Schule des Rades
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis
Sinn und Ausdruck in Kunst und Leben
Technischer Fortschritt
Jetzt liegt uns ob, zu untersuchen, wie sich Sinn und Ausdruck letztlich zueinander verhalten. — Aus den letzterreichten Bestimmungen ergibt sich zunächst mit abschließender Klarheit, weshalb keine Sprache als solche geistige Werte verkörpert. In jeder Sprache lässt sich Tiefstes sagen. Keine bestimmte Kunstart, Weltanschauung, Religion, als Buchstabe verstanden, darf insofern über die anderen hinaus exaltiert werden. Wenn die eine besser als die andere zum Ausdruck bestimmter Geistigkeit geeignet scheint, so liegt dies an der besonderen Geeignetheit bestimmter Mittel, einen bestimmten Sinn zu fassen. So ist Bronze besser als Marmor für bestimmte bildnerische Ziele zu gebrauchen; so ist das Lateinische, das Griechische, das Sanskrit für liturgische Zwecke geeigneter, als irgendeine moderne Sprache. Aber die Überlegenheit gilt immer nur für das Bereich der Verkörperung, nicht das des Sinnes. Schon die vorhergehende Betrachtung lehrte uns, dass Sagen und Meinen niemals zusammenfallen können (S. 5): die heutige hat insofern nur Bekanntes anschaulicher gemacht. Das Problem muss also anders gestellt werden: wovon hängt Sinnesverwirklichung, abgesehen von der Geeignetheit des angewandten Sprachmittels, ab? — Zunächst von seiner Ausgedrücktheit an sich. Hier halten wir bei einer Grundeinsicht: Sinn verwirklicht sich auf Erden überhaupt nur dadurch, dass er sich ausdrückt. Es mag sein, dass sehr viele Ausdrucksunfähige Tiefstes ahnen; es scheint Tatsache, dass Vertiefung der Ausdrucksfähigkeit schadet. Den in sich gekehrten Geist kennzeichnet im allgemeinen geringes Interesse für die äußere Wirklichkeit; ist eine bestimmte Vertiefungsgrenze überschritten, so schlägt das Reden leicht in Stammeln um. Dies ändert aber nichts daran, dass nur das wirklich Gesagte eine Verwirklichung des Geists bedeutet, durch welchen dieser fortwirken kann; dass nur der angemessene Ausdruck dem Sinn
einen normalen lebendigen Körper schafft. Der Sinn postuliert, wo er dasein soll, entsprechenden Ausdruck. Praktisch sind Sinn und Ausdruck nicht zu trennen, obgleich sie grundverschiedenen Daseinsebenen angehören. Also deckt sich das Ergebnis der Sinnes-Philosophie insofern mit dem aller Kunstlehre sowohl als aller Ethik, dass letztlich alles auf den Ausdruck ankommt. Nur gibt jene diesen einen geistigen Hintergrund, dessen sie vorher ermangelten.
Vergleichen wir von hier aus noch einmal schnellen Überblicks die chaotische Ausdrucksweise der radikal-expressionistischen Künstlergeneration mit der strengen Form der ostasiatischen, dabei bedenkend, wie instinktiv jeder Kunstsinnige diese höher wertet, so ist der Weg von der Erfahrung zum vollen Verständnis nicht mehr zu verfehlen. Das Geistige, das alle Kunst wie alles Leben zu verwirklichen strebt, ist an sich reiner Sinn, d. h. der geistige Hintergrund der Wirklichkeit. Aber dieser Sinn kann sich nur in dem Fall manifestieren, wenn der Ausdruck dem Sinne ganz gemäß ist. Jedes Individuum ist einzig: hieraus folgt, dass jeder Sinn, um sich in der Erscheinung auszuprägen, ganz bestimmte Ausdrucksmittel erfordert, nicht zwar allgemein, stil- und sprachenmäßig, sondern besonders bestimmte; daher das Ausschlaggebende des individuellen Stils, die Unmöglichkeit, die großen Gedanken eines Autors auch in der gleichen Sprache mit anderen Worten wiederzugeben als eben den seinen. Wo die ihm genau entsprechenden Ausdrucksmittel fehlen, dort ist der Sinn einfach nicht da. Er ist ebensowenig da für unsere Begriffe, wie eine Seele, welcher der Körper fehlt; eine solche kann ins irdische Geschehen nicht eingreifen, es sei denn durch ein anderes Medium. Ganz eingreifen kann sie aber lediglich dann, wenn sie einen vollkommenen Körper trägt.
Man mag die Frage auch anders stellen. Warum wirkt alles Naturschaffen vollkommen? Weil hier der Sinn durchaus entsprechend ausgedrückt ist. Jede Pflanze, jedes Tier hat genau die Organe, deren es bedarf, und diese arbeiten durchaus harmonisch zusammen. Je mehr Freiheit nun im Spiel, desto seltener findet sich die erforderliche Kongruenz. Die Menschen können nicht häufig sagen, was sie meinen, tun nur ausnahmsweise das, was sie sollten, erreichen selten das in sich, was dem Streben ihres eigenen Wesens entspricht. Dieses liegt gewiss, der geltenden Überzeugung gemäß, daran, dass sie sich ihres letzten Meinens, Strebens und Wesens nicht bewusst wurden. Der springende Punkt für die Praxis ist aber der, dass das Bewusstwerden von der Realisierung im Ausdruck abhängt. Jenes fällt mit diesem recht eigentlich zusammen. Es ist schlechterdings unmöglich, irgend einen Sinn
, in welcher Form immer, zu erleben, ohne dass dieser sich eben damit ausdrückte. Der jeweilige Ausdruck mag des Übertragbarkeitswerts entbehren1 — dies war bei überaus vielen Mystikern der Fall —, demjenigen, der das Erlebnis hatte, bedeutete er trotzdem die erforderliche Sinnesverwirklichung, denn er verstand durch ihn hindurch, was er meinte. Folglich lässt sich praktisch jegliches Verfehlen des Sinns, der instinktiven Künstlerforderung genau gemäß, als mangelhaftes Ausdrucksvermögen deuten: so eng ist das Korrelationsverhältnis zwischen beiden. Folglich kommt jede Verbesserung des Ausdrucks unmittelbar dem Sinn zugute. Im Ausdruck entsteht dieser erst. Indem man überlegt, wie Gemeintes am besten zu sagen sei, wird dieses allererst deutlich.
So erschließt Konzentration, welche scheinbar auf Äußerliches geht, in Wahrheit Innerlichstes. Doch unterliegt diese Formel einer wichtigen Einschränkung. Nur das Ausdrucksstreben vertieft, das aus der Tiefe stammt; Virtuosenehrgeiz hat noch keinen tief gemacht. Auch die höchste Ausdrucksbegabung wird geistig bedeutsam dann allein, wenn ein entsprechend tiefer Geist sich ihrer bedient. Man mag sehr wohl sprachbegabt sein und nichts zu sagen haben. Hieraus erklärt sich nun die von aller Erfahrung erwiesene Diskrepanz zwischen technischem und wesentlichem Fortschritt. Weil die geistige Bedeutsamkeit einer Sprache einzig davon abhängt, wer sie spricht, so gibt es wohl Fortschritt auf dem Gebiet der künstlerischen Technik, aber nie der Kunst als solchen; diese ist seit je über tiefe Täler hinweg, von Höhepunkt zu Höhepunkt fortgeschritten, und so muss es immer bleiben. Aus dem gleichen Grunde gibt es wohl Fortschritt auf dem Gebiete der wissenschaftlichen Erkenntnis, aber nicht der Weisheit. Wissenschaftliche Richtigkeit bedeutet an sich nie mehr wie Korrektheit im Ausdruck, Wissenschaft kann nie mehr geben, als eine Grammatik und Syntax, höchstenfalls eine Ästhetik der Natur; sie gehört unter allen Umständen der Region der Sprache an.
Eine Sprache nun bildet sich, nachdem sie in ihrer Grundgestalt geboren wurde, halb mechanisch, durch Summierung kleinster Verbesserungen auf die Dauer zu großer Vollkommenheit aus; dieser Fortschritt aber, so groß er schließlich sei, betrifft an sich nie das, was in und mit ihr gesagt wird. Man wittere hier keinen Widerspruch gegen das vorhin über die Genialität der Sprache Gesagte: freilich bedeutet jeder Begriff ursprünglich eine geniale Tat, aber deren Bedeutung an sich besagt gar nichts über die, welche der Begriff für den ihn jeweilig verwendenden hat. Die Sprache ist für den Sprechenden, es sei denn, dieser sei originaler Sprach-Schöpfer, nur ein überkommenes Ausdrucksmittel, dessen Eigen-Bedeutung in bezug auf ihn keine Rolle spielt; so braucht der, welcher ein Streichholz richtig entzündet, nicht das mindeste vom Geist des Prometheus in sich zu haben. Immerhin: der technische Fortschritt der Sprache ist auf seiner Ebene ein absoluter zu nennen. Jedes Medium hat seine Gesetze, deren Kenntnis den Beherrschten zum Beherrscher macht; es gibt nicht allein Gesetze der Natur, sondern solche des Denkens, der musikalischen Harmonie und der Farbenzusammenstimmung, des richtigen Wollens und Handelns. Sobald diesen gegenüber gefehlt wird, so entspricht der Sinnesausdruck dem, was man in der Natur ein Krankheitsprodukt, eine Monstrosität heißt. Die Natur eines Menschen mag ihrer Bestimmung unbewusst bleiben: dann lebe sie sich noch so kraftvoll aus — was sie tut, bleibt letztlich sinnlos. Der Mensch mag das, was er meint, nicht ausdrücken können, und er wird, auch wo er Wahrheit meint, Unwahrheit äußern, als Künstler, trotz aller inneren Bilder stümpern. Hier kann objektiv-wissenschaftliche Sachkenntnis, ohne jede persönliche Sinneserfassung, vor viel Fehlern bewahren; dies ist das Verdienst technischen Fortschritts, und solcher ist, wie gesagt, wo er vorliegt, ein absoluter zu nennen. Aber was bedeutet aller technische Fortschritt in bezug auf möglichen wesentlichen? Nicht dass Sachkenntnis persönliches Verstehen je ersetzen könnte, sondern dass neues tiefereindringendes Verstehen und Schaffen möglich werden auf Grund der Tatsache, dass mehr Wahrheiten selbstverständlich geworden sind und das Bewusstsein nicht mehr zu beschäftigen brauchen. So hängt die geistige Freiheit des Menschen physiologisch davon ab, dass die organischen Prozesse automatisch richtig ablaufen. Die Dimension des geistigen Werts bleibt deshalb von den Errungenschaften technischen Fortschritts grundsätzlich unberührt. Jener hängt immer vom Grade ab, in welchem Sinn sich im Ausdruck realisiert. Da nützt dessen technische Vollendung allein zu nichts. Der Sinn ist ein schlechthin Innerliches, nur von innen her zu Ergreifendes. Nur der Ausdruck, welcher Sinn verkörpert, ist lebendig. Deshalb wird es für immer dabei bleiben, dass die Persönlichkeit allein dem sachlich noch so Guten zur geistigen Bedeutsamkeit verhilft.
1 | Vgl. die Studie Die begrenzte Zahl bedeutsamer Kulturformen in Philosophie als Kunst. |
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