Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Worauf es ankommt

Wahlfreiheit

Greifen wir von hier aus zu unseren ersten Betrachtungen zurück. Jeden Augenblick fortlaufend steht uns frei, eine Wahl zu treffen; haben wir einmal gewählt, so befinden wir uns an die erfolgte Entscheidung fortan gebunden. Da wir Heutigen, in der überwältigenden Mehrheit, persönlich überhaupt nicht gewählt haben, so wirken sich im großen, bis auf Weiteres, unter der Maske beliebiger neuer Programme, nur alte Kräfte aus: in Russland einerseits die, welche den Moskauer Zentralismus erschufen, andererseits die anarchisch-primordialen, die aller Staatsordnung von jeher widerstrebten; in Deutschland zu annähernd gleichen Teilen vor- und nachbismarckische, von deren letzteren jedoch keine, von der ich wüßte, über die Wesensart des sterbenden 19. Jahrhunderts hinausweist; in Frankreich der Hauptsache nach solche, die in dessen dreißiger und vierziger Jahren ihre Prägung erhielten. Es ist, auf indisch gesprochen, durchaus noch altes Karma, das sich in Europas Geschichte amortisiert. Was heute neu aufzubauen wähnt, betreibt in Wahrheit Abbau: die überstürzten Reformen der letzten Jahre werden nicht mehr vermögen, als die Welt von gestern endgültig zu Grabe zu tragen. Wohl nimmt der Verstand mehr Möglichkeiten als je vorweg; es regnet Utopien. Aber zu Wirklichkeiten werden jene nicht früher gerinnen, als bis innerhalb des Webens der Geistesmächte eine Stillstandsgebärde gleichsam eintritt, dank der ein unter anderem Mögliches auf einmal vollkommen wirklich wird. Ist dieses geschehen, dann erst tritt ein wesenhaftes Neues als Macht ins Leben ein.

Diese Verwirklichung kann nun ausschließlich im Körper der Persönlichkeit geschehen. Auf das Sein des Menschen, nicht das, was er vertritt, kommt es letztlich an, denn nur der persönlich lebendige Mensch ist möglicher unmittelbarer Wesensausdruck. Da der Sinn sich von innen nach außen zu, und nur so realisiert, was in jedem Fall persönliche Initiative verlangt, so versteht es sich recht eigentlich von selbst, dass die erforderliche Stillstandsgebärde durch nichts Unpersönliches bewirkt werden kann. Nur was persönlich der Ebene des Wesens angehört, ist der Natur überlegen, kann sie verändern, schließlich Schicksal schaffen. Nichts Äußerliches vermag dies, keine Einzelkraft, keine Vorstellung, kein Programm, denn diese alle gehören, als Gestaltungen, in jene hinein. Wo Wesen jedoch im Körper des Erscheinenden entsprechenden Ausdruck fand, beseelt diesen eine metaphysische Macht. Deren Exponent ist eben die Persönlichkeit. Aus dieser einen Erwägung erklärt sich deren überall letztlich den Ausschlaggebende Bedeutung, die Hoffnungslosigkeit aller Versuche, sie durch Einrichtungen oder Massenwirkungen zu ersetzen; diese eine Erwägung erklärt die Möglichkeit, die Kurven des Völkerwerdens zu aller Zeit, auch zu solcher angeblicher Massenherrschaft, durch wenige Persönlichkeitskoordinaten zu bestimmen.

Nur wird der Tatbestand der Bedeutung der Persönlichkeit gewöhnlich missverstanden: man wähnt, auf den großen Mann als solchen komme es an, dessen Unbedingtheit, Haltung, Wesenhaftigkeit an sich genüge schon, um ihn zum Wegweiser und Erneuerer zu weihen; gerade heute erleben wir am Stefan George-Kreis eine Wiedergeburt des antiken Heroenkults, von dem Ruf nach dem starken Mann im Kraftmeiersinn zu schweigen. Da es der Mensch allein ist, der Erneuerung bringen kann, und nur der große über die inneren Machtmittel verfügt, sich durchzusetzen, so versteht es sich, wie aus dem Vorhergehenden ersichtlich, recht eigentlich von selbst, dass menschliche Größe historisch letztlich entscheidet. Nur ist diese Größe als solche nur Verkörperungsmittel, nicht das Wesen. Auf dem Geist, der sich in jenem äußert, liegt der Bedeutungsakzent. Wo ein Großer einen verderblichen verkörpert, da schafft er Unheil; es geht nicht an, Götter und Teufel, Blinde und Weise auf einen Nenner zu bringen. Eine erkenntnis- und fortschrittfördernde Macht ist der große Mensch ausschließlich dort, wo ihn ein tieferes Wissen und ein reineres Wollen als seine Zeitgenossen beseelt, wo er sonach die erforderlichen neuen Geistesinhalte in Form des Lebens der Wirklichkeit einverleibt. Auf diese kommt alles an. Historisch wie auch metaphysisch beurteilt ist der größte Einzelne nie mehr als Symbol und Exponent; anders ausgedrückt: grundsätzlich bedarf die Menschheit in ihrem Fortschreiten seiner nicht. Wessen sie bedarf, ist einzig die rechtzeitige Verkörperung des erforderlichen Seinstypus; dass solche nur großer Persönlichkeit gelingt, ist, von hier aus besehen, eine Frage der bloßen Technik. Was den Großen zum Erneuerer macht, zum jeweiligen Markstein in der Menschheitsgeschichte, ist, noch einmal, nicht seine Größe als solche, es ist der Umstand, dass seine konkrete Gestalt gegebenenfalls die Verwirklichung der Möglichkeiten darstellt, die innerhalb der seelisch geistigen Welt nach Ausdruck ringen. Diese eine Frage entscheidet. Der Größte mag ein Anachronismus, ein Archaismus, ein Exotismus sein, der Unsterblichste für keine besondere Stunde bedeutsam scheinen. Nur wer von tieferer Erkenntnis aus das Leben neu ergreift, nicht abseits stehend, sondern mitten im historischen Prozess, zeugt weiter Sein und Schicksal.

Hiermit wären wir in der Konkretisierung unseres Problems einen entscheidenden Schritt weiter gelangt. Wenn es die bestmögliche Welt zu schaffen gilt, dann ist von den Zeitverhältnissen und -bedürfnissen niemals abzusehen. Im Reich des Möglichen lebt die Idee in zeitloser Gültigkeit. Sobald jedoch Verwirklichung in Frage steht, so gilt der Satz, dass solche allein einen Fortschritt einleiten kann, an deren Körper alle empirischen Mächte, die gerade wirken, nicht allein überhaupt, sondern dergestalt mitgebaut haben, dass sie als notwendige Ausdrucksmittel des Ideellen wirken. Unter allen Umständen bestimmen sie das jeweilige Leben; der neue geistige Sinn, der sich ihm einbilden soll, kann niemals Macht über dasselbe gewinnen, wo die vorhandenen Ausdrucksmittel ungenutzt bleiben. In diesem Zusammenhang sind die Dadaisten, so seltsam dies klinge, den George-Jüngern gegenüber grundsätzlich im Recht, sie, die nur gerade Wirksames gelten lassen: nur das zeitlos Gültige, das die Sprache des Zeitgeistes spricht und seine Möglichkeiten erfüllt, kann zeitliche Bedeutung erlangen. So erwuchs Luther zunächst und grundsätzlich wohl deshalb zur geschichtlichen Macht, weil ein Mögliches in ihm vollausgeschlagene Wirklichkeit wurde, sonst wäre er ja bedeutungslos geblieben. In concreto aber und in fortschrittlichem Verstand nur deshalb, weil er kein Anachronismus war; in ihm gewann das geistig seelische Leben neue Form gemäß den Gesetzen der Phylogenie. Sein Typus war grundsätzlich fällig; die vorhandenen geistigen und seelischen Mächte gestatteten dem sich der Erscheinung tiefer einprägenden Sinn auf religiösem Gebiet zu seiner Zeit und an seinem Ort keine wesentlich andere Verkörperung. Diese erwies sich eben deshalb als lebens- und fortpflanzungsfähig, während unzeitgemäße, falls sie aufkommen, auf der Ebene der Natur nicht Wurzel fassen können. Der lutherische Mensch wird einmal aussterben, und dies noch nicht so bald. Der George-Mensch hingegen als Typus ungeboren bleiben, weil die konkreten Mächte fehlen, die ihm einen dauerhaften Körper schaffen könnten.

Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Worauf es ankommt
© 1998- Schule des Rades
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