Schule des Rades
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis
Morgenländisches und abendländisches Denken als Wege zum Sinn
Verständnis
Wer viele Sprachen beherrscht, der weiß desto besser, je vollkommener er sich in jeder von ihnen ausdrücken kann, dass es eigentlich keine übersetzbaren Gedanken gibt. Die Gegen- oder Zustände, welche den Vorstellungen entsprechen, mögen noch so genau übereinstimmen — jedes Volk bezieht doch seine gleichsinnigen Geistesgestaltungen auf ein besonderes Koordinatensystem, weshalb sich schon die Begriffe nahe verwandter und einem gleichen Kulturkreise angehöriger Sprachen nur selten decken. Wessen Ohr sehr fein ist, der entdeckt nun weiter, dass auch zwei Menschen gleichen Bluts und gleicher Sprache, indem sie Gleiches sagen, doch nie vollkommen Identisches meinen; jeder Einzelne ist zutiefst ein Einziges, eine richtige Monade ohne Fenster insofern, als es keine von sich aus bestehende äußere Vermittlung zwischen ihm und anderen gibt, wo es sich um Verstehen handelt. Jeder meint nur das Seine, sein Meinen drückt sich in konventionellen Lauten aus, welche der Andere wieder auf seine Art versteht. Demnach sollte Nichtverstehen oder Missverstehen das soziale Urphänomen sein. In Wahrheit gilt aber das Gegenteil: das Urphänomen ist das Verstehen. Praktisch ist freilich Missverstehen mehr als häufig, in allen schwierigeren Zusammenhängen wohl die Regel; grundsätzlich gilt der vorhergehende Satz trotzdem, denn sonst wäre geistige Gemeinschaft kein a priori. Dies ist sie aber. Ebenso wie der Zusammenhang des physischen Organismus gegenüber seinen Teilen ein a priori darstellt, genau ebenso geht das Bewusstsein eines Zusammenhangs, wo dieser vorhanden, dem seiner besonderen Komponenten vor; was zusammengehört, weiß dieses, und zwar, wie man sagt, instinktiv, auf äußere Anhaltspunkte hin, welche an sich die Gemeinschaft nie und nimmer bewiesen.
Alle Tiere gleicher Art verstehen einander sofort, alle Menschen gleichen Niveaus. Man unterhält sich angenehm mit dem allein, welcher auf bloße Andeutungen hin weiß, wie man es meint. Und so muss es auch sein, wenn Gemeinschaft möglich sein soll, denn wie kein Gegenstand der Außenwelt einen Eindruck erzwingen kann — dieser hängt von den aufnehmenden Sinnesorganen ab —, so gilt Gleiches erst recht von dessen geistiger Verarbeitung; soll Verständnis in bezug auf Einzelnes erfolgen, so muss es grundsätzlich, zwischen den fraglichen Partnern, bereits bestehen, wenn nicht tatsächlich, so doch der lebendigen Möglichkeit nach. Aus diesen Erwägungen ergibt sich die Tatsache einer Kommunion der Geister durch die Äußerungsmittel hindurch, eine Tatsache, deren letzte kritische Deutung ich hier nicht geben kann, die ich indessen, als Grundlegung des Folgenden, auch nicht zu geben brauche, da sie als solche alle bisherige Erkenntniskritik allererst ermöglicht. Für unsere Zwecke genügt schon die älteste, die platonische Bestimmung. Plato lehrte: nicht die Augen sehen, sondern wir sehen vermittels der Augen. Gleiches gilt erst recht von jedem geistigen Verständigungsmittel: nicht diese selbst sagen uns etwas, sondern durch sie wird uns anderes offenbar.
Dieser Sachverhalt allein erklärt die Rätsel, dass besonders intuitiv veranlagte Geister ihrer nahezu entraten können, dass Kinder den Sinn von Worten vor diesen selbst auffassen. Die Begriffe sind recht eigentlich Organe. Wie es ohne Augen für uns kein Licht gäbe, das Auge andererseits lichterschaffen ist und das Licht selbst doch ein völliges anderes, als das Auge, darstellt, nicht anders steht es mit den Begriffen in bezug auf den gemeinten Sinn. Dieses Bild verträgt nun noch weitere Ausführung, und diese führt zum ursprünglichen Gedankengang zurück. Vermittelst der gleichen Netzhaut sehen und erkennen wir bekannte sowohl, als unbekannte Farben und Formen; dies ist gerade deshalb und nur deshalb möglich, weil nicht das Auge als solches sieht, sondern nur die Verbindung zwischen der Außenwelt und deren visuell geistiger Auffassung herstellt. Genau so vermögen wir, von uns aus nur im Besitz bestimmter Gedanken, verstehend neue aufzufassen; genau so, selbst nur der eigenen Sprache mächtig, durch diese hindurch fremde zu verstehen. So präzisiert sich unsere Bestimmung des Verstehens als Urphänomens: dieser sein Charakter wird durch die Tatsache, dass jeder nur das Seine denkt, nicht mehr berührt, wie das gleiche Verhältnis beim Sehen die soziale Kontinuität und Einheitlichkeit des Sichtbaren einschränkt oder aufhebt. Sobald Verständigungsorgane vorliegen, setzt Verstehen ein. Die Frage ist nur, wie tief dieses dringt. Man mag in den Worten eines anderen nur seine eigene Meinung oder die jenes erkennen. Dies hängt nie von den Verständigungsmitteln als solchen ab, sondern davon, wer sie nutzt. Kurz- und Weitsichtigkeit gibt es auch auf dem Gebiete des Verstehens. Unter allen Umständen verstehen wir nie ein Gesagtes an sich, sondern eine Meinung, welche jenes ausdrückt. Diese bedeutet ein grundsätzlich anderes, auch im Fall vollendeter Deckung von Meinung und Äußerung, mehr noch: die Äußerung an sich kann nie die Meinung sein. Wenn dem nun also ist, dann erscheint es nicht wunderbarer, einen Fremden als einen Verwandten zu verstehen, mag jenes auch größere Fähigkeiten voraussetzen; gibt es Verstehen überhaupt, dann muss solches gegenüber Fremdestem gelingen. So liegen die Dinge faktisch. Verständigung ist überall nur denkbar von Geist zu Geist, und insofern grundsätzlich unabhängig von aller Ausdrucksgleichheit. — Aus diesem Grunde ist Verständigung mit noch so fremdartigen Völkern sowie Bestimmung von deren Eigenart durch eigene Begriffskoordinaten, wo entsprechende Fähigkeiten vorliegen, ohne weiteres möglich. Heute nun will ich, auf Grund dieser Verständigungsmöglichkeit mit Fremdestem, den Unterschied zwischen morgenländischem und abendländischem Denken behandeln. Jedoch nicht als Selbstzweck: das volle Verständnis seines Sinns soll uns zum Sprungbrett zu höherer grundsätzlicher Einsicht werden.