Schule des Rades
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis
Zur Einführung:Die Kultur des sich-leicht-Machens
Der großen Zahl
Sollen wir Geistigen von heute daraufhin unsere Hauptaufgabe darin erblicken, mitzuwirken bei der großen Flut? O nein. Wie nach der Sintflut die Schöpfung nur deshalb wieder anheben konnte, weil Noah je ein Pärchen der alten in seiner Arche hinüberrettete, so wird der kulturelle Neubeginn, auf neuem Erdreich freilich, nur von dem ausgehen können, was von der alten Kultur unmittelbar abstammt. Deshalb gilt es für die, welchen die weitere Zukunft am Herzen liegt, mehr denn je dem höchsten Traditionsgemäßen treu zu bleiben. Dies aber bedeutet, dass wir der Kultur des Sich-leicht-Machens, kontrapunktisch gleichsam, eine solche des Sich-desto-schwerer-Machens entgegenstellen müssen. Geist ist nur, sofern er unaufhaltsam neu entsteht; er entsteht nur durch unaufhörliche Besiegung der Natur. Diese gelingt aber nur durch höchste Anspannung aller Kräfte.
Es sind sich noch immer nur wenige dessen bewusst, wie sehr kontrapunktisch der Geschichtsprozess verläuft. Eben weil die Massen zurzeit in unerhörtem Grad gesiegt haben, gehen wir einer ausgesprochen aristokratischen Weltepoche, entgegen. Eben weil die Quantität allein entscheidet, wird das Qualitative bald mehr bedeuten, als je vorher. Eben weil die Masse heute alles scheint, werden alle großen Entscheidungen demnächst in kleinsten Kreisen fallen. Sie, sie allein, wie die Arche während der Sintflut, bedeuten den Hort der Zukunft.
Deshalb müssen wir Geistigen uns zu dem, was heute geschieht, bewusst kontrapunktisch einstellen. Lassen wir die Kultur des Sich-leicht-Machens sich flutartig über der Erde ausbreiten. In ihr ertrinkt eine überlebte Zeit. Versuchen wir auch gar nicht, den Vorgang aufzuhalten. Erkennen wir es an, dass alles weithin Sichtbare, voran der Staat, sich auf lange hinaus in den Dienst der Liquidation wird stellen müssen. Aber seien wir uns gleichzeitig dessen stolz bewusst, dass auf die Stillen, offiziell nicht Bedeutsamen, nicht vielen Sichtbaren heute alles ankommt. Ihnen allein gehört die fernere Zukunft.
Villiers de L’Isle-Adam (oder war es Baudelaire?) widmete einmal ein besonders feines Kabinettstück der großen Zahl
mit der Begründung, Intelligenz und Zahl seien eins. Vielleicht wollte er nur ironisch sein; ich glaube es nicht. In seinem Unterbewusstsein rang wohl der Gedanke nach Ausdruck, dass nur der Qualitätsarbeiter in Wahrheit für die Masse schafft. Nur er hilft ihr hinauf. Dieses aber tut er — und so allein gelingt es ihm, — indem er’s sich selbst aufs äußerste schwer macht.