, ob dieses sich in Kunst oder Gelebtheit darstellt, im unaufhaltsamen Vollendungsstreben, durch alles Misslingen, alle Missverständnisse, Fehlgriffe und Irrtümer hindurch. Der strebende Mensch ruht nicht, bevor er nicht alle Begebenheiten zum Schicksal umgeschmiedet, alles zunächst rein Äußerliche zum Ausdrucksmittel des Innerlichen erobert hat, ob in Form unmittelbaren Lebens, Verstehens oder schöpferischer Tat. Dabei fühlt er unweigerlich, dass er seine Bestimmung desto besser erfüllt, je mehr er also strebt. Auf je tiefere geistige Zusammenhänge er sein Äußerliches zurückbezieht, desto befriedigter ist er, desto größer erscheint sein Werk.
1 | Vgl. die Studie Idealismus und nationale Erziehung in Philosophie als Kunst. |
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2 | Dass sie das ist, weist das dritte Kapitel meines Gefüge der Welt nach. |