Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Sinn und Ausdruck in Kunst und Leben

Meisterschaft

So gelangen wir denn vom Sinn, und in Wahrheit erst von diesem her, zum wahren Begriff der Meisterschaft. Jeder besondere Sinn erfordert entsprechende Ausdrucksmittel, sonst kann er sich nicht äußern. Warum das überhaupt so ist — darüber nachzudenken ist müßig; die Korrelation von Sinn und Ausdruck ist das geistige Urphänomen. Da gelten nun auf geistigem Gebiet genau so feste Gesetze, wie auf dem der Natur. Deren allgemeinste und äußerlichste umreißen Logik und Mathematik, Grammatik und Syntax, Farben- und Tonharmonielehre. Doch die Gesetzmäßigkeit hört in den tieferen Sinnes-Regionen nicht auf, sie ist nur eine andere. Wo immer Sinn sich verwirklicht, dort gibt es Erscheinung, und alle Erscheinung hängt gesetzmäßig zusammen. Wer den Geist der Natur als Maler darstellen will, muss deren eigenen Sinn verstanden haben und korrelativ dazu die Gesetze der körperlichen Wirklichkeit ganz beherrschen, mag er diese, im übrigen, umbilden, soviel er will. Deshalb verbringen die japanischen Kunstjünger, zum Zweck späterer Emanzipation von der Natur, zunächst Jahre mit sklavischem Kopieren: die Naturnormen müssen ihnen selbstverständliche Ausdrucksmittel geworden sein.

Wer als Religiöser malt und des Ausdrucks fähig ist, schafft unwillkürlich besondere Formen, und Formen, die eben dem religiösen Trieb wahrhaftigen Ausdruck verleihen und sich deshalb ähnlich sehen auf der ganzen Welt. Zwar liegen die Verhältnisse auf dem Gebiete geistigen Schaffens nicht ganz übersichtlich, weil der Mensch nicht allein selbständiges Subjekt, sondern gleichzeitig Interferenzprodukt ist. Er vertritt nicht allein sich selbst, sondern seine Rasse, Kultur, die überkommene Denk- und Formensprache, einen bestimmten Glauben, überlieferte Begriffe, die historische Konjunktur. Jahrhunderte haben, so in der Antike und im Mittelalter, immer gleiche, sich nie verändernde vorgegebene Themen bearbeitet, und handelt es sich hier auch vielfach um Ursymbole, die jeden persönlich angehen, so bleibt das Nicht-Individuelle ihres Charakters doch bestehen. Alle Deutschen, alle Franzosen denken und fühlen als solche auf bestimmte Weise, unabhängig von ihrer Eigenart. Der philosophierende Westen bedient sich seit Kant unwillkürlich dessen Begriffssprache, gleichwie er bis zur Aufklärung von Aristoteles innerlich abhängig war. Die gleiche historische Bindung ist im Osten noch ungleich stärker. Aber all dieses Überkommene, was das Individuum jeweilig übernehmen muss, hat seinerseits seine besondere Grammatik; wer diese ganz beherrscht, der mag durch noch so viel Fremdes hindurch doch sich selber ausdrücken. Nur muss er die Grammatik eben beherrschen.

Jetzt sind wir endlich soweit, den vollen Sinn der historischen Eingangsbetrachtung zu erschöpfen und gleichzeitig einzusehen, inwiefern es auf die Sprache im tieferen Verstand beim Ausdruck im höchsten Grade ankommt. Wohl sind alle Stile grundsätzlich gleichwertig; d. h. genügend große Begabung vermag in der Sprache jedes Höchstes auszusprechen. Aber der Ausdruck wird ein mehr oder minder eigentlicher sein, je nachdem, ob der Sinnes-Zusammenhang, den das Ausdrucksmittel als solches darstellt, mit dem auszudrückenden harmoniert. Die schroffe Scheidung zwischen Sinn und Sprache, welche wir während dieser Betrachtung der Klarheit halber durchführten, hält nämlich bis zuletzt nicht Stich. Es stellt nämlich jeder Lebensausdruck schon an sich einen Sinneszusammenhang dar, auch wo er, vom Standpunkt des jeweiligen Lebens, ein Äußerliches und Totes bedeutet. In jedem Worte steckt an sich schon Sinn, in jedem Organ, jedem Werkzeug, jeder Institution. Deshalb gilt es, beim richtigen Sagen eines Gemeinten, nicht eigentlich Geistiges unmittelbar zu materialisieren, sondern zwischen jenem und den Eigen-Sinnen der Ausdrucksmittel eine notwendige organische Beziehung herzustellen. Tiefstes lässt sich in jeder Sprache sagen, weil alle Obertöne auf die Grundtöne zurückweisen, aber in jedem Fall muss es doch anders gesagt werden, um zwischen dem Geist der Sprache und dem persönlichen Sinn die erforderliche harmonische Verknüpfung herzustellen. Aus dem gleichen Gedankengang ergibt sich die letzte Bedeutung des Vorzugs des wissenschaftlichen Ausdrucks vor dem mythologischen, hieraus die Möglichkeit eines geforderten Erkenntnisfortschritts: sachliche Wahrheit drückt Sinn entsprechender aus, als Lüge und Irrtum (vgl. S. 27).

Aus der gleichen Erwägung ergibt sich nun auch, inwiefern expressionistische Kunst naturalistischer und idealistischer grundsätzlich überlegen ist: da die Fragestellung bei der Ausdrucksgestaltung in jenem Fall die sinngemäßeste ist, so ergibt sich hier allein grundsätzliche Übereinstimmung zwischen dem Sinn des gemeinten und dem der Ausdrucksmittel, weshalb die größte Kunst aller Länder und Zeiten auch dem Stil nach expressionistisch ist — wenn auch die größten Talente möglicherweise im Rahmen anderer Stilgattungen anzutreffen waren. Es gilt eben, alle Sonder-Sinne auf einen Nenner zu bringen, denjenigen des letzten Sinns: dies wäre die letzte Fassung des notwendigen Verhältnisses von Sinn und Ausdruck. Nun aber erweist es sich endgültig, inwiefern Kunst und Leben vollkommen gleichen Sinnes sind. Sagt man im Leben: werde, was du bist, so bedeutet dieses offenbar das gleiche, wie wenn man vom Künstler, vom Philosophen fordert: bringe das, was du meinst, vollkommen zum Ausdruck. Was will dies aber anderes besagen, als dass Ästhetik nur auf der Basis vorausgesetzter Ethik vollkommen sinnvoll ist? Sich entsprechend auszudrücken in der Kunst, bedeutet genau das gleiche, wie im Leben richtig handeln. Auch hier treibt jeden Strebenden ein Gefühl des Sollens, denn ein Sinn ist nur da, sofern er verstanden und verwirklicht wird; das Leben bekommt Sinn dann allein, wenn seine empirischen Prozesse dem Menschen nicht letzte Instanzen bedeuten, sondern zu Ausdrucksmitteln eines Höheren werden.

Denken wir jetzt, zum Schluss, an das letzte Ergebnis der vorhergehenden Betrachtung zurück. Unser westlicher Denkkörper, so erwies es sich, ist recht eigentlich der prädestinierte Leib der östlichen Sinneserfassungstiefe. Das seither Erkannte führt zu einer neuen Formulierung der gleichen Wahrheit, die sie auf ein noch tieferes Sinneszentrum zurückbezieht. Ost und West verhalten sich tatsächlich nicht anders zueinander, wie Sinn und Ausdruck. Aber da jener erst in diesem wirklich wird, so kann erst die Vervollkommnung der Ausdrucksmittel, die unsere Wissenschaft und Technik erzielen, dem Sinn, welchen der Osten meint, zur wahren Wirklich- und Wirksamkeit verhelfen. Mehr noch: die Vervollkommnung des Ausdrucks als solche, in richtiger Gesinnung gehandhabt, mag noch Sinnes-Tiefen erschließen, welche jener nie geahnt. Dies setzt nur zweierlei voraus: dass die Menschheit endgültig die äußerliche Sphäre, in der aller wissenschaftliche und technische Fortschritt sich bewegt, als Ausdrucksmittel, nicht als Selbstzweck, zu beurteilen und zu behandeln lernt. Dass sie aber gleichzeitig das Mittel als solches immer besser ausbildet. Sie muss eine neue Ebene der Sinneserfassung ersteigen, eine Ebene, welche zusammenzuschauen gestattet, wessen Zusammenhang von unten her nicht zu übersehen war. Auf den Sinn kommt alles letztlich an. Alles kann sinnvoll sein, nichts braucht es. Der Buchstabe als solcher tut es nicht, sondern allein der Geist. Allein dieser muss — und dieses weiß der ganze Osten nicht, wusste auch unsere Kultur bisher insofern nicht, als sie vielfach als Geist beurteilte, was nur Buchstabe ist — seinen genau entsprechenden Buchstabenausdruck gefunden haben, um hienieden zu wirken.

Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Sinn und Ausdruck in Kunst und Leben
© 1998- Schule des Rades
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