Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Zur Einführung:Die Kultur des sich-leicht-Machens

Orthographie

Die Demokratie erwägt gern überall die Einführung einer rein-phonetischen Orthographie. Wozu soll man sich’s schwer machen, indem man beim Wort, außer dem Klang, auch noch Sinn und Geschichte in Betracht zieht? Zwar sollte das Beispiel Griechenlands zu denken geben, das, wenn ich recht berichtet bin, zuerst, angesichts der außerordentlichen Spannung, die im Neugriechischen zwischen Schreibweise und Aussprache herrscht, den Plan der Einführung einer neuen Buchstabierung praktisch ins Auge fasste, diesen aber auch als erstes wieder fallen ließ. Es wird nicht beherzigt. Das bolschewistische Russland schreibt schon gemäß den Angaben eines gleichsam temperierten Ohrs, und ähnlich mag’s zeitweilig überall kommen. In der Tat, wozu soll man sich’s schwer machen? — Aus gleichen Ursachen siegt heute das Englische auf dem ganzen Erdenrund. Nicht zwar dasjenige Shakespeares, wohl aber das der Kolonialen, deren Sprachschatz kaum reicher ist, als der der Hawaiianer, und das von jedem einigermaßen normal Begabten in zwei Wochen bequem erlernt werden kann. Die Franzosen glauben noch an die Möglichkeit eines kulturellen Imperialismus ihrerseits: auch hierin verkennen sie ganz die Zeichen der Zeit. Das Französische als solches steht und fällt mit der strengen und abgeklärten Form; es muss regelrecht erlernt, überlegen gemeistert werden. So widerspricht sein Geist dem dieser Liquidationsepoche absolut, woran weder der Kult des Soldatenidioms noch auch das Germanisieren Claudels und anderer Lateinfeinde irgend etwas ändern. Denn diese Zeit will sich’s vor allem leicht machen.

Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Zur Einführung:Die Kultur des sich-leicht-Machens
© 1998- Schule des Rades
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