Schule des Rades
Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis
Worauf es ankommt
Lebensanschauung
Es war eins der wichtigsten geistesgeschichtlichen Ereignisse aller Zeiten, als der Mensch zur Einsicht gelangte, nicht die Wirklichkeit, wie sie ist, bezeichne die letzte Erkenntnisinstanz, sondern die Möglichkeit; mithin etwas, was nicht eigentlich ist
, wie immer man es sonst bestimmen mag. Denn damit waren die Schranken der Natur vom Geist grundsätzlich überstiegen, und dessen Eigengesetze, deren Übertretung undenkbar ist, weil sie ihn selber aufheben würden, blieben als einzige Bestimmungen von Notwendigkeitscharakter bestehen. Freilich steht zunächst dahin, ob die Entdeckung des auf ein irgendwie Seiendes
bezogenen Möglichkeitsbegriffs, welche wir Leibniz danken, das Gebiet des Erkennbaren erweitert oder verengert hat. Die Bestimmungen des Möglichen sind offenbar nicht solche der Zwangsläufigkeit, sondern der Freiheit, denn die Normen des Möglichen gewähren dem Wirklichen zwar keinen unbegrenzten, wohl aber einen unendlichen Spielraum — und es mag sein, dass solche Freiheit nur dem denkenden Geiste eignet. Während Leibniz aus seiner neuen Einsicht heraus diese Welt als bestmögliche begreifen zu können glaubte, indem er die Freiheit Gottes postulierte und dann die Frage stellte, was Freiheit, als solche bestimmt, unter Voraussetzung eines bestimmt gedachten Stoffs, bestenfalls zustandebringen kann, gelangte Kant aus gleicher Urfragestellung dahin, alle erkennbaren Bestimmungen des Seins auf solche des Menschengeists zurückzuführen, woraus letztlich die Unmöglichkeit folgte, auf logischem Wege über das Menschenbedingte hinauszuschließen. Heute nun ist eine vorgeschrittenere Kritik dabei, den Nachweis zu erbringen, dass Leibnizens Grundintuition doch richtig war: zwischen Menschen- und Naturbedingtem ragt keine Scheidewand; das Denknotwendige, sofern es als solches zu Recht besteht, gilt zugleich für alle erfahrbare Welt. Da nun Erfahrbarkeit
und Welt
im Begriff zusammenfallen, so ist es nicht allein erlaubt, über das Mögliche, wo immer die empirischen Voraussetzungen des jeweiligen Entstehenkönnens erfasst wurden, gültig zu entscheiden: dann muss das, was für unseren Geist gilt, grundsätzlich für alles ihm Wesensgleiche gelten. Soweit Wesenheit in Betracht kommt, worüber freilich Erfahrung entscheidet, erklärt kein Bestehendes sich letztlich aus sich selbst; alle Notwendigkeit folgt hier letztlich aus den Möglichkeiten der Freiheit, gleichviel, wie es mit deren Äußerungen jeweilig beschaffen und wie deren Begriff letztlich zu bestimmen sei; unter Freiheit verstehe ich hier einfach die spezifische Äußerungsart des lebendigen Geists, welchem grundsätzlich Spontaneität eignet im Unterschied von der trägen Natur.
Diese Einsicht, die ich an dieser Stelle nicht näher ausgestalten noch begründen will, ist nun für die Lebensanschauung von unermeßlicher Bedeutung. Wenn nämlich die Notwendigkeit aus den Möglichkeiten der Freiheit folgt, überall also, wo Wesen in Frage stehen, nicht die letzte Seinsinstanz bezeichnet, dann bedeutet das Wirkliche grundsätzlich nie ein Fatum, sondern gleichsam eine freiwillige Stillstandsgebärde inmitten des ewig flüssigen Schöpfungsstroms. Für alles Geschehen, was in der vom Menschen ergreifbaren Welt verläuft, verantwortet dieser mit — mag seine jeweilige Mitverantwortung noch so gering sein. Bewusst ist er sich dieses logischen Sachverhalts bis heute kaum geworden, aber unbewusst färbt dessen Bedeutung alle Weltanschauung von den Tagen der Aufklärung an. Diese setzte, der Theodizee des Mittelalters den Rücken kehrend, die Naturgesetzlichkeit als letzte Instanz. Oberflächlich beurteilt, hätte sich der Mensch fortan wie eingekerkert fühlen sollen; jetzt gab es ja kein Reich des Übernatürlichen mehr, in dem die naturbedrängte Seele Zuflucht finden mochte. Tatsächlich datiert seither sein Optimismus; alle Abendländer, mit seltenen, kontrapunktisch wirkenden Ausnahmen, sind seither zukunftsfroh. Dies rührt eben daher, dass alle die Notwendigkeit instinktiv in Funktion der Freiheit deuten. Die Hellenen verstanden es anders; deren Anangke war Willkür oder Zufallsfügung; sie schränkte wesentlich ein. Daher der tiefe Pessimismus aller tiefen Griechen.
Die Bedingtheit des Menschen erhält, in der Tat, durch die neue Erkenntnis einen neuen Sinn. Wenn die Normen des Wirklichen zunächst durch die des Möglichen beherrscht werden, welche ihrerseits den Weg der Freiheit abgrenzen, dann greift einerseits diese viel tiefer in die Natur ein, als man früher glaubte, besteht andererseits zwischen innerlich und äußerlich Bedingtem ein geringerer Charakterunterschied. Die Normen des Möglichen sind die Ausdrucksmittel des freien Willens, die des Wirklichen die Ausdrucksmittel des Möglichen: so ergibt sich ein fester Zusammenhang zwischen Wille und Schicksal, zwischen Natur und Geist. Die Freiheit mag grundsätzlich einsetzen, wo sie will: sobald ein Gemeintes sich aktualisiert, fügt es sich, wo es sich selbst nicht aufheben soll, den Normen des Möglichen ein; und findet innerhalb dieses wiederum eine Entscheidung statt, dann treten die Naturgesetze in Kraft. Das endgültig-Gebundene ist, wo Wesen mit entscheiden, nirgends Anfangs- sondern Endzustand. Denken wir von hier aus nun an Leibniz zurück, so müssen wir zugeben, dass sein Begriff einer bestmöglichen Welt richtig genug gebildet war; nur seine Voraussetzung des biblischen Gottes, der eine bestimmte Schöpfung vorhatte, lässt sich anfechten. Übertragen wir indessen das, was Leibniz von Gott aussagte, mutatis mutandis auf den Menschen, dann erfassen wir dessen Wesen und Können in einer Tiefe, die nicht leicht zu überschreiten sein dürfte. Wir Menschen sind wesentlich frei. Aber da der Weg der Freiheit eigene Gesetze hat, so liegen für jeden, welcher an jeweils bestimmten Punkten ansetzt, nur bestimmte Möglichkeiten vor, von denen die, welche ins Reich der Wirklichkeit übertritt, sofort zur Notwendigkeit von Fatumcharakter auskristallisiert. Nachdem ein Entschluss gefasst, eine Entscheidung gefällt ist, entsteht jedesmal eine buchstäblich bestmögliche
Welt. Jeden Tag mag dies jeder im Kleinen an sich selbst erfahren. Ihrem Urgrunde nach betrachtet, entspringen unsere Entschlüsse aus sich selbst heraus; die Tatsache des Wählenkönnens lässt sich nicht weiter ableiten, und sie allein genügt zur Fundierung des empirischen Freiheitsbegriffs, wie wir ihn hier verwenden. Kaum aber sind jene erfolgt, so setzt eine radartig sich fortwälzende, immer eindeutiger in bestimmter Richtung sich festfahrende Kausalreihe ein, von deren dichtem Zusammenhang die indische Karmalehre ein besseres Bild gibt, als unser fadenscheiniger Satz vom zureichenden Grund. Zwar bieten sich fortlaufend neue Entschlussmöglichkeiten dar, allein der Ablauf des einmal aus dem Reich des Möglichen in das des Wirklichen Hinabgestiegenen ist nie mehr aufzuhalten. Deshalb ist es buchstäblich wahr, dass sich in jedem Augenblick ein Weltenschicksal entscheidet.
Aller Sinn
ist vielfacher Ausdrucksmöglichkeiten fähig; der freie Augenblick, der diese von ihrer Verwirklichung scheidet, entscheidet zugleich für immer. Wohl lässt sich auf die Dauer, um das Sonderbeispiel des Moralischen anzuführen, das Meiste wieder gut machen
insofern, als sich häufende richtige Entschlüsse der Wirklichkeit annähernd den gleichen Charakter zu geben vermögen, den diese, bei sofortiger Einsicht, längst erlangt hätte. Doch was ein Augenblick verfuhr, bringen oft erst Jahrtausende wieder ins Geleis. Was bedeutet dieses nun anderes, als dass der Mensch persönlich sein Schicksal schmiedet? Der Einzelne tritt freilich in eine gegebene Schicksalsreihe ein und verantwortet insofern nur für deren Weiterverlauf. Aber jede gegebene entstand ihrerseits aus den summierten Entschlüssen früherer Menschen, sodass alle Notwendigkeit letztlich auf freie Wahl zurückweist und alles Fatum seinem Ursprung nach persönlich-innerlich bedingt erscheint. Dies gilt völlig unabhängig von der materiellen und quantitativen Überlegenheit von Natur und ererbtem Karma, denn der Geist ist grundsätzlich über diese Herr; ein richtiger Gedanke mag Berge versetzen. Ist er es praktisch nicht, so hat er die ihm innewohnenden Kräfte nicht ausgeübt und, was er hätte leisten können, zu tun unterlassen. Solches Unterlassen aber bedeutet metaphysisch ein genau so freiwilliges wie schöpferisches Tun. Wo der einzelne Mensch keine Verantwortung trägt, tut dies doch allemal die Menschheit; dies gilt von allem Geschehen, das überhaupt zur Geschichte gehört, d. h. nicht rein natürlichen oder kosmischen Ursprungs ist. So führt die Erkenntnis, dass das Wirkliche nicht die letzte Instanz bezeichnet, weit genug verfolgt, zu dessen ungeheurer Bedeutungssteigerung.
Unsere Welt brauchte nicht so zu sein, wie sie ist, keine Anangke zwingt sie von außen. Aber dass sie so ist, folgt letztlich aus freiem Entschluss. Jetzt aber können wir einen höheren Aussichtspunkt ersteigen. Was vom Menschen gilt, besteht, wir sahen es, insofern zurecht für ihn, als er ein Wesen
ist. Gleiches trifft nun für alles Lebende zu. Die Attribute des Geists, soweit dieser der Natur gegenüberzustellen ist, sind sämtlich solche des Lebens überhaupt1. Insofern ist auch Freiheit Grundeigenschaft alles Lebendigen, wie gering diese bei den meisten Organismen vom Menschenstandpunkt betrachtet immer sei; ihrer aller Erscheinung wird von einem innerlichen Prinzip regiert, welches von sich aus, also spontan, wirkt. So müssen auch Protisten als wesentlich frei beurteilt werden, wie wenige Möglichkeiten der Wahl ihnen praktisch offen stehen; auch sie verantworten mit beim Weltgeschehen. Da es somit nachweislich Stufen geringerer Freiheit gibt, als wir sie einnehmen, und die Natur sich, je tiefer wir sie erfassen, desto einheitlicher zusammenhängend darstellt, so mag die Spekulation ohne Widersinn auch solche höherer fordern. So dass eben das, was uns als letzte, uns bedingende Instanz entgegentritt, das materiale Sosein der Welt, das kosmische Schicksal, auf vor Äonen gefasste Entschlüsse höherer Wesen zurückgehen mag. Foraminiferen haben Dolomitberge aufgetürmt, Gedanken den Blitz in Menschendienst gezwungen. Der Schematismus des heutigen Weltverlaufs spricht eher dafür, dass er die Routine eines Endzustandes zum Ausdruck bringt.
1 | Vgl. meine Prolegomena zur Naturphilosophie Vortrag V. |
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