Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Zur Einführung:Die Kultur des sich-leicht-Machens

Kinematograph

Noch halten sich viele für verpflichtet, auf das bewegliche Lichtbild zu schimpfen; besucht wird es indessen von den meisten, und dies zwar gern. Psychologen und Ästhetiker haben die Ursachen seines Siegeszuges untersucht und dabei entdeckt, dass dieser in erster Linie darauf zurückgeht, dass der lebendige Film den Beschauer wirklich und absolut erholt. Beim Lesen des dümmsten Buchs muss man ein klein wenig denken; jedes Schauspiel zwingt den Teilnehmer in sein dreidimensionales Kraftfeld hinein: im Kinematographen wird die Eigenbetätigung fast gänzlich ausgeschaltet; hier erlebt man nicht viel anders, wie im Traum. Nun hat absolute Erholung allerdings ihr Gutes. Der Qualitätswert der englischen Politik beruht mit darauf, dass deren Leiter in einem Kontinentalen unbekannten Grad zeitweilig auszuspannen wissen. Ich bezweifle auch nicht, dass sich im Rahmen der eigensten Kunst-Konvention des Kinematographen, wie in dem jeder anderen, richtig erfassten und eingehaltenen, Bedeutendes schaffen lässt. Allein diese Erwägungen ändern nichts daran, dass jene das Denken in unerhörten Grade überflüssig macht. Chinesische Schrift zu lesen, ohne dabei geistig zu arbeiten, ist ausgeschlossen, weil das Verstehen des Sinns einer Ideogramm-Kombination deren äußere Aufnahme allererst möglich macht; bei allen Büchern muss man etwas von sich hinzutun; jedoch bei keinem Film. Neulich fragte eine Firma bei mir an, ob ich mein Reisetagebuch nicht verfilmen lassen wollte. Ich hätte nicht ungern ja gesagt, aus Neubegier zu sehen, wie solche Absicht auszuführen sei. Deren Bedeutung leuchtete mir augenblicklich ein: es galt, die Aufnahme meines Buches leichter zu machen.

Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Zur Einführung:Die Kultur des sich-leicht-Machens
© 1998- Schule des Rades
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